Coronavirus bei Tönnies: Kommt aus Gütersloh die zweite Welle?
Der Corona-Ausbruch beim Fleischbetrieb Tönnies hat Folgen über den Landkreis Gütersloh hinaus. Ein Lockdown soll helfen, das Virus unter Kontrolle zu halten.
Für Clemens Tönnies geht es um sein Lebenswerk. Als Sohn eines Metzgers baute er in Rheda-Wiedenbrück mit seinem Bruder das größte Schweinefleischunternehmen des Landes auf – schuf viele Arbeitsplätze und wurde laut Forbes zum Milliardär.
Doch es folgten Fehden um den Konzern, 2019 führten zudem Rassismus-Vorwürfe zur Auszeit von Tönnies als Aufsichtsratschef von Schalke 04.
Nun ist der Corona-Ausbruch mit mehr als 1550 Covid-19-Infizierten verantwortlich dafür, dass erstmals seit den bundesweiten Lockerungen ein ganzer Kreis zurück muss in den Lockdown. Die Politik droht Tönnies mit hohen Regressforderungen für die entstehenden Kosten.
Zudem hat der Fall auch die letzten Zweifler in der CDU überzeugt, dass das Werksvertragssystem in der Fleischindustrie abgeschafft werden soll.
Ab Januar dürfen nur noch Mitarbeiter des eigenen Betriebes Tiere schlachten und das Fleisch verarbeiten. Die Branche arbeitet bisher mit zahlreichen Subunternehmen. Im Fall Tönnies dauerte es daher mehrere Tage, um alle Anschriften der dort als Billiglöhner beschäftigten Arbeitnehmer zu sammeln.
Warum kommt es nun im ganzen Kreis Gütersloh zum Lockdown?
Von den bei Tönnies und den Subunternehmen Beschäftigten sind inzwischen mehr als 6100 Menschen getestet worden, davon laut der nordrhein-westfälischen Landesregierung 1553 positiv. Die meisten Fälle gab es in der Fleischzerlegung. Experten halten die anstrengende körperliche Arbeit, die verstärkte Entstehung von Aerosolen sowie die Kühlung in dem Bereich für Faktoren, die die Ausbreitung begünstigt haben können.
Hinzu kommen oft beengte Verhältnisse in den Unterkünften. Als erstes wurde vergangene Woche für 7000 Beschäftigte eine Quarantäne angeordnet und für rund 50.000 Kinder der Kita- und Schulbetrieb eingestellt.
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Aufgrund der enorm hohen Zahl an Infizierten, die zudem an vielen unterschiedlichen Orten untergebracht sind, hat Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet nun einen Lockdown für den Kreis Gütersloh mit seinen 365.000 Einwohnern verkündet, später wurde auch der benachbarte Kreis Warendorf mit einem Lockdown belegt.
Der von Bundesregierung und den Ländern zur Kontaktnachverfolgung als kritisch eingestufte Grenzwert von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen wurde deutlich überschritten. Aber: Über die Infizierten bei Tönnies hinaus gibt es im ganzen Kreis Gütersloh nur 24 mit dem Coronavirus Infizierte.
Laschet sieht das Ganze daher als Präventivmaßnahme: Er will Zeit zum Testen gewinnen. Alle Bürger dürfen sich kostenlos testen lassen, zudem werden alle Bewohner von Alten- und Pflegeheimen getestet – und alle Beschäftigten der Fleischindustrie in NRW.
„Deshalb wollen wir diesen Ruhezustand herbeiführen“, sagt Laschet. Es gelte, rasch festzustellen, ob über die Mitarbeiter von Tönnies hinaus das Virus in der Bevölkerung bereits verbreitet ist. Der Lockdown gilt vorerst bis 30. Juni. Drei Einsatz-Hundertschaften der Polizei werden laut Laschet nun zusätzlich in die Region geschickt, auch für den angrenzenden Kreises Warendorf gelten Einschränkungen.
Was bedeutet das für die Menschen?
Die Bürger im Kreis Gütersloh müssen wieder mit den Kontaktbeschränkungen leben, die im März bundesweit verfügt worden waren. Nur Angehörige eines Haushalts oder zwei Personen zweier Haushalte dürfen sich draußen zusammen bewegen. Konzerte und andere Aufführungen sind untersagt; Kinos, Museen, Galerien, Schlösser, Burgen und Gedenkstätten werden geschlossen. Sport in geschlossenen Räumen wird untersagt, genauso wie der Betrieb von Fitnessstudios.
Auch Hallenschwimmbäder, Saunen und Wellnesseinrichtungen sind wieder zu, Restaurants müssen den Betrieb drosseln und Bars werden geschlossen. Picknick und Grillen im öffentlichen Raum wird wieder verboten.
