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Es sind „nur“ Kommunalwahlen, doch Präsident Recep Tayyip Erdogan eilt von Kundgebung zu Kundgebung.
© Umit Bektas/Reuters

Erdogan erklärt Wahl zur Volksabstimmung: Kommunalwahlen in der Türkei als Stimmungsbild

Es geht um Lokalparlamente und Bürgermeister - trotzdem reist der Staatspräsident von Wahlkampftermin zu Wahlkampftermin.

Recep Tayyip Erdogan kämpft. Unablässig reist der türkische Staatspräsident derzeit durch das Land. Er hält jeden Tag mehrere Reden, gibt Fernsehinterviews und veranstaltet virtuelle Begegnungsrunden mit jungen Leuten in den sozialen Medien. Der Einsatz des 65-jährigen gilt einer Wahl, die ihn eigentlich nichts angeht. An diesem Sonntag bestimmen 57 Millionen türkische Wähler lediglich ihre Lokalparlamente und Bürgermeister neu, nicht den Staatspräsidenten. Doch Erdogan selbst hat die Kommunalwahl zur Volksabstimmung über sich selbst erklärt. Und das könnte für ihn zum Problem werden. Zwar wird seine Regierungspartei AKP am Sonntag stärkste politische Kraft im Land bleiben – aber Stimmenverluste der AKP in den Kommunen könnten Folgen auf nationaler Ebene haben.

Besonders die schlechte Wirtschaftslage macht den Kandidaten von Erdogans Regierungspartei AKP zu schaffen. Die Türkei steckt in der Rezession, die Arbeitslosigkeit steigt. Nur mit viel Mühe konnte die Regierung in den letzten Tagen vor der Wahl einen erneuten Absturz der Landeswährung Lira verhindern. Erdogan schiebt die Schuld für die Probleme auf angebliche Machenschaften des Auslands: Die Währungsturbulenzen erklärte er am Donnerstag zu „Operationen des Westens, besonders der USA, um die Türkei in die Ecke zu drängen“.

In Ankara und Istanbul liegt die Opposition vorn

Ob das genügt, um das Wahlvolk für die AKP zu begeistern, ist ungewiss. Mehrere Umfragen sagen eine Niederlage der Erdogan-Partei in der Hauptstadt Ankara voraus, die seit 1994 von islamisch-konservativen Bürgermeistern regiert wird. Auch in Erdogans Heimatstadt Istanbul liegt in einigen Befragungen der Kandidat der Opposition vorn. In der Regierung herrsche Panik, sagte der türkische Journalist Aydin Engin unserer Zeitung. Selbst Kommentatoren regierungsnaher Medien räumen ein, dass die Opposition motivierter auftritt als bei anderen Wahlen.

Dabei ist die politische Vormachtstellung der AKP, die im Bündnis mit der rechtsradikalen MHP antritt, am Sonntag nicht gefährdet. Bei der letzten Kommunalwahl vor fünf Jahren siegte die Erdogan-Partei in 53 von 81 Provinz-Hauptstädten des Landes. Es gibt auch heute keine Partei, die der AKP ernsthaft gefährlich werden könnte.

53 Stunden für die AKP, sechs für die Opposition

Außerdem sorgen die mehrheitlich auf Regierungslinie gebrachten Medien dafür, dass Erdogan ständig präsent ist. Laut Oppositionsangaben befasste sich der Staatssender TRT im Februar 53 Stunden lang mit AKP und MHP – aber nur sechs Stunden mit der Oppositionsallianz aus der säkularistischen CHP und der konservativen IYI Parti. Die pro-kurdische HDP kommt in den Regierungsmedien nur als Buhmann vor.

Dennoch ist die Regierung verunsichert – und verstärkt deshalb den Druck auf Andersdenkende weiter. Erdogan warnte die Wähler in Ankara davor, dem in den Umfragen führenden Oppositionskandidaten Mansur Yavas ihre Stimme zu geben: Wenn dieser bei der Wahl siege, würden Yavas selbst und ganz Ankara das teuer bezahlen, sagte Erdogan.

Auch mehr als 300 anderen Oppositionskandidaten will Erdogan die Mandate wieder wegnehmen lassen, wenn sie am Sonntag gewinnen sollten: Diese Bewerber hätten Verbindungen zu Terrororganisationen, behauptet die Regierung. Im Kurdengebiet könnten neue HDP-Bürgermeister sofort wieder abgesetzt und durch Statthalter Ankaras ersetzt werden. In mehr als 90 Kommunen im Kurdengebiet waren die Bürgermeister schon in den vergangenen Jahren aus den Ämtern entfernt worden.

Die Drohungen werden immer unverhohlener

Wenn es nach der Regierung gehe, dürften Kandidaten der Opposition bei der Wahl zwar antreten, aber nicht gewinnen, kommentierte CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu. Auch Kilicdaroglu selbst steht auf Erdogans Abschussliste: Der Präsident drohte ihm und der IYI-Parti-Vorsitzenden Meral Aksener mit Strafverfolgung. Selbst für die Türkei, wo in der Politik traditionell ein rauerer Wind weht als etwa in Westeuropa, ist das unerhört.

Um seine islamisch-konservative Stammwähler am Sonntag an die Urnen zu locken, greift Erdogan zudem tief in die Mottenkiste. So stellt er eine Umwandlung der Hagia Sophia in Istanbul in eine Moschee in Aussicht. Auf mehreren Wahlkampfkundgebungen ließ der Präsident außerdem Teile des Massaker-Videos von Christchurch in Verbindung mit Kilicdaroglu-Zitaten zeigen, um angeblich anti-islamische Tendenzen bei der Opposition anzuprangern.

Es geht auch um den Bestand der AKP-MHP-Allianz

Sollte die AKP am Sonntag als Sieger aus der Wahl hervorgehen, hätte Erdogan voraussichtlich viel Zeit, um bis zur nächsten Wahl im Jahr 2023 einige unpopuläre Entscheidungen zu treffen, etwa in der Wirtschaftspolitik. Ein Richtwert für Erfolg oder Misserfolg ist das Abschneiden der AKP-MHP-Allianz bei den Parlamentswahlen im vorigen Jahr, als die beiden Parteien zusammen 53,7 Prozent der Stimmen holten. Sollte das Bündnis am Sonntag jedoch unter 50 Prozent rutschen und zudem noch eine Großstadt wie Ankara oder Istanbul verlieren, könnte eine völlig neue Dynamik entstehen.

Dann nämlich könnte Erdogans Partner, MHP-Chef Devlet Bahceli, zu dem Schluss kommen, dass er sich von der Regierungspartei lösen muss, um dem Abwärtsstrudel zu entkommen. Die AKP wisse, dass auf den früheren Erdogan-Gegner Bahceli kein Verlass sei, sagte der in den USA lebende Türkei-Experte Selim Sazak unserer Zeitung.

Besonders die Resultate in Ankara und Istanbul seien wichtig, sagt Sazak: „Wenn die Opposition entweder in Ankara oder in Istanbul siegt, bekommt die AKP Probleme. Wenn die Opposition beide Städte gewinnt, öffnen sich die Schleusentore.“

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