Seenotrettung: Rettet das Schweizer Kreuz die "Aquarius"?
Seit mehr als einem Jahr tun die EU-Staaten viel dafür, private Seenotrettung zu erschweren. Schweizer Politikerinnen wollen jetzt helfen.
Seit Ende September liegt das einzige private Schiff, das noch Seenotrettung auf der zentralen Mittelmeerroute machte, im französischen Hafen Marseille fest. Und es ist völlig unklar, wann die Aquarius der Hilfsorganisationen "SOS und Méditerranée" und "Ärzte ohne Grenzen" (MsF nach dem Kürzel des französischen Mutterorganisation Médecins sans frontières) wieder in See stechen kann. Dazu braucht ein Schiff eine Flagge. Und die hat die Aquarius demnächst nicht mehr, wie die Besatzung und die Betreiberinnen vor wenigen Wochen erfuhren.
Nachdem zunächst Gibraltar seine Flagge entzogen hatte, fuhr das Schiff ein paar Wochen lang unter panamaischer Flagge. Doch dann erklärte das Land, es wolle die Flagge entziehen. Als Grund wurden offiziell Unregelmäßigkeiten und Verstöße gegen Vorschriften genannt. Dem halten SOS Med und MsF aber entgegen, man habe auf der Aquarius "alle maritimen und strengen technischen Spezifikationen erfüllt, die der Flaggenstaat Panama fordert".
Rom droht Panama mit Wirtschaftssanktionen
Nach ihren Angaben hat der Bremer Reeder, dem die Aquarius gehört, aber auch eine andere neben der offiziellen Version aus der Hauptstadt Panama-Stadt erhalten: Per Mail habe die Schifffahrtsbehörde des mittelamerikanischen Landes mitgeteilt, Italien habe von ihr "Sofortmaßnahmen" gegen die Aquarius verlangt und dies mit einer harten Drohung verbunden: Die Regierung von Panama wie auch Schiffe unter panamaischer Flagge, die in europäische Häfen einlaufen, würden andernfalls "ein politisches Problem" bekommen. Gemeint ist wohl ein potenziell existenziell wirtschaftliches: Panamas Wirtschaft hängt neben dem Kanal fast völlig von den Einnahmen aus seinem Schiffsregister ab - etwa ein Fünftel aller Schiffe weltweit fahren unter panamaischer Flagge. In Italien regiert seit dem Frühjahr die rechtsradikale Lega mit, deren Parteichef und Innenminister Matteo Salvini entschlossen ist, entgegen den Vorschriften des internationalen Seerechts keine schiffbrüchigen Migranten mehr ins Land zu lassen und selbst einem Schiff der italienischen Küstenwache verbot, im eigenen Land vor Anker zu gehen.
Augenblicklich setzen die Helferinnen und Helfer in der Flaggenfrage auf ein Land, das nicht gerade als Seefahrernation bekannt ist, auf die Schweiz. Dort haben Abgeordnete mehrerer Fraktionen des Parlaments der Regierung in einer Anfrage (Interpellation) vorgeschlagen, der Aquarius zum Schweizer Kreuz zu verhelfen. "Es ist unbestreitbar, dass SOS Méditerranée eine humanitäre Pflicht erfüllt, indem sie Migranten aus Todesgefahr rettet", heißt es im Text des liberalen Abgeordneten und Solothurner Stadtpräsidenten Kurt Fluri, der Sozialdemokratin Ada Marra aus Lausanne und des Genfer Christdemokraten Guillaume Barazzone.
Schweizer Prominente an der Seite der Retter
Die Schweiz habe eine lange humanitäre Tradition und beherberge mehrere internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, die sich ebenfalls um Flüchtlinge und Migranten kümmerten. Die Schweizer Regierung, der Bundesrat, möge daher eine Bestimmung des Schweizer Schifffahrtsgesetzes nutzen, das auch humanitären Organisationen die Aufnahme ins Schifffahrtsregister des Landes ermöglicht und damit der Aquarius zur notwendigen Flagge verhelfen. Auch außerhalb des Nationalrats haben sich prominente Schweizer Persönlichkeiten in einer Petition dafür eingesetzt, darunter die frühere Chefanklägerin des Internationalen Jugoslawien-Tribunals, Carla Del Ponte, der frühere Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz Cornelio Sommaruga, der Chemie-Nobelpreisträger Jacques Dubochet, der Regisseur Markus Imhoof und der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz des Landes, Charles Morerod.
