Pandemie beschleunigt Braindrain: Warum polnische Ärzte ihre Heimat verlassen
Niedrige Gehälter, schlechte Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen: Polnische Mediziner suchen Arbeit im Ausland. Nicht selten finden sie einen Job in Deutschland.
Wojciech Kusior hat einen Traum. Der polnische Familienmediziner aus Masuren möchte in Deutschland arbeiten. Am liebsten in Dortmund. Er mag Nordrhein-Westfalen seitdem er vor 30 Jahren nach der Schule ein Jahr lang in Düsseldorf gelebt und gejobbt hat. Gerne wäre Kusior damals geblieben, doch das Leben kam ihm dazwischen. „Leider hat es nicht geklappt“, erinnert er sich.
Kusior studierte in Posen Medizin. Aber statt als Arzt arbeitete er zunächst im landwirtschaftlichen Betrieb seiner Eltern. Inzwischen ist der Mediziner seit zehn Jahren in der Poliklinik einer 4.000-Einwohner-Gemeinde, gut 100 Kilometer nördlich von Warschau, tätig.
Natürlich hat auch er mit Corona zu tun. „Wir erleben im Moment eine Tragödie“, sagt er. Die alte Sehnsucht nach Deutschland treibt ihn noch heute um. Kusior will weg aus Polen. Der 50-Jährige sucht nach einem Tapetenwechsel.
Mehrere Gründe spielen eine Rolle, wie er erklärt, Geld ist einer davon. „Der Verdienst in Deutschland ist höher als in Polen.“ Kusiors Plan auszuwandern, könnten sich bald noch weitere Ärzte anschließen.
Unterfinanzierte Kliniken, hohes Arbeitspensum
Noch mehr als Geld dürfte die Pandemie der Grund sein. Die zweite und dritte Welle haben das Land mit Wucht getroffen. Mediziner, Pfleger und Sanitäter arbeiteten bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit.
„Wir sind einen Schritt davon entfernt, Patienten nicht mehr richtig behandeln zu können“, warnte Ende März Regierungschef Mateusz Morawiecki von der nationalkonservativen PiS-Partei. Anfang April lag der Höchstwert der Neuinfizierten binnen eines Tages bei 35.251.
Nach einem harten Lockdown, um den drohenden Kollaps des Gesundheitssystems zu verhindern, sinkt die Sieben-Tage-Inzidenz nun zwar – aktuell liegt sie bei knapp 200. Doch Corona hat Polens Probleme im Gesundheitswesen schmerzlich vor Augen geführt. Über viele Jahre ist das System ausgeblutet. Krankenhäuser sind unterfinanziert, Patienten müssen lange auf einen Termin beim Spezialisten warten.
Insgesamt fehlen nach Schätzung der Ärztekammer im Land 70.000 Mediziner. Nur 2,4 Ärzte stehen im Schnitt für 1.000 Bürger zur Verfügung. Es ist der niedrigste Wert innerhalb der EU, wie eine OECD-Studie aus dem Jahr 2017 zeigt.
In Deutschland liegt die Quote bei 4,3. Entsprechend höher ist das Arbeitspensum in Polen. Dort erteilt ein Arzt pro Jahr 3.200 Konsultationen, in Deutschland sind es 2.300.
Hunderte Ärzte wandern pro Jahr aus
Die Ausgaben im Gesundheitssektor betragen nur 6,2 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt. Damit liegt Polen EU-weit an drittletzter Stelle. Pro Kopf betrugen die Ausgaben dort im Jahr 2019 knapp 1.500 Euro, Deutschland gibt etwa dreimal so viel aus.
Weil sie im Ausland ein Vielfaches als Lohn erwartete, haben Mediziner jahrelang ihrem Land den Rücken gekehrt. Gesundheitsexperten warnen, dass sich der bestehende Ärztemangel in der Pandemie räche.
Mehr als 20.000 Ärzte sind in den vergangenen 20 Jahren offiziellen Angaben zufolge ausgewandert, beschleunigt durch den EU-Beitritt 2004. Allerdings gingen zuletzt immer weniger.