Allerdings gibt es kein „Ausreiseverbot“, betont Laschet. Am Freitag beginnen die Sommerferien in NRW; wer einen Urlaub geplant hat, kann den antreten, am besten mit vorherigem Corona-Test.
Jedoch können der Fall Tönnies und die dadurch entstandene Grenzwertüberschreitungen im Kreis Gütersloh unangenehme Überraschungen zur Folge haben. So wurden in Usedom mehrere Gäste aus dem Kreis zurückgeschickt.
Gemäß der gültigen Corona-Landesverordnung dürfen Hotels in Mecklenburg-Vorpommern Gäste nicht unterbringen, die aus Regionen mit mehr als 50 Infizierten je 100.000 Einwohner kommen. Die Betreiber sind aber nach Angaben des Landkreises Vorpommern-Rügen eigentlich verpflichtet, Gäste einen Tag vor der Anreise auf das mögliche „Einreiseverbot“ hinzuweisen.
Auch Bayern erließ ein Beherbungsverbot für Bürger aus Gütersloh. Eine Ausnahme gibt es für Gäste, die einen aktuellen negativen Corona-Test vorweisen können.
Wie ist die aktuelle Situation in Deutschland?
Das Robert-Koch-Institut (RKI) sieht jenseits von Gütersloh positive Entwicklungen: In 137 Landkreisen in Deutschland gäbe es seit sieben Tagen keine neuen Fälle und die Fallzahlen in 212 weiteren Landkreisen liegen unter fünf pro 100.000 Einwohner. Die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit der Erkrankung Covid-19 ist gesunken und liegt pro Tag im unteren zweistelligen Bereich. Engpässe in der Behandlungskapazität liegen nicht vor, es sind ausreichend Betten auf Intensivstationen und Beatmungsgeräte zur Behandlung schwerer Fälle verfügbar. Größere Ausbrüche gab es zuletzt aber in Aufnahme-Einrichtungen für Asylbewerber und Geflüchtete, in fleischverarbeitenden und Logistikbetrieben, unter Erntehelfern sowie in Zusammenhang mit religiösen Veranstaltungen und Familienfeiern.
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Die RKI-Epidemiologin Ute Rexroth betont, dass Armut das Risiko für Covid-19 erhöhe und sozial prekäre Wohnverhältnisse Infektionen begünstigen könnten. Das Virus werde oft innerhalb von Haushalten, Heimen, und Unterkünften übertragen .Die Reproduktionszahl des Coronavirus, der statistische Wert „R“, der angibt wie viele Personen von einer infizierten Person angesteckt werden, liegt zwischen zwei und drei. Ein stabilerer R-Wert, in dem lokale Ausbrüche weniger gewichtet sind, liegt bei 1,83, sagt RKI-Chef Lothar Wieler.
Droht nun eine zweite Welle?
Das Frühwarnsystem vor Ort sind die Gesundheitsämter. „Sie beobachten das Geschehen sehr genau „und erkennen die Fälle früh“, sagt die Epidemiologin Rexroth. Anschließend müssten Personen identifiziert werden, die mit Infizierten Kontakt hatten, um die Infektionsketten möglichst früh zu brechen, indem die Personen isoliert werden. Dafür werden sogenannte mobile Kontaktnachverfolgungsteams eingesetzt.
RKI-Chef Wieler geht nicht davon aus, dass der Anstieg der Reproduktionszahl auf den Beginn einer zweiten Corona-Welle in Deutschland schließen lässt. Er führte die insgesamt niedrigen Fallzahlen und die begrenzte geografische Verbreitung an. Den Beginn einer zweiten Welle müsse man aber nicht nur an aktuellen Ausbrüchen festmachen, sondern auch an der Schwere der Erkrankungen und der Auslastung des Gesundheitswesens zur Versorgung der Patienten.
„Aus diesen drei Parametern ergibt sich ein Schwellenwert für eine zweite Welle“, so Wieler. Aber er mahnt: „Die zweite Welle kann kommen.“ Das Virus sei im Land. „Aber wenn die Menschen weiterhin vorsichtig bleiben und keine Massenveranstaltungen zugelassen werden, können wir sie auch ohne Impfstoff und Medikamente verhindern“, so Wieler.
Im Herbst und Winter würden generell Infektionen der oberen und unteren Atemwege zunehmen. Regeln zum Abstandhalten, zur Hygiene und das Tragen von Atemschutzmasken im Alltag (AHA-Regeln) hätten sich jedoch als erfolgreiches Mittel erwiesen - diese und der lokale Lockdown sollen nun helfen, dass aus dem Fall Gütersloh keine zweite Welle wird.
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