Auch die frühere Schweizer Außenministerin und Ex-Regierungschefin (Bundespräsidentin) Micheline Calmy-Rey hat die Petition unterschrieben, die sich für die Schweizer Beflaggung der Aquarius einsetzt. Der Bundesrat tagte am Mittwoch, ob er sich zur Interpellation äußert, wird sich erst in den nächsten Tagen herausstellen.
Die EU-Staaten gehen insgesamt seit Sommer des vergangenen Jahres massiv gegen die privaten Rettungsversuche vor. Am Anfang standen Vorwürfe, vor allem der EU-Grenzschützer von Frontex, in Wirklichkeit besorgten die Retter das Geschäft krimineller Schlepper und Menschenhändler, die damals noch sozialdemokratisch geführte Regierung in Rom versuchte, die NGOs im Mittelmeer auf einen harten Verhaltenskodex zu verpflichten. Vor einem Jahr bedrohte und beschoss die von der EU ausgerüstete und ausgebildete libysche Küstenwache die Schiffe mehrerer Hilfsorganisationen, das Schiff der Berliner Vereins "Jugend rettet" wurde auf Sizilien beschlagnahmt und Ermittlungsverfahren gegen die Besatzung eingeleitet.
Ein Jahr lang Kampf der EU gegen die NGOs
Schließlich wichen praktisch alle NGOs im mittlere Mittelmeer dem Druck, die spanische Pro Activa Open Arms zog sich Richtung Heimat zurück, nachdem der Seeweg nach Spanien zu einem neuen Hotspot der Migration geworden war. Dennoch hat Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz die Helfer am vergangenen Wochenende erneut massiv angegriffen. Kurz, dessen konservativen ÖVP mit der rechten FPÖ regiert, nannte im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ausdrücklich die Aquarius. Die Rettung im Mittelmeer, so der Wiener Kanzler, dürfe nicht "mit einem Ticket nach Mitteleuropa" verbunden sein. Die EU solle deshalb erreichen, "dass Menschen sich gar nicht erst auf den Weg machen oder nach der Rettung zurückgebracht werden". Es könne "doch nicht sein, dass ein paar Nichtregierungsorganisationen das klare Ziel der 28 Staats- und Regierungschefs in Europa konterkarieren". Die Seenotretter halten dem entgegen, dass es die europäischen Staaten sind, die Recht brechen, indem sie die Rettung Schiffbrüchiger unmöglich machen oder gar strafrechtlich verfolgen lassen. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind seit Jahresbeginn bereits 1600 Menschen beim Versuch ums Leben gekommen, Europa über das Mittelmeer zu erreichen.
"Die EU bricht straflos Recht"
Der Kapitän der Aquarius, Klaus Vogel, klagte während eines Vortrags auf Einladung der Schwarzkopf-Stiftung vergangene Woche an der Berliner Humboldt-Universität die europäischen Regierungen an. Statt ihrerseits eine Flotte zur Rettung auszurüsten, setzten sie auf die abschreckende Wirkung der vielen Toten auf See. Sie wirkten "wie der Eiserne Vorhang, den früher der Warschauer Pakt gezogen hat". Die Menschen seien in Todesangst, die Überfahrten seien "keine Urlaubsreise", wie Stellungnahmen aus den Hauptstädten immer wieder unterstellten. Wenn man den Schleppern das Handwerk legen wolle, müsse das an Land geschehen, aber nicht auf Kosten des Lebens von Migranten. Das Verhalten Europas nannte Vogel "ungesetzlich, aber es wird nicht sanktioniert".
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