Bis zu 4.000 Medizinabsolventen beenden jedes Jahr die Universität. Mehrere Hundert von ihnen verlassen laut Ärztekammer ihre Heimat in Richtung Westen. Viele wollen ins englischsprachige Ausland, nach Frankreich oder Skandinavien, wo sie am meisten verdienen können.
„Kaum jemand will heute noch nach Deutschland“, sagt der Betreiber einer Vermittlungsagentur für Ärzte, der nicht mit Namen zitiert werden möchte. Er habe zwar versucht, mehr Polen nach Deutschland zu vermitteln, „aber es gab nur wenige Interessierte“, erklärt er. „Vor 20 Jahren war das anders.“
Forscher warnen vor personeller Katastrophe
Mit Corona könnte sich das jetzt wieder ändern. Neun Prozent der Ärzte planen zu emigrieren, heißt es in einer Studie der Universität Krakau. „Die Forschungsergebnisse künden eine personelle Katastrophe im Gesundheitswesen in der Zeit nach der Pandemie an“, warnen die Forscher.
Von Ärzten, die ihrem Land den Rücken kehrten, profitierten nicht selten deutsche Kliniken in Grenznähe, die ihrerseits über Ärztemangel klagen. Oft machen Polen dort einen großen Teil der Belegschaft aus.
„Wir sind auf polnische Kollegen angewiesen“, sagt etwa Daniela Kleeberg, Standortleiterin des Malteser-Krankenhauses St. Carolus in Görlitz, an dem ein Drittel der Belegschaft aus Polen stammt.
Viele Einrichtungen benötigten die Unterstützung, erklärte kürzlich auch die Sächsische Landesärztekammer. „Das wurde vor allem sehr deutlich, als im letzten Jahr die Grenzen zu den Nachbarländern Tschechien und Polen geschlossen wurden“, sagte Ärztekammer-Präsident Erik Bodendieck. „Ohne eine Ausnahmeregelung für den medizinischen Bereich hätten manche Stationen geschlossen werden müssen.“
Wohnen in Polen, arbeiten in Deutschland
Die Malteser in Görlitz haben zuletzt im Frühjahr um Personal geworben. Plakate hingen an den Ausfahrtsstraßen der Stadt, auch in Richtung Polen. Ihr Krankenhaus sei attraktiv, weil polnische Mitarbeiter und ihre Familien im Nachbarland leben und etwa ihre Kinder in den polnischen Kindergarten schicken könnten, während sie selbst über die Grenze pendeln, sagt Kleeberg.
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Knapp 2.000 polnische Ärzte arbeiten der Bundesärztekammer zufolge in Deutschland, mehr als die Hälfte davon in Krankenhäusern.
Nicht immer geht es den Auswanderern vorrangig ums Geld. Für viele, die ihren Facharzt absolviert haben, sei es heute nicht mehr finanziell attraktiv in ein anderes Land zu gehen, sagt Dawid Gocal, Pneumologe und Oberarzt am St. Carolus. „Die Löhne liegen noch unter deutschem Niveau, aber sie passen sich an, man kann davon leben. Früher war das nicht möglich.“
Wer nach einem Ausbildungsplatz für eine Spezialisierung sucht, werde dagegen leichter in der Ferne fündig, sagt Gocal, der seit 2004 in Deutschland arbeitet. „In Deutschland gibt es mehr Krankenhäuser, die Spezialwissen vermitteln können.“
Niedrige Gehälter und kaum Aufstiegschancen
Jowita Zwierzanska kann das bestätigen. Die 38-Jährige arbeitet als Oberärztin in der Neurologie im Städtischen Klinikum Görlitz. 2010 hatte sie zunächst ihre Facharztausbildung in Breslau begonnen. Dort wuchs jedoch schnell die Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen.
