zum Hauptinhalt
Andrea Nahles die SPD führen. Wird sie gewählt, ist sie die erste Frau an der Parteispitze.
© Bernd von Jutrczenka, dpa
Update

Vor dem Parteitag in Wiesbaden: Ist die SPD noch zu retