Wie es mit der EU weiter geht: Ist Europa heute eine einsame Frau in zerrissenem Kleid?
Die EU behandelt Osteuropa stiefmütterlich, gerät global aber selbst an den Rand: Was diese Verschiebungen für die Demokratie bedeuten. Ein Gastbeitrag.
Nora Bossong ist Schriftstellerin. Ihr neuer Essayband „Auch morgen. Politische Texte“ erscheint im Juni bei Suhrkamp. Sie diskutiert zu dem Thema beim Körber History Forum, das am 18. und 19. Mai digital stattfindet
Eine der ersten Landkarten Europas ist eine allegorische: Eine Frau in einem wallenden Gewand, die Herrschaftsinsignien Szepter und Reichsapfel erhoben. Später als Europa regina bekannt, machte der weibliche Kontinent ab der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts Karriere.
Zentrum und Peripherie zeigen sich hier anders als heute, und doch zeichnet sich schon eine Westorientierung ab. Das auf heutigen Europakarten an den Rand gedrängte Portugal thront als Krone auf dem Haupt Spanien, Ort der Ratio und Beredsamkeit. Das nach Süden ins Mittelmeer vorstoßende Sizilien ist der Reichsapfel.
Frankreich bildet das Dekolleté und das Herz liegt, of all places!, in Braunschweig – in anderen Darstellungen allerdings in Böhmen, und diese Herzwanderung zeigt anschaulich, dass Geografie eben auch damit zu tun, welchem Herrscher, welchen Machtperspektiven man gefallen wollte und will. Osteuropa entfaltet sich auf dem Gewand, unter dem die genaue Physiognomie nicht zu erkennen ist, man darf aber Beine und Füße vermuten. Nun mögen die für Standfestigkeit nützlich sein, ihnen wird aber seit je weniger Bedeutung beigemessen als Herz und Verstand.
Europas Geschichte wird heute von Brüssel aus erzählt
Während der Zeit des Kalten Krieges glich die Königin Europa einer zersägten Jungfrau, die in den Neunziger Jahren – oh Zauber! – wieder aus ihrer Kiste stieg. Doch anders als im Zirkus zeigen sich die Spuren ihrer Teilung auf unserem Kontinent bis heute real.
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Noch immer ist es vor allem die Geschichte Westeuropas, die von Brüssel aus erzählt und gehört wird. Zudem sind wirtschaftliche Gefälle eklatant spürbar, natürlich auch zwischen Nord- und Südeuropa, aber die einstige gewaltsame Teilung der Königin Europa zwischen Ost und West zeigt noch immer die tiefsten Verwerfungen, in Deutschland merkt man es sogar im eigenen Land.
Der Grundoptimismus, mit dem die EU-Osterweiterung früher wenigstens scheinbar begleitet wurde, ist einer Grundskepsis gewichen, so als traue man den spät zur Demokratieklasse Hinzugestoßenen nicht zu, all den Lernstoff aufzuholen, den die anderen seit Jahrzehnten beackern.
Diese westliche Dominanz und eben auch Arroganz ist nun nicht gerade der Kitt, der die Länder innerhalb der EU besonders gut zusammenhält, und es ist ein wenig wohlfeil, auf der einen Seite Frankreich und Deutschland zu so etwas wie einer Kern-EU zu machen, auf der anderen Seite verwundert zu fragen, warum Ungarn und Polen gar keine so begeisterten EU-Europäer sind.
Die Angst vor der Marginalisierung lässt den Populismus blühen
Das heißt nicht, dass ein Land zwangsläufig als Demokratie scheitert, weil es an der Peripherie der EU liegt, ob dies nun geografisch, ökonomisch oder kulturell verstanden wird. Es müssen auch die „richtigen“ Demagogen zum richtigen Zeitpunkt auftreten, um die Illiberalität voranzutreiben und die Angst vor Marginalisierung zu instrumentalisieren, und natürlich muss auch die Bevölkerung ressentimentwillig genug sein.
Polen und Ungarn sind weniger in Gefahr, in der EU übersehen zu werden als etwa Rumänien oder Litauen, und dennoch sind sie auf dem Weg hinaus aus der Rechtsstaatlichkeit die fortgeschrittensten EU-Mitglieder. Umgekehrt haben wir auch im Zentrum Rechtspopulismus, und in Frankreich lässt der große Erfolg Marine Le Pens sie schon nach dem Schlüssel des Élysée-Palasts greifen.