Routine-Prozeduren wie Ultraschall oder EKG waren für sie eine Seltenheit. Nur wenige Ärzte in der Klinik durften sie ausführen. Patienten müssen viele Leistungen privat bezahlen. Ärzte nutzen das, um ihr Gehalt aufzubessern. Der Durchschnittslohn eines Arztes beträgt 2.200 Euro im Monat.
Erfahrene Ärzte hätten manchmal wenig Interesse daran, in den Nachwuchs viel Zeit zu investieren, bemängelt Zwierzanska, denn damit würden sie sich selbst mehr Konkurrenz schaffen. „Dieses System wollen sie erhalten, denn vieles läuft über die privaten Praxen ab“, sagt Zwierzanska.
2017 streikten Ärzte landesweit, woraufhin die Regierung die Staatsausgaben für den Gesundheitsbereich und die Gehälter der Mediziner etwas anhob. Doch noch immer gebe es große Unterschiede bei den Gehältern zwischen Deutschland und Polen, erklärt Zwierzanska.
Kritik an auswandernden Ärzten
„Manche Ärzte verdienen sehr gut, andere sehr wenig“, sagt auch Kusior. Einige Kollegen verdienten „zum Teil auch viel mehr als in Deutschland“ – vor allem in den Bereichen, in denen es an Spezialisten fehle. „Die nutzen den Mangel dann aus“, sagt er und findet das, „was in Polen geschieht, nicht ethisch“.
Zwierzanska blieb nur sechs Wochen in Breslau, nachdem ihr ein Kollege von einer Stelle in Görlitz berichtet ha!e. „Ich wollte lieber in Polen arbeiten, aber ich sah keine andere Chance.“ Zehn Kollegen aus ihrem Jahrgang gingen ebenfalls nach Deutschland.
Die Auswanderer sind allerdings auch Kritik ausgesetzt. Als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der zweiten Corona-Welle Warschau Hilfe anbot, erwiderte eine Abgeordnete der PiS-Partei: Wenn Deutschland helfen wolle, sollte es doch die polnischen Ärzte aus dem Nachbarland zurückschicken.
Zwierzanska hat solche Vorwürfe schon vor Jahren gehört: Sie würde ihr Land verraten und nur dem Geld hinterherlaufen, sagten Kollegen damals. Dabei hätte sie von umgerechnet 900 Euro brutto nicht leben können, erwidert sie.
Polen wirbt Ärzte aus Belarus und der Ukraine an
Um die Abwanderung zu stoppen, müssten „die Bedingungen verändert werden“, sagt die polnische Ärztin. Sie meint nicht nur die Bezahlung, sondern die Ausbildung sowie Investitionen in den Gesundheitssektor.
Außerdem wünscht sie sich einen Umgang mit Kollegen auf Augenhöhe. Zu oft herrsche in polnischen Kliniken eine starke Hierarchie.
[Alle aktuellen Entwicklungen in der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]
„Der Staat investiert Geld und Energie in die Ausbildung, hat aber am Ende nichts davon“, sagt Kusior. Es sei zwar nicht gut für das Land, aber verständlich, wenn jemand ins Ausland möchte. „Der Staat verliert“, so Kusior. Aber für den Braindrain sei die Regierung selbst verantwortlich. „Wir leben in einem offenen Europa.“
Polen wirbt mittlerweile selbst Ärzte aus den Nachbarländern an, um Engpässe zu kompensieren. Seit Januar gilt eine vereinfachte Zulassungsprozedur für Mediziner aus Nicht-EU-Staaten.
Das Gesundheitsministerium hofft vor allem auf Ärzte aus der Ukraine sowie aus Belarus.
Für sie war es zuvor schwierig, mit dem ausländischen Abschluss in Polen eine Approbation zu erhalten. Mehr als 1.000 Ärzte will die Regierung nun anlocken.
Ein möglicher Anreiz für sie sollen die in Polen höheren Gehälter sein. Wie viele deswegen kommen, ist fraglich. Viele dürfen gleich weiter westlich ziehen, wo sie mehr verdienen.
Die Recherche wurde unterstützt von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit