„Anne Will“-Debatte über vierte Corona-Welle: Ist es richtig, die Tore nur noch für Geimpfte zu öffnen?
Auch weil der Leichtsinn um sich greift - Anne Will lud trotz des internationalen Gipfel-Marathons der G 20 zum bundesweit akuten Thema Corona ein.
Auch die noch amtierende Kanzlerin äußert ihre Sorge in Sachen Corona und mahnt zur Besonnenheit. Gemeinsam mit Olaf Scholz stützt sie die Forderung von Gesundheitsminister Spahn nach einem neuen Bund-Länder-Gipfel. Anne Wills Sonntagsgäste sollten Antworten suchen auf die Frage: „Steigende Neuinfektionen, Sorge wegen Impfskepsis – Hilft oder schadet mehr Druck auf Ungeimpfte?“
Gefühlt ist die Pandemie für viele vorüber, vorbei ist sie keineswegs. Obwohl die Zahl der stationären Patienten gesunken ist – der neue Begriff lautet „Hospitalisierungsinzidenz“ – steigt die Impfquote nicht schnell genug. Zuletzt meldete das Robert-Koch-Institut 16.887 Neuinfektionen, 3155 mehr als in der Woche davor. Wills Gast Karl Lauterbach hatte am Tag schon das Wiedereröffnen der Impfzentren gefordert.
Ungeachtet solcher Sorgen wird in Clubs wieder getanzt, Stadien sind rappelvoll, in vielen Restaurants fragt kein Kellner mehr nach Luca-App oder Impfpass, maskentragende Menschen drängen sich neben solchen ohne. Eine Gruppe von „KünstlerInnen und ExpertInnen“ verlangt, dass „alles auf den Tisch“ komme, „im Dialog über die Corona-Krise“, und fälschlich suggeriert, der Öffentlichkeit würden willentlich wichtige Informationen vorenthalten.
Paradoxe Lage, Diskussion tut Not
So tagte der Will-Salon der ARD zum Thema, der nicht nur in dieser Causa mit dem ZDF-Talk von Markus Lanz wetteifert. Lauterbach, der Epidemiologe, dessen in der Krise wachsende Expertise so oft schon Verdrängern das Vergnügen nahm, kommt als möglicher, künftiger Gesundheitsminister in Frage. Mit seinem Plädoyer für das Boostern, die dritte Corona-Impfung zur Auffrischung, stärkt der SPD-Abgeordnete Noch-Minister Spahn den Rücken.
Empfehlungen für dritte Impfdosen gelten für alle ab 70, alle mit Immunschwächen, Bewohner und Personal von Pflegeheimen, sowie medizinisches Personal mit Kontakt zu Patienten. In vielen Städten, warnte Lauterbach, seien die Kliniken heute wieder „am Limit“. Wo immer möglich müsse die 2G-Regel gelten – Privilegien für Geimpfte und Genesene.
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Wilde Gerüchte treiben jene um, die sich nicht impfen lassen wollen, unter dem Einfluss von Fake News, irrlichternde Grusel-News aus sozialen Netzwerken oder von Sendern wie Russia Today. Geimpft würde man automatisch positiv getestet, könnten Frauen nicht schwanger werden, würden Männer impotent, bekämen Leute Long Covid, wären Naturmedizin unwirksam - und so fort. Alles klar widerlegt, alles dennoch so virulent, variantenreich und putzmunter wie das Virus selbst.
In der „taz“ beschwerte sich unlängst ein Organisator queerer Partys, Corona sei „definitiv ein Mittel für die Politik, den konservativen Blick auf die Gesellschaft zu stärken.“ Schutzmaßahmen seien „benutzt“ worden, um Partys wie seine zu „bekämpfen“. Andere in der Clubszene, so der Bericht, sähen das so drastisch nicht. Heterogen sind die Chöre der Klagenden, sie erklingen von Heilpraktikern bis zu Reichsbürgern, von der Oper bis in die Clubszene der Leute, die Wills Gast Sahra Wagenknecht als „Lifestyle-Linke“ einstufen könnte.