Trotzdem ist die stiefmütterliche Behandlung des Ostens der Europäischen Union und daraus resultierend die Angst vor Marginalisierung ein reales Problem und nicht nur eine Erfindung von Nationalisten. Sie spielen auf einem Instrument, das sie vorgefunden haben.
„Die Aversionen der Peripherie im Verhältnis zum Zentrum der EU haben das Zeug, in diesen Ländern eine Hinterlassenschaft der Geschichte wieder aufleben zu lassen oder auch neu zu schaffen: einen ethnischen Nationalismus, der von skrupellosen politischen Akteuren aufgegriffen und eingesetzt werden kann, um sich eine Macht zu sichern, die keinen Widerspruch mehr kennt“, schreibt Agnes Heller in einem Essay über das Phänomen des Orbanismus und der von Viktor Orban durchgesetzten „illiberalen Demokratie“.
Ein Demokratieüberdruss ist im Westen zu spüren
Wachsendes Ressentiment gegen Liberalismus und Demokratie sind aber nicht nur eine Erbe der ehemaligen Ostblockstaaten. Der Westen kann sich hier an die eigene Nase packen, oder, um im Bild der Europa regina zu bleiben, wir sollten auch mal Herz und Niere, Mund und Krone prüfen.
Es überrascht mich immer wieder, wenn ich zehn, fünfzehn Jahre alte Reportagen oder Essays lese, die an der repräsentativen Demokratie kein gutes Haar lassen. Was damals als machtkritische dichte Beschreibung durchging, wirkt heute eher wie anti-institutionelle Beschwörung, die einem spätestens, seit die AfD im Parlament sitzt und mit absurden Scheinfragen die Plenarabläufe aufhält, unpassend erscheinen, wenn nicht unangenehm. Die Prozesse zu langsam, der Konsens zu leicht, der Bundesminister zu langweilig bei der Befragung der Bundesregierung im Plenum!, so das Lamento.
Es gehört wesentlich zur Demokratie dazu, dass die Öffentlichkeit Kritik äußert an jenen, die legislative und exekutive Entscheidungen fällen und auch hinterfragt, ob die Strukturen noch mit den Anforderungen der Zeit mithalten, und ebenso gehört es dazu, dass Menschen sich irren, auch jene, die kritisieren und fragen.
Was mich aber erschreckt, ist ein Demokratieüberdruss, der sich nicht nur von rechts einschlich. Man hatte es, so kommt es mir zumindest vor, offensichtlich so gut, dass man leichtfertig zu verspielen bereit war, was es an demokratischen Kontrollfunktionen gibt. Zu viel Gewissheit, zu viel Gleichbleibendes, man war übersättigt.
Dieses Völlegefühl ist etwas anderes als ein unzureichend vollzogener Systemwandel, auf den Viktor Orbán so erfolgreich aufbaut. Trotzdem ziehen die Überdrüssigen am gleichen Strang. Was dabei besonders auffällt, ist das naive Selbstvertrauen Westeuropas, das sich lange immun fühlte gegen antidemokratischen Tendenzen und dadurch seine eigene Verwundbarkeit unterschätzte. Über Immunität haben wir im vergangenen Jahr mehr gelernt, als uns lieb war, und so wissen wir, dass nur eine resistente Mutante kommen muss, und die ganze Herdenimmunität bricht in sich zusammen.
In Deutschland drohen höchstens ein lascher Kanzler oder eine unerfahrene Kanzlerin
Natürlich, die Bundesrepublik steht wenige Monate vor der Wahl nicht unmittelbar vor der Machtübernahme durch Querdenker oder AfD. Es läuft entweder auf einen laschen CDU-Kanzler hinaus oder auf eine grüne Kanzlerin, die derzeit noch im Sinne von „Ich habe wenig Erfahrung, also stehe ich für Erneuerung“ für sich wirbt und Machtpolitik mit Seifenblasen camoufliert. Dass das nicht nur eine gute Empfehlung ist, liegt auf der Hand; Angst vor einer Ökodiktatur im Bundesbullerbü muss dann aber doch niemand haben. Alles easy also?
