Kurden in Türkei hoffen auf Demokratie: Wahlen sollen Erdogans Statthalter verjagen
Fast alle Kurden-Städte stehen unter Verwaltung Ankaras. Die Kurdenpartei HDP wird die Kommunalwahlen am Sonntag gewinnen - aber dann? Ein Besuch in Diyarbakir.
In der Musikschule Ma in Diyarbakir herrscht Hochbetrieb. Einige Schüler üben Geige, andere spielen die Saz, eine langhalsige Laute. Eine Familie trägt Töpfe mit Mittagessen für die Lehrer herein. Ma ist mehr als nur eine Schule für musikbegeisterte Kinder in Diyarbakir, der größten Stadt im türkischen Kurdengebiet. „Ma“ bedeutet „gemeinsam“ auf Kurdisch – die Schule ist so etwas wie eine Kooperative, entstanden aus Protest gegen die Stadtverwaltung.
Wie 92 andere Kommunen im Kurdengebiet steht Diyarbakir seit einigen Jahren unter Zwangsverwaltung der türkischen Zentralregierung. Die gewählten Bürgermeister hier und anderswo wurden wegen des Vorwurfs der Zusammenarbeit mit der Terrororganisation PKK abgesetzt und durch Statthalter aus Ankara ersetzt. Bei den türkischen Kommunalwahlen an diesem Sonntag sollen Diyarbakir und die anderen kurdischen Städte aus der Zwangsverwaltung entlassen werden. Doch es gibt Zweifel daran, dass die Wahl tatsächlich eine Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen einleiten wird. Insgesamt leben rund 15 Millionen Kurden in der Türkei, sie stellen knapp 20 Prozent der Bevölkerung.
Musiklehrer Weysi Aydin war wie alle Lehrer bei Ma früher an der städtischen Musikschule von Diyarbakir angestellt. Doch als die städtische Schule vor mehr als zwei Jahren - wie alle kommunalen Einrichtungen - der Zwangsverwaltung unterstellt wurde, nahm Aydin seinen Hut. „Wir haben uns geweigert, mit der Zwangsverwaltung zusammenzuarbeiten, weil wir es nicht hinnehmen wollten, dass unsere gewählte Stadtverwaltung einfach abgesetzt wird“, sagt Aydin. Deshalb wurde er damals entlassen. Zusammen mit gleichgesinnten Kollegen gründete er die private Schule Ma.
Die Millionenstadt Diyarbakir wurde fast 20 Jahre lang von der Kurdenpartei regiert, die nach mehreren Parteiverboten und Umbenennungen heute HDP heißt. Das vorläufige Ende kam im Herbst 2016: Da setzte die türkische Regierung die Ko-Bürgermeister Gültan Kisanak und Firat Anli per Notstandsdekret ab und entsandte einen Zwangsverwalter in die Stadt. Anlass war der PKK-Aufstand in mehreren kurdischen Städten im Sommer 2015 und die davon ausgelösten Kämpfe zwischen PKK-Milizen und kurdischer Polizei und Armee, die auch in Diyarbakir bis ins Frühjahr 2016 tobten.
Die HDP-Bürgermeister wurden abgesetzt, weil die türkische Regierung sie im Verdacht hatte, gemeinsame Sache mit der PKK zu machen, sagt der Politologe Hüseyin Alptekin von der türkischen Denkfabrik Seta: Die Kommunalpolitiker hätten den PKK-Kämpfern zum Beispiel die Fuhrparks der Kommunen zur Verfügung gestellt. So habe die PKK mit den kommunalen Baggern die Straßen aufgerissen, um Schützengräben auszuheben. „Außerdem instrumentalisierte die PKK die Kommunen zur Rekrutierung ihrer Kämpfer, sie nutzte kommunale Einrichtungen wie Jugendzentren oder Frauenzentren als Propagandazentren.“
HDP-Chef Demirtas sitzt seit Ende 2016 in Haft
Deshalb entschied Ankara, die kurdischen Bürgermeister abzusetzen und ihre Kommunen unter Zwangsverwaltung zu stellen. Vergeblich protestierte der damalige HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas gegen das Gesetz, das im September 2016 erlassen wurde: „Die Zwangsverwaltung unserer Kommunen wird nicht funktionieren, das sage ich euch. Warum nicht? Weil das Volk da nicht mitmachen wird.“
Demirtas wurde wenige Wochen darauf in seiner Wohnung in Diyarbakir festgenommen und sitzt seither hinter Gittern. Kurz vor seiner Verhaftung wurde Diyarbakir am 1. November 2016 unter Zwangsverwaltung gestellt. Als Zwangsverwalter und Oberbürgermeister entsandte Ankara den Karrierebürokraten Cumali Atilla in die Kurdenstadt.
