Krieg in Syrien: Moskaus Plan: Abzug ohne Rückzug
Russland will seine Truppenstärke in Syrien verringern. Welche Folgen hat Wladimir Putins überraschende Ankündigung für den Konflikt?
Das Timing ist perfekt, die Ankündigung für die meisten Beobachter eine Überraschung: Der russische Präsident Wladimir Putin hat angeordnet, einen Teil der russischen Truppen aus Syrien zurückzuziehen. Und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als in Genf die Kriegsparteien ihre Verhandlungen über eine gewaltfreie Zukunft des geschundenen Landes aufnehmen – und der Beginn des Aufstands gegen Machthaber Baschar al Assad sich zum fünften Mal jährt.
Wie begründet Putin den Truppenabzug?
Der russische Präsident zitierte am Montagabend Außenminister Sergej Lawrow und Verteidigungsminister Sergej Schojgu in den Kreml und ließ sie vor laufenden Kameras über die militärische Lage im Syrien-Krieg und die Friedensgespräche Bericht erstatten. Daraufhin ordnete der Präsident an, mit dem Abzug zu beginnen. Nach seiner Darstellung hat die russische Armee in Syrien ihr Ziel erreicht: „Die Aufgabe, die dem Verteidigungsministerium und den Streitkräften gestellt wurde, ist im Großen und Ganzen gelöst“, sagte Putin. „Die wirklich effektive Arbeit unserer Truppen schuf die Bedingungen für den Friedensprozess.“
Mit russischer Luftunterstützung seien 400 Dörfer und mehr als 10000 Quadratkilometer Land „befreit“ worden, berichtete Verteidigungsminister Schojgu dem Präsidenten. Mehr als 2000 „Kriminelle“ aus Russland seien in Syrien „ausgelöscht“ worden, betonte er. Andere Opferzahlen nannte der Minister nicht. Bei den russischen Luftangriffen waren laut Menschenrechtsgruppen auch hunderte Zivilisten getötet worden.
Wie viele Soldaten will Moskau abziehen?
Die ersten SU-34-Bomber und eine Tupolew verließen bereits am Dienstag den Stützpunkt Hmeimim in der Provinz Latakia, das russische Staatsfernsehen zeigte Bilder der startenden Maschinen. Seit dem Beginn der Militäraktion in Syrien am 30. September vergangenen Jahres hat Russland geheim gehalten, wie viele Soldaten überhaupt nach Syrien entsandt sind. Unklar ist daher auch, wie viele von ihnen nun abgezogen werden und wann dieser Abzug beendet sein soll. Vor allem aber bedeutet Putins Ankündigung keineswegs, dass nun der Militäreinsatz in Syrien beendet ist. Ziele der Terroristen würden weiter angegriffen, sagte Vize-Verteidigungsminister Nikolaj Pankow bei einem Besuch des russischen Stützpunktes Hmeimim.
Der Chef der Präsidialverwaltung, Sergej Iwanow, betonte ebenfalls, der Kampf gegen die Terroristen würde verstärkt. Dafür werde ein derart großes Truppenkontingent wie das derzeitige allerdings nicht gebraucht, sagte Iwanow. Auch das hochmoderne Luftabwehrsystem S-400, das Russland als Antwort auf den Abschuss eines russischen Militärflugzeugs durch die Türkei nach Syrien gebracht hatte, soll demnach nicht abgezogen werden. Moskau nutzte den Krieg in Syrien auch, um neue Waffen zu testen, beispielsweise Marschflugkörper mit Tarnkappentechnik vom Typ CH-101. Verteidigungsminister Schojgu berichtete beim Treffen mit Putin, die russischen Streitkräfte hätten in Syrien erstmals luft- und seegestützte Raketen mit einer Reichweite von mehr als 1500 Kilometern eingesetzt.
Was war das Ziel der Intervention in Syrien?
Als Russland vor fast sechs Monaten militärisch in den Syrien-Krieg eingriff, betonte die Führung in Moskau, der Einsatz sei gegen den „Islamischen Staat“ (IS) gerichtet und nicht gegen Assads Gegner. Doch die Terrormiliz ist in Syrien keineswegs besiegt. Die russischen Truppen flogen einen großen Teil ihrer Luftangriffe nicht gegen Stellungen des IS, sondern gegen die nicht dschihadistische Rebellen der gemäßigten Opposition. Russland ging es von Anfang an vor allem darum, einen Sturz des Assad-Regimes zu verhindern.
Der Machthaber in Damaskus gilt als Moskaus wichtigster Verbündeter in der Region, und Russland will weitere Machtwechsel nach dem Vorbild der Orangenen Revolution in der Ukraine oder des Arabischen Frühlings verhindern. Außerdem konnte sich Russland, vor kurzem von den Vereinigten Staaten noch als „Regionalmacht“ geschmäht, mit der Militäraktion in Syrien als Schlüsselmacht in der Weltpolitik positionieren. Gegen Moskau scheint eine Lösung des Konflikts wenig wahrscheinlich. So hat der Militäreinsatz in Syrien offenbar seinen Zweck erfüllt. Mission erfüllt, wie die Staatsmedien stolz verkündeten.
Wie schlagkräftig ist der IS noch?
Eines steht fest: Von einem militärischen Sieg über die Terrormiliz kann bisher keine Rede sein. Zwar sind die Dschihadisten in jüngster Zeit vor allem durch die Luftschläge verschiedener Staaten geschwächt worden. Doch in echte Bedrängnis sind die selbsternannten „Gotteskrieger“ noch nicht geraten. Nach wie vor kontrollieren sie einen großen Teil des Landes. Die russische Zurückhaltung im Kampf gegen den IS hat die Islamisten sogar in die Lage versetzt, einige zuvor von Rebellen gehaltene Orte zu erobern. Insofern ist der „Islamische Staat“ eine Art Profiteur der russischen Intervention.
Auch die Al Qaida nahestehende Nusra-Front ist offenkundig noch nicht besiegt. Nach dem begonnenen Abzug eines Teils der russischen Truppen bereitet die Extremistengruppe nach eigenen Angaben eine neue Offensive zum Sturz Assads vor. Einer ihrer Kommandeure sagte der Nachrichtenagentur AFP: „Ohne die russischen Luftangriffe wären wir längst in Latakia“ – die Provinzhauptstadt gehört zu Assads Hochburgen.
Was bedeutet Russlands Teilrückzug für Machthaber Assad?
Ohne Moskaus massive Unterstützung wäre der Gewaltherrscher in Damaskus wohl längst am Ende. Als Russland im Herbst vergangenen Jahres in Syrien eingriff, waren Assads Gegner auf dem Vormarsch. Der Präsident kontrollierte nur noch einen kleinen Teil des Landes, seine Armee hatte an Schlagkraft eingebüßt. Doch Putins Beistand änderte die Koordinaten des Konflikts grundlegend. Inzwischen hat Assad viel verloren gegangenes Terrain zurückerobert – weil russische Kampfjets seinen vorwiegend aus schiitischen Milizen und Hisbollah-Kämpfern bestehenden Bodentruppen den Weg freibombten. Damit ist Assad auch politisch gestärkt. Auf einen sofortigen Rücktritt drängen nicht einmal mehr die USA.
Dass Putin in dieser Situation Assad fallen lässt, gilt als nahezu ausgeschlossen. Den Abzug eines Teils der russischen Soldaten werden daher selbst Gegner des Machthabers kaum als Abkehr von einem engen Verbündeten missverstehen. Und schon gar nicht als Einladung zu dessen Sturz. Denn der Kreml steht weiter fest an der Seite des Regimes. Über Damaskus sichert sich Moskau Einfluss in der Region. Zugleich signalisiert der Kreml Assad allerdings, dass Russland nicht gewillt ist, sich dauerhaft in diesem kostspieligen Krieg zu engagieren. Vielmehr setzt Putin offenkundig darauf, die militärischen Erfolge in diplomatische umzuwandeln. Und dabei soll Assad nicht im Weg stehen.
Wie reagiert die internationale Gemeinschaft auf die russische Ankündigung?
Der UN-Sondergesandte für Syrien, Staffan de Mistura, sprach von einer wichtigen Entwicklung. Es bestehe Hoffnung, dass sich ein russischer Abzug positiv auf die am Montag wieder aufgenommenen Friedensgespräche in Genf auswirke. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) äußerte sich am Montagabend zum fünften Jahrestag der Proteste gegen das Assad-Regime und brachte ebenfalls den Wunsch zum Ausdruck, dass nun endlich der Einstieg in eine politische Lösung gelingen könne.
Aus seinem Statement lässt sich allerdings eine gewisse Skepsis angesichts des russischen Abzugsversprechens herauslesen: „Wenn sich die Ankündigungen eines russischen Truppenabzugs bewahrheiten, erhöht das den Druck auf das Regime von Präsident Assad, in Genf endlich ernsthaft über eine politische Lösung zu verhandeln, der den Bestand des syrischen Staatswesens und die Interessen aller Bevölkerungsgruppen wahrt.“ Bereits am Montagabend hatte Putin mit US-Präsident Barack Obama telefoniert und ihn über den geplanten Abzug informiert. Obama mahnte in einer Erklärung, die „anhaltende Offensive der syrischen Regierungskräfte drohe, die Waffenruhe und den UN-geführten politischen Prozess zu untergraben“.
Welche Folgen hat die Abzugsankündigung für die Friedensgespräche?
Derzeit verhandeln Vertreter der syrischen Regierung und der Opposition über eine Übergangsregierung und einen möglichen Friedensplan für Syrien. Dass es dazu überhaupt gekommen ist, hängt unmittelbar mit Putins Eingreifen zusammen. Vor dem Beginn der Militärintervention gab es keine ernsthaften Versuche, den Konflikt am Verhandlungstisch zu lösen. Inzwischen spricht UN-Vermittler de Mistura sogar von einem „Moment der Wahrheit“. Auf Grundlage der vorübergehenden Feuerpause müsse eine dauerhafte Übereinkunft gefunden werden. Der Teilabzug russischer Soldaten könnte nun ein wichtiges Signal für die Gespräche sein, dass Moskau nun auf eine diplomatische Lösung setzt. Eine vertrauensbildende Maßnahme à la Moskau.
Nur: Vor allem die Opposition äußert sich skeptisch, ob Putin es ernst meint und seinen Worten wirklich Taten folgen lässt. Denn dazu gehört nach Ansicht der Aufständischen auch, dass der Kreml mit dem syrischen Diktator endlich bricht. Klar ist aber ebenfalls, dass Russland jetzt die Agenda für die Friedensgespräche setzen will, vor allem mit Blick auf eine Nachkriegsordnung. Denn seine inzwischen starke Position in Syrien und damit in der Region wird Moskau mit Sicherheit nicht aufgeben. Russland bringt sich vielmehr im Nahen Osten in Stellung.