Seenotrettung im Mittelmeer: Kein Schiff wird kommen
Die Retter sagen, dass sie das Recht auf ihrer Seite haben – und die Moral sowieso. Im Mittelmeer stößt ihr Engagement dennoch an Grenzen. Ein Essay.
Es gibt Umstände, die muss ein Schiff mehr fürchten als Stürme, Strömungen und Riffe. Das ist die Kollision mit einer Hafenbehörde. Das erleben in Malta zurzeit zwei Schiffe, die eigentlich auf See sein und Menschenleben retten wollen. Doch seit Juli werden die Lifeline und die Seefuchs in La Valletta festgehalten, weil ihre Papiere nicht korrekt seien. Der deutsche Kapitän Claus-Peter Reisch muss sich in Malta sogar vor Gericht verantworten. Er wird beschuldigt, Anweisungen der italienischen Rettungsstelle missachtet zu haben und ohne Erlaubnis in maltesische Gewässer eingedrungen zu sein.
Die Seenotrettung, wie sie das Bild der vergangenen zwei Jahre auf der zentralen Flüchtlingsroute im Mittelmeer geprägt hat, gibt es nicht mehr. Die Stilllegung der Helferschiffe, die NGOs sprechen von einer „Blockade“, ist zu einem Dauerzustand geworden, seit Italien sich weigert, ihnen seine Häfen zu öffnen. Auch das letzte verbliebene private Rettungsschiff „Aquarius“ muss sich fortgesetzten Schwierigkeiten mit seiner Registrierung stellen. Erst verlor es den Flaggenstatus durch Gibraltar, dann durch Panama, nun sucht es ein Land, unter dessen Flagge es fahren kann.
Das wird von einer hitzigen politisch-moralischen Debatte begleitet, in der Gut und Böse klar verteilt sind. Da sind einerseits die NGOs, die einem humanitären Imperativ folgen: Niemand soll ertrinken müssen. Sie haben die Moral auf ihrer Seite und ja vollkommen recht mit der Feststellung, dass der Schutz des Menschenlebens über allem steht. Ihre Kritiker erheben den Vorwurf des Menschenschmuggels. Nur wenige gehen so weit zu behaupten, NGOs würden mit libyschen Schlepperbanden aktiv zusammenarbeiten. Aber da sie dem möglichen Unglück vorauseilend entgegenfahren, dreht sich der Streit um die Frage, wie weit die Rettung gehen sollte. Heißt retten: nicht ertrinken lassen? Oder auch: an einen sicheren Ort bringen? Und was ist sicher?
„Der NGO-Wahnsinn muss beendet werden“, forderte im März 2017 Österreichs damaliger Außenminister Sebastian Kurz. Der italienische Innenminister Matteo Salvini hat den Rettern die Legitimation rundweg abgesprochen: „Sie haben keine Berechtigung mehr: Niemand darf sich in die Arbeit der libyschen Küstenwache einmischen“, sagte er im Sommer.
Fragwürdige Milizionäre eines Krisenstaates
Zum Schauplatz dieser Auseinandersetzung ist das Seerecht geworden. Obwohl es für die Situation im Mittelmeer völlig ungeeignet ist und eine Lösung nur politisch gefunden werden kann, halten beide Seiten hartnäckig an ihrer Rechtsauffassung fest, sodass die Auseinandersetzung zu einem Streit über Migration als Ganzes geworden ist.
Der Kern des Konflikts reicht ins Jahr 2014 zurück, als die Italiener ihre Rettungsmission Mare Nostrum einstellten und ein humanitäres Vakuum schufen, in das private Organisationen stießen. Deren Gedanke war ursprünglich: Wenn Europa nichts gegen das Sterben unternimmt, müssen wir es tun und Europa durch unser Beispiel zur Rettung der Boatpeople zwingen. Doch Europa ließ sich nicht zwingen, nicht als Ganzes. Die Italiener begannen vielmehr, eine Küstenwache in Libyen aufzubauen und die Aufgabe der Seerettung auf fragwürdige Milizionäre eines Krisenstaats zu übertragen, dessen Machtbefugnisse völlig unklar sind. Dadurch hat ein Land, das selbst nicht als sicherer Ort gilt, die Autorität erhalten, über die Sicherheit von Geretteten zu entscheiden.
Wie verfahren die Situation ist, zeigt der Fall des „Lifeline“-Kapitäns Reisch. Der 57-Jährige war am 21. Juni in eine Situation geraten, sich zwischen zwei Gesetzen entscheiden zu müssen, die Bestandteil des Seerechts sind. Das eine verpflichtet jeden Kapitän, Schiffbrüchigen in Seenot Hilfe zu leisten und sie an einen „sicheren Ort“ zu bringen. Das andere überträgt die Koordinierung solcher Maßnahmen einer Leitstelle, die für sich das „erste Zugriffsrecht“ beanspruchen kann.
Unter normalen Umständen kommen sich diese Regeln nicht in die Quere. Aber was ist schon normal an der Situation im Mittelmeer?
Der Tag begann für Claus-Peter Reisch damit, dass er um kurz nach vier Uhr morgens von seiner Crew geweckt wurde. Auf dem Radar waren drei Punkte gesichtet worden. Die Lifeline war in einem Sektor nördlich von Tripolis unterwegs, in dem häufig überfüllte Schlauchboote gesichtet wurden. Als Reisch die Koordinierungsstelle für Seenoteinsätze in Rom (MRCC) davon unterrichtete, dass er 120 Passagiere in einem instabilen Boot entdeckt habe, bekam er vom MRCC zunächst keine Antwort.
Die „Lifeline“, ein ausgedienter Fischkutter von 32 Meter Länge, ist nicht dazu bestimmt, Menschen in großer Zahl an Bord zu nehmen. Seine Crew aus Freiwilligen sieht ihre Aufgabe vielmehr darin, Erstversorger zu sein, Schwimmwesten zu verteilen, medizinische Soforthilfe zu leisten, Schwangere und Kinder zu bergen und die Zeit bis zum Eintreffen eines größeren Schiffes zu überbrücken. Doch diesmal handelte Reisch selbst. Er wartete die Antwort aus Rom nicht ab, sondern begann mit der Evakuierung, in die hinein dann nach vierzig Minuten die Mitteilung des MRCC platzte, „dass die libysche Küstenwache die Koordinierung übernimmt“.
Der Kapitan musste "dagegenhalten"
Darauf angesprochen sagt „Lifeline“-Initiator Axel Steier, dass solche Direktiven aus Rom nur Empfehlungscharakter besäßen. Man könne sich über sie hinwegsetzen, wenn die Lage es erfordere, was Ermessenssache des Kapitäns sei. Der muss eingreifen, wenn ein anderes Schiff, das die Rettung übernehmen soll, nicht rechtzeitig eintrifft.
Das vom MRCC angekündigte Boot tauchte nicht auf. Statt der versprochenen halben Stunde brauchte es sehr viel länger, während die Lebensretter der „Lifeline“ mit ihren Beibooten ein sich in seine Bestandteile auflösendes, mit panischen Menschen besetztes Gummifloß vor sich hatten und zusehen sollten, wie langsam alle durchdrehten. Reisch entschied, auch das zweite Schlauchboot zu evakuieren. Die Libyer reagierten äußerst verärgert, forderten „Lifeline“ noch aus der Ferne auf, zu verschwinden. Das Funkprotokoll hält den Satz fest: „Go away, go away, helper, I kill you.“
Was folgte, war ein zähes Ringen um die Menschen in Reischs Obhut. 234 hatte er an Bord genommen. Der libysche Kommandant forderte ihre Herausgabe, dabei hatten die Libyer nicht mal ein funktionierendes Beiboot, mit dem sie den Transfer hätten bewerkstelligen können. Reisch sagt, er wusste, dass er „dagegenhalten“ musste.
Schließlich konnte Reisch die Libyer von ihrem Vorhaben abbringen. Doch irrte die „Lifeline“ danach mit Menschen überladen fünf Tage auf dem Mittelmeer herum, bevor Malta sich zur Aufnahme bereit erklärte. Auslaufen darf der Kutter seither nicht mehr und auch keines der übrigen privaten Seenotrettungsschiffe (SAR), die Malta als Stützpunkt benutzt hatten und sich nun in Registrierungsprobleme verwickelt sehen. Damit überschreite der Inselstaat seine Kompetenz, sagen die deutschen NGOs, deren Schiffe als „pleasure yacht“, unkommerzielles Fahrzeug, im niederländischen Schiffsregister eingetragen sind. Derlei ist nötig, weil Schiffe auf internationalen Gewässern fremde Hoheitsansprüche berühren, sodass sie den Status eines exterritorialen Gebiets brauchen, verbunden mit der Flagge. Es geht um die Frage: Dürfen Privatleute auf dem Meer fahren, wohin sie wollen, und sich eine eigene Aufgabe schaffen?