Doch Wagenknecht, Abgeordnete der Linken, will das Impfen keineswegs „moralisch aufladen“, zeigt Verständnis dafür, dass „neuartige Impfstoffe“ Bedenken über Langzeitfolgen auslösen können, und möchte offenbar die Impfskeptiker in der linken Klientel, etwa im Osten Deutschlands, nicht durch „Druck“ verschrecken. Sie selber würde sich „wahrscheinlich“ einen „Totimpfstoff“ verabreichen lassen, sofern es dafür eine „seriöse Zulassung“ durch die EU gebe. Vor allem, so die Ökonomin, gehe es darum, die Kommerzialisierung der Kliniken zu bremsen, sie „nicht kaputtzusparen“.
Karl Lauterbach als Kenner der medizinischen Studien klärte darüber auf, dass Fachleute der weltweit besten Universitäten gerade die inzwischen millionenfach eingesetzten Messenger-Impfstoffe (zu denen Biontech gehört) als sicher erkennen. Es sei eine „Räuberpistole“ den Haftungsausschluss der Hersteller als latenten Hinweis auf Risiken bei Nebenwirkungen zu lesen. Für Nebenwirkungen hafte stets der Staat, wo er Empfehlungen ausspreche. So konnten Wagenknechts Argumente den Eindruck erwecken, von kursierender Pseudowissenschaft beeinflusst zu sein.
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Sachkundig und behutsam intervenierte Christina Berndt, Redakteurin für Wissenschaft bei der Süddeutschen Zeitung, und auch sie wies auf die Erfahrungen in Israel, wo sich nach der dritten Impfung erneut ein deutlicher der Rückgang der Infektionszahlen zeigt. Sorge vor Impfdurchbrüchen seien begreifbar, doch wer trotz Impfung schwer erkranke, sei in der Regel hochbetagt und vorerkrankt. Wagenknecht verschiebe die Risikowahrnehmung, da die Infektion für jede Altersgruppe der Erwachsenen gefährlicher als die Impfung. Jeder, der krank wird gefährde in der aktuellen Lage andere Menschen.
Doch ist es angemessen, den Druck auf Ungeimpfte zu verstärken?
Ist es richtig, wenn Kinos, Konzerte, Clubs und Schwimmbäder die Tore nur Geimpften öffnen, oder wenn gar für ganze Berufsbereiche, etwa in Medizin und Pädagogik, das Impfen Pflicht wird? Wo bleibt die Freiheit?
Marco Buschmann, parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion im Bundestag, schwenkte die Fahne der Freiheit, und hält es mit Spahns Plan, den „pandemischen Ausnahmezustand zu verlassen“ (Spahn), der inzwischen auch von der SPD und den Grünen mitgetragen wird, wonach alle Maßnahmen zum Beginn des Frühlings 2022 enden sollen. Das sei jedoch kein „Freedom Day“, fügte auch Lauterbach an. Gestärkt werden solle das Parlament, so Buschmann, beendet werde „das juristische Konstrukt“, mit dem etwa Lockdowns direkt von der Regierung dekretiert werden könnten.
Gleichwohl, Buschmann will „für die Impfung werben“, zum Selbstschutz und auch „aus Solidarität“. Auf Skeptiker solle man „nicht stigmatisierend“ reagieren, sondern mit Informationsangeboten. Menschen wie die sehr intelligente Frau Wagenknecht wolle er nicht paternalistisch überreden, sei aber überzeugt, „dass sie irrt“.
Wagenknecht räumte ein, sie habe es begrüßt, dass sich ihr 78 Jahre alter Mann Oskar Lafontaine impfen ließ, und auch, dass sie für sich, da sie über fünfzig Jahre alt ist, „Angst“ habe, an Covid zu erkranken. Es sei jedoch eine Frage der „Abwägung“. Stark blieb der Eindruck, dass Wagenknecht, um im impfunwilligen Osten Boden für die Linke gutzumachen, in dieser Frage ihre eigene Intelligenz betrog.