Viele kommunale Angestellte verweigerten der neuen Verwaltung die Mitarbeit – so wie die Musikerin Nergis, die heute ebenfalls bei Ma Musik unterrichtet. „Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir da nicht mitmachen, und deshalb sind wir weggegangen und haben anderswo neu angefangen.“
Andere städtische Angestellte blieben – manche aus wirtschaftlichen Gründen, andere aus Überzeugung. Denn an der kommunalen Verwaltungskompetenz der HDP hatte es durchaus auch Kritik gegeben. Die Zwangsverwaltung habe ihre Vorteile, findet Kenan Okutucu, der Leiter des Straßenbauamtes von Diyarbakir. „Seit der Zwangsverwalter im Amt ist, haben wir eine große Steigerung im Straßenbau zu verzeichnen“, sagt er. Die Straßen seien verbessert und außerdem begrünt und beleuchtet worden. Aus Ankara erhielt Statthalter Atilla das nötige Geld dazu. „Wir haben gute Arbeit leisten können, und die Bürger sind sehr zufrieden“, sagt Okutucu.
Präsident Erdogan hat schon vor Monaten offen gedroht
Straßenbau, Müllabfuhr, Infrastrukturprojekte – das sind die Markenzeichen der Regierungspartei AKP und ihrer politischen Vorgänger, seit der heutige Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan in den 90er Jahren Oberbürgermeister von Istanbul war und die Stadt gründlich aufräumte.
Doch Diyarbakir ist nicht Istanbul, und die kurdische Bevölkerung erwartet von ihrer politischen Vertretung mehr als nur gut beleuchtete Straßen, sagt ein Markthändler. Er gratuliere dem Zwangsverwalter Atilla zu der Straßenbegrünung und der Beleuchtung: „Aber jetzt wollen wir wieder einen Kandidaten aus dem Volk haben, aus der HDP.“
Am Sonntag bewirbt sich Zwangsverwalter Atilla als Kandidat der AKP um das Bürgermeisteramt. Im Wahlkampf wirft er den Kurdenpolitikern vor, Diyarbakir „ideologisch“ regiert zu haben. Dagegen hat die HDP die Wahl zum Tag der Abrechnung mit der Zwangsverwaltung erklärt. „Wir werden dieses Land von der Schande der Zwangsverwaltung befreien“, sagte HDP-Chef Recai Temelli kürzlich.
An einem Wahlsieg der HDP zweifelt niemand: Einer Umfrage zufolge können die HDP-Politiker Selcuk Mizrakli und Hülya Alökmen Uyanik als Doppelspitze ihrer Partei in Diyarbakir mit fast zwei Dritteln der Stimmen rechnen.
Die Frage ist nur, wie lange sie im Amt bleiben können. Staatspräsident Erdogan hatte die Drohung schon vor Monaten offen ausgesprochen: „Wenn bei den Kommunalwahlen im März wieder Terrorhelfer gewählt werden sollten, dann werden wir nicht abwarten und zusehen, was geschieht. Wir werden sofort – sofort! – handeln und wieder Zwangsverwalter einsetzen.“
Politikwissenschaftler Alptekin erwartet ebenfalls, dass die kurdischen Kommunen künftig an die kurze Leine gelegt werden. „Auch wenn die HDP diese Kommunen zurückgewinnt, wird es diesmal mehr Überwachung und Kontrolle geben.“ Die Wahl am Sonntag wird dem Kurdengebiet vielleicht wieder gewählte Kommunalpolitiker bringen – aber wohl keinen Frieden.