Die Lebensretter sehen ihren Spielraum durch den Grundsatz der Freiheit der Hohen See gesichert, während die Behörden in Malta finden, dass die Bestimmung eines Schiffes durch seine Registrierung gedeckt sein müsse. Eine „Vergnügungsjacht“ sollte sich nicht dauerhaft als Rettungsschiff (SAR) betätigen, das es seiner Klassifizierung nach nicht ist.
Warum Genehmigung? Retten ist ein Muss
Seenotrettung ist üblicherweise eine hoheitliche Aufgabe von Staaten, die diese wie in Nordeuropa auf entsprechend ausgebildete Organisationen übertragen können. Die deutschen Seenotrettungskreuzer haben deshalb weder eine Klassifizierung noch sind sie in einem Schiffsregister eingetragen. Für Fahrzeuge, die nicht das Privileg hoheitlicher Verwendung genießen, gibt es keine Möglichkeit, als SAR-Schiff registriert zu werden. Deshalb blieb den NGOs gar nichts anderes übrig, als auf den niedrigsten Registrierungsstandard der Vergnügungsjacht zurückzugreifen. Daraus aber zu schließen, dass man im Recht sei, weil es keine Alternative gebe, greift zu kurz.
Die NGOs wussten, dass sie sich in einer Grauzone bewegen würden, und zwar nur so lange, wie man sie ließ. Um sich zusätzlich abzusichern, bemühte sich die „Aquarius“ im Gegensatz zu anderen NGO-Schiffen um eine offizielle Genehmigung für Rettungseinsätze. Im Schiffsregister von Gibraltar war sie eingetragen als „Forschungs- und Vermessungsschiff“. Denn dieser Aufgabe war sie nachgegangen, als sie noch am Bau russischer Erdölterminals mitgewirkt hatte. Bevor sie ihre Mission im Mittelmeer aufnahm, wandte sich der Reeder an Gibraltars Schifffahrtsbehörde. Die Beamten waren äußerst nervös. Sie knüpften ihre „Sondergenehmigung“ deshalb an eine Vereinbarung mit der italienischen Küstenwache.
Diese Übereinkunft galt bis Juni 2018. Dann war die „Aquarius“ plötzlich gezwungen, wochenlang durchs Mittelmeer zu kreuzen, um Aufnahme für Hunderte von Flüchtlingen zu finden, die in Italien nicht an Land gehen durften. Bis nach Spanien wich das Schiff aus. Die Schifffahrtsbehörde in Gibraltar wurde sofort aktiv. Man sei „nicht überzeugt“, heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme, „dass die ,Aquarius‘ entsprechend ausgerüstet sei, um Gerettete sicher zu Häfen außerhalb Italiens zu transportieren und für eine unbestimmte Dauer an Bord zu versorgen“. Obwohl die Irrfahrt genau das Gegenteil bewiesen hatte, wurde dem Schiff die Flagge entzogen.
„Lifeline“-Aktivist Axel Steier zieht daraus seine eigenen Schlüsse. „Nur weil jemand eine Genehmigung eingeholt hat, heißt das nicht, dass es einer Genehmigung bedarf“, sagt er. „Um Menschen zu retten, braucht man keine Erlaubnis.“ Deshalb, meint Steier rigoros, sei es auch egal, mit welcher Typenbezeichnung ein Schiff dieser Aufgabe nachgehe.
NGO-Aktivisten wie Steier legen die Beistandsverpflichtung des Seerechts sehr weit aus. Für Situationen wie vor Libyen war sie nie gedacht. Sie ist nämlich weniger eine „Aufgabe“ als eine Ausnahme. Die Hilfe für Schiffbrüchige soll für die Retter selbst ein Sonderfall sein. So besteht die Aufgabe einer Seenotleitstelle vor allem darin, aus allen Schiffen, die retten müssten, jene auszuwählen, die „aus ihrer Pflicht entlassen“ werden und ihren Weg fortsetzen können. Dass eine kleine Armada von selbsternannten Rettungsschiffen präventiv auf Seenotfälle wartet, die von anderen bewusst herbeigeführt werden, überspannt die Bestimmung des Seerechts.
Um es klar zu sagen: Illegal ist das Vorgehen der NGOs deshalb nicht. Aber es ist, als würde man einen Selbstmörder immer wieder auf denselben Fenstersims klettern lassen und sich dann darüber beklagen, dass jemand ein Fangnetz aufbaut. Auf einem Rechtsgebiet wie dem Seerecht, das wie kein anderes von Gewohnheitsrecht geprägt ist, entfaltet die orthodoxe Auslegung des Wortlauts am Ende destruktive Züge. Denn das Seerecht ist ein „schwaches“, gründet auf Traditionen, die Hunderte von Jahren zurückreichen. Die meisten Regeln sind weich formuliert, weil eine konfrontative Auslegung auf See keine Instanz fände, die rechtzeitig vermitteln könnte.
