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Geschunden. Der von Aufständischen kontrollierte Ostteil Aleppos ist abgeriegelt. Die Menschen können die zerstörte Stadt nicht mehr ohne weiteres verlassen.
© Thaer Mohammed/AFP
Update

Krieg in Syrien: Kein Frieden in Sicht für das zertrümmerte Land

Die Lage für die Einwohner Aleppos scheint aussichtslos. Not, Gewalt und Angst bestimmen ihren Alltag. In dieser Nacht starteten Dschihadisten eine neue Offensive.

Rund 250.000 Menschen sitzen derzeit im Ostteil Aleppos fest, den syrische Regierungstruppen schon Mitte Juli vollständig umstellt haben. In dieser Nacht haben dschihadistische Kämpfer eine neue Offensive gestartet, um die Belagerung durch syrischen Regierungstruppen zu durchbrechen. Islamistische Gruppen wie die einflussreiche Ahrar al-Scham und weitere Dschihadisten wollten eine neue Versorgungsroute öffnen, wie es gestern hieß. Fateh-al-Scham habe zwei Angriffe mit Autobomben gegen Stellungen der Regierungstruppen im Südwesten geführt, erklärte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Beide Parteien lieferten sich demnach heftige Kämpfe. Durch Rebellenangriffe auf das von Regierungstruppen kontrollierte Viertel Hamdanije seien elf Zivilisten getötet worden.

Not, Gewalt und Tod – die syrische Tragödie findet kein Ende. Trotz einer Waffenruhe wird in Teilen des Landes längst wieder heftig gekämpft. Vor allem die Schlacht um Aleppo droht zu einer humanitären Katastrophe zu werden. Es ist eine von vielen für die geschundenen Menschen. Seit mehr als fünf Jahren herrscht in dem zerfallenen Staat ein unerbittlicher Krieg, Millionen sind geflüchtet. Und eine friedliche Lösung für den Konflikt ist nach wie vor nicht in Sicht.

Wie stabil ist die vereinbarte Waffenruhe?

Zunächst schien sich der vorsichtige Optimismus zu bestätigen. Auf Druck von Russland und den USA hatten sich die Konfliktparteien auf eine Feuerpause verständigt. Sie trat am 27. Februar offiziell in Kraft. Tatsächlich nahm die Gewalt in den ersten Tagen und Wochen deutlich ab. Die Menschen trauten sich wieder auf die Straße, gingen einkaufen oder schickten ohne Angst ihre Kinder zur Schule. Es gab aber von Anfang an Regionen, in denen weiter gekämpft wurde. Machthaber Baschar al Assad und die mit ihm verbündete Führung in Moskau begründeten ihren Militäreinsatz mit dem „Islamischen Staat“ (IS) und der Nusra-Front. Beide Islamistengruppen dürfen trotz Feuerpause bekämpft werden.

Doch Beobachter stimmen darin überein, dass das Regime den Antiterrorkampf als willkommenes Alibi nutzte, um vor allem gegen moderatere, nicht dschihadistische Aufständische vorzugehen. Inzwischen ist klar: Die Waffenruhe hat die Lage allenfalls zeitweise beruhigt. Laut dem oppositionsnahen Syrischen Netzwerk für Menschenrechte steigt die Zahl der zivilen Opfer seit März wieder dramatisch an. Inzwischen kämen durchschnittlich fast so viele Menschen ums Leben wie vor der Feuerpause.

Kann das Regime Aleppo zurückerobern?

Im Moment spricht einiges dafür. Assads Truppen haben die frühere Wirtschaftsmetropole vor Kurzem vollständig abgeriegelt. Niemand kommt in den von Rebellenmilizen gehaltenen Osten der Stadt hinein oder heraus. Das gilt auch für Lebensmittel, Trinkwasser und Medikamente. Hilfsorganisationen und die Vereinten Nationen warnen deshalb vor einem humanitären Desaster. Denn spätestens in einigen Wochen werden die Vorräte wohl aufgebraucht sein. Auch die Bombenangriffe durch russische und syrische Kampfjets gehen fast unvermindert weiter – obwohl Moskau und Damaskus angeblich geschützte Fluchtkorridore eingerichtet haben, damit die Einwohner die Stadt verlassen können. Außerdem hat Assad eine Amnestie angeboten. Wer die Waffen niederlegt und sich ergibt, könne mit Straffreiheit rechnen. Über eine weitere Route werde es den Mitgliedern der Freien Syrischen Armee und Mitgliedern anderer Rebellenbrigaden ermöglicht, aus Aleppo abzuziehen.