Das hängt davon ab, wie sich das Kräfteverhältnis innerhalb der EU mittel- und langfristig verändert und damit auch die Landkarte, die wir, knapp fünf Jahrhunderte nach Europa regina, von diesem Kontinent imaginieren. Deutschland droht ganz sicher nicht, in der EU marginalisiert zu werden.
16 Jahre lang hat Merkel alle Krisen mit einem Powernap weggeschlafen
Deutschland ist die EU – so jedenfalls kann es leicht für andere scheinen aufgrund der übermächtigen Wirtschaft, einer EU-Kommissionspräsidentin, einer Regierungschefin, die sechzehn Jahre lang alle Krisen mit einem Powernap wegzuschlafen schien, während um sie herum Amtskollege nach Amtskollege wegbrach. Die Kanzlerinnenschaft Merkels stand für Stärke und Stabilität der Bundesrepublik, zugleich für einen Politikstil, der eher reagierte als agierte, und es war nicht nur eine deutsche Ära, sondern ebenso eine europäische.
Nach Merkel, so darf man spekulieren, wird Stärke und Stabilität Deutschlands ein wenig zurückgehen, was gleichzeitig nötige Erneuerungen in Administration und Gesellschaft voran treiben könnte. Solche Prozesse geschehen nicht über Nacht, und es mag sein, dass die Auswirkungen sich in der nächsten Legislaturperiode noch gar nicht abzeichnen.
Es geht darum, wie Peripherie und Zentrum zueinander stehen
Trotzdem kann man schon jetzt fragen, ob das eher Chance oder Risiko für die EU wäre. Das Paradox ist ja bereits sichtbar: Wenn Deutschland politisch oder ökonomisch ins Straucheln gerät, dann wankt auch die EU, und wenn es weiterhin so stark bleibt, dann droht unter seinem Gewicht so mancher Riss noch tiefer zu werden. Die Forderung nach „mehr Verantwortung“ Deutschlands ist sowohl Resultat wie Camouflage davon.
Im Kern geht es um die Frage, wie Peripherie und Zentrum zueinander stehen und zwar auf drei Ebenen. Die Mittlere blickt auf die EU und ihre Mitgliedstaaten. Auf der regionalen Ebene muss beantwortet werden, wie Großstadt und Provinz den oft als erdrückend empfundenen Bedeutungsüberschuss des urbanen Lebensstils abbauen könnten.
Auf der globalen Eben droht Europa zunehmend peripher werden, auch wenn oft noch so getan wird, als könne man das einfach übersehen und was wir nicht sehen, ist auch nicht real. Stell dir vor, es ist Eurozentrismus und keiner nimmt's mehr ernst.
Keine andere Großmacht verteidigt Menschenrechte so klar
Ist Europa heute eine Königin unter Königinnen oder eine einsame Frau in zerrissenem Kleid? Klar ist, wenn das Projekt EU misslingt, wird Europa eine Vergangenheit haben, aber keine Zukunft. Die Regeln für das einundzwanzigste Jahrhundert werden Länder wie China, Russland, Indien und die USA bestimmen.
Diese Prognose ist nicht neu, erstaunlicherweise scheint das viele in Europa nicht zu beunruhigen. Die einen haben sich ohnehin in einen Nationalismus zurückgezogen und übersehen, dass dieser nur aufgrund der supranationalen EU gut läuft und danach sein relativer Wohlstand auf Raten ausgehen wird. Den anderen ist Europas Stärke aus nachvollziehbaren historischen Gründen sowieso suspekt. Das Problem an ihrer Position ist nur, dass gegenwärtig keine andere Großmacht so klar Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie verteidigt und auch verteidigen kann wie die EU.
In den Startlöchern stehen illiberalen Regierungsformen, oligarchischen Strukturen und regelentbundenem Staatskapitalismus, um ihr Angebot der autoritären Entlastung all jenen zu schicken, die sich mit Freiheit und Verantwortung überfordert und frustriert fühlen. Jeder mag sich selbst überlegen, auf welcher politischen Landkarte es angenehmer ist zu leben.
Nora Bossong