Ein Schlauchboot, zwei Schiffe und vier Stunden, in denen niemand etwas tut
Daraus ergibt sich für die Rettungspraxis eine dritte Konfliktlinie, und hier ist das Unbehagen am größten, weil die Seenotretter nicht nur auf dem Akt der Rettung bestehen, sondern gleichzeitig darauf, die Geretteten an einen ihrer Meinung nach „sicheren Ort“ zu bringen. Was „sicher“ ist, wird vom Seerecht jedoch anders definiert als von der UN-Flüchtlingskonvention. Das Seerecht meint einfach einen Ort, „an dem die Rettungsmaßnahmen als beendet angesehen werden“. Das könnte auch ein anderes Schiff sein. Doch die Menschenretter berufen sich darüber hinaus auf das Refoulement-Verbot der Genfer Flüchtlingskonvention (Art. 33). Danach sei Libyen kein „sicherer“ Ort für Menschen, die dort mit Misshandlung, Erpressung, Raub und Tod rechnen müssten. Sicher sei nur Europa.
Obwohl das Refoulement-Verbot für staatliche Organe gilt, nicht jedoch für Privatleute, ist für Schiffbrüchige im Mittelmeer von entscheidender Bedeutung geworden, wer sie an Bord nimmt. Während die Libyer sie zurück nach Libyen bringen können, brauchen alle anderen das nicht. Aus dem Vorsatz: Niemand darf ertrinken, ist geworden: Niemand darf abgewiesen werden. Die Konsequenzen sind enorm, denn Einreisebestimmungen sind überall auf der Welt kompliziert. Und Europa zwingen zu wollen, seine Einwanderungspraxis ausgerechnet auf dem Meer zu ändern, ist etwas völlig anderes, als es an seine humanitäre Verpflichtung zu erinnern.
Aus diesem Grund fühlen sich viele von der Aufgabenverteilung im Mittelmeer abgeschreckt, nach der die privaten Seenotretter an der Spitze einer Hilfskette stehen, deren Hauptlast dann von staatlichen Behörden übernommen wird. Sicher, die Seenotretter haben eine unschätzbar wertvolle Kompetenz für Massenrettungen erworben. Aber schon jetzt können sie nichts gegen ein mögliches Refoulement ausrichten, wie ein Fall vom 15. Juni dieses Jahres illustriert: Die Lifeline hatte über Funk von einem Seenotfall erfahren, der sich 36 Meilen östlich ihrer Position zutrug. Sie brauchte vier Stunden, um zu dem Ort zu gelangen, und als sie dort eintraf, befanden sich bereits zwei imposante Schiffe vorort, ein Truppentransporter der US-Marines sowie die Viking Amber, ein Transporter für Gebrauchtwagen von immerhin 168 Meter Länge. Beide beobachteten aus der Distanz ein Boot mit 126 Menschen in offensichtlich schwieriger Lage. Da die Lifeline vom MRCC nicht mit der Rettung beauftragt worden war, kreisten nun drei Schiffe um das Schlauchboot und suchten einen Ausweg.
Schließlich wurde die Viking Amber vom MRCC zum Rettungsschiff bestimmt. Aber der Frachter hatte gar nicht die Mittel für eine Massenrettung. „Der Viking Amber boten wir unsere Unterstützung an“, schreibt Lifeline in einem Facebook-Bericht. „Unsere Hilfe wurde dankbar angenommen.“ Danach setzte die Viking Amber ihren Weg zu einem libyschen Hafen fort. Die Lifeline-Crew ließ sich das Versprechen geben, dass die Geretteten dort nicht abgesetzt werden würden. Was aus ihnen wurde, ist unklar.
Das ist die Realität heute. Weil die NGOs mit ihrem Beharren auf Europa als einzigem sicheren Ort nicht mehr eingebunden werden in Rettungsoperationen, sollten sie sich dringend auf ihr Kernanliegen besinnen und für den Aufbau einer lokalen Rettungsinfrastruktur in Nordafrika einsetzen. Es ist schwierig, geeignete Partner in den autoritären Ländern zu finden. Trotzdem muss es versucht werden. Niemandem wäre geholfen, mit viel zu kleinen Kuttern in den gefährdeten Seegebieten aufzukreuzen, um wenigsten als Beobachtungsposten vorort zu sein, wie es derzeit wieder versucht wird. Das Wichtigste ist, dass Menschen nicht ertrinken.