Allerdings: Eine Mehrheit der etwa 300 000 Eingeschlossenen sieht in den Angeboten eine Falle. Kaum jemand glaubt, dass die Regierung in Damaskus ihr Wort hält und tatsächlich sichere Routen einrichtet. Vielmehr handele es sich bei den Korridoren um Todesfallen für Zivilisten wie für Kämpfer. Laut nicht bestätigten Berichten hat die syrische Armee an markierten Ausgängen sogar auf Zivilisten geschossen. Nach Angaben von Einwohnern und Aktivisten traut sich bisher niemand, die Stadt zu verlassen. An eine Begnadigung der Assad-Gegner glaubt ebenfalls kaum einer. Zu oft habe das Regime derartige Versprechen gemacht und diese dann gebrochen, heißt es. Nach dem Fall der Stadt Homs vor zwei Jahren war den dortigen Rebellen freies Geleit zugesichert worden. Dennoch wurden hunderte Männer festgenommen. Viele von ihnen verschwanden spurlos.

Über wie viel Macht verfügt Assad?

Lange Zeit lief es schlecht für den syrischen Herrscher. Seine von schiitischen Milizen und Söldnern unterstützten Truppen waren 2015 auf dem Rückzug, die Aufständischen dagegen auf dem Vormarsch. Es schien, als könne das Regime nur noch sein Kerngebiet zwischen Damaskus und dem Mittelmeer halten. Doch im September 2015 änderte sich die Situation grundlegend: Moskau griff – offiziell von Assad um Hilfe gebeten – massiv in den Krieg ein.

Russlands Militärmaschinerie stabilisierte nicht nur das Regime, sondern ermöglichte es ihm, auf die Siegerstraße zurückzukehren. Und die Einnahme Aleppos wäre ein Symbol für die neue Stärke des Machthabers. Der 50-Jährige hat ohnehin klargemacht, dass er sich als legitimen Herrscher betrachtet und das gesamte Land mit allen Mitteln zurückerobern will. Ein Sieg in Aleppo könnte nach Einschätzung von Experten sogar eine generelle Wende im Krieg bedeuten – zugunsten des Regimes.

Welche Ziele verfolgt Russland?

Als Russland am 30. September vergangenen Jahres offiziell in den Syrienkrieg eingriff, war der Kampf gegen den Terrorismus das erklärte Ziel. Doch das militärische Vorgehen zeigte schnell, dass es Moskau in erster Linie um die Unterstützung des syrischen Regimes ging. Ein großer Teil der russischen Luftangriffe richtete sich nicht gegen den IS, sondern gegen als gemäßigt geltende Gegner Assads. Dem Kreml ging es offenbar von Anfang an darum, den Sturz des Assad-Regimes zu verhindern. Einen weiteren Machtwechsel in der Region nach dem Vorbild des Arabischen Frühlings oder gar wie in der „Orangenen Revolution“ in der Ukraine sollte es nicht geben. Damaskus ist der wichtigste Verbündete Russlands in einer geostrategisch wichtigen Region. Für Präsident Wladimir Putin ist vor allem wichtig zu zeigen, dass sein von US-Präsident Barack Obama als „Regionalmacht“ geschmähtes Land wieder eine zentrale Rolle auf der weltpolitischen Bühne spielt.

Wie groß ist Putins Einfluss auf Assad?

Assad nannte sein Verhältnis zu Putin vor Kurzem im US-Sender NBC „sehr offen“. Es basiere auf gemeinsamen Werten und dem gemeinsamen Interesse, den Terrorismus zu bekämpfen. Assad selbst bezeichnete das Eingreifen Russlands als „entscheidenden Faktor“. Dass er überhaupt noch im Amt ist, verdankt er wohl in erste Linie Putin. Damit ist Assad vollkommen auf den Kremlchef angewiesen. In dem Interview betonte Syriens Staatschef, dass Russlands Führung hinter ihm stehe und keineswegs seinen Rücktritt gefordert habe. Allerdings ist aus Moskaus Sicht nicht unbedingt die Person Assad wichtig, sondern das syrische Regime. Assad bliebe also gar nichts anderes übrig, als Putins Vorgaben zu folgen.

Ändert die Türkei nach dem Putsch ihre Syrienpolitik?

Neben den Regionalmächten Iran und Saudi-Arabien zählt die Türkei zu jenen Staaten, die in Syrien zu den Konfliktparteien gehören. Und lange Zeit war klar, dass Ankara nur ein Ziel kennt: Assads raschen Sturz. Vor allem Präsident Recep Tayyip Erdogan verbindet eine Art Intimfeindschaft mit seinem Damaszener Amtskollegen. Schon gleich nach Beginn des Aufstands im Frühjahr 2011 schlug sich Erdogan auf die Seite der Rebellen. Nach dem Motto „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ unterstützte er auch Extremistengruppen, einschließlich des „Islamischen Staats“.

Die Terrormiliz konnte die Türkei weitgehend ungehindert als Rückzugsraum, Rekrutierungsgebiet und für den Nachschub nutzen. Das änderte sich erst vor gut einem Jahr, als im Grenzort Suruc Dutzende Menschen bei einem Anschlag ums Leben kamen, für den Erdogan den IS verantwortlich machte. Seitdem geht er verstärkt gegen die Dschihadisten vor. Doch sein Hauptgegner sind nach wie vor die Kurden. Erdogan fürchtet kaum etwas so sehr wie ein Kurdistan, das an die Türkei grenzt.

Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass sich ein Kurswechsel in Erdogans Syrienpolitik andeutet. Erst kürzlich sagte der türkische Premier Binali Yildirim: Wir werden unsere Beziehungen mit Syrien normalisieren. Offenbar ist Ankara nun bereit, eine Übergangszeit mit Assad an der Spitze zu akzeptieren. Dafür spricht, dass sich Russland und die Türkei wieder annähern. Nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets durch einen türkischen hatte Putin Sanktionen gegen die Türkei verhängt. Inzwischen hat sich Erdogan für den Vorfall entschuldigt. Beide Staatschefs wollen sich am 9. August treffen, um das Verhältnis beider Länder wieder zu stabilisieren. Dabei dürfte Syrien eine Rolle spielen. Und da ist Moskaus Position eindeutig: Assad bleibt vorerst.

Wie stark ist der IS noch?

Der „Islamische Staat“ ist nicht nur im Irak, sondern auch in Syrien militärisch in Bedrängnis. Die von den USA geführte Anti-IS-Allianz fliegt weiter Luftangriffe gegen Dschihadistenstellungen. Außerdem stoßen syrische Einheiten immer weiter vor. Dadurch haben die „Gotteskrieger“ große Teile des einst von ihnen eroberten Gebietes verloren. Doch sie kontrollieren immer noch ein beträchtliches Areal. Dazu gehört Rakka. Die Stadt in Nordsyrien gilt als inoffizielle Hauptstadt des vor zwei Jahren ausgerufenen „Kalifats“. Experten sind sich einig, dass der IS versucht, die Niederlagen zu „kompensieren“ – durch noch mehr Terroranschläge in Europa.

Warum kommen die Friedensgespräche nicht voran?

Die Chancen auf eine diplomatische Lösung haben sich in den vergangenen Monaten nicht sonderlich erhöht. Zwar bemüht sich Staffan de Mistura als Sondervermittler der Vereinten Nationen unermüdlich, die verfeindeten Parteien an einen Tisch zu bringen. Doch auch er konnte nicht verhindern, dass die Verhandlungen vor einiger Zeit ergebnislos unterbrochen wurden. Vor allem die Zukunft Assads ist zwischen den Vertretern des Regimes und der Opposition heftig umstritten. Damaskus pocht darauf, dass der Staatschef im Amt bleibt, für die Rebellen ist dies unannehmbar.

Dennoch will de Mistura schon bald die Gespräche in Genf wieder aufnehmen. Alle Blicke richten sich dabei nach Washington und Moskau. Denn Beobachter sind sich einig: Nur die USA und Russland haben genug Macht, um von den Konfliktparteien Kompromissbereitschaft einzufordern. Darauf setzt auch die deutsche Regierung. Wobei ein besonderes Augenmerk auf Moskau liegt. Der Kreml müsse seinen Einfluss auf Assad geltend machen, forderte Außenminister Frank-Walter Steinmeier vor wenigen Tagen. Gemeint war damit das Drama in Aleppo. Aber die Worte dürften wohl auf den Syrienkrieg insgesamt gemünzt gewesen sein. (mit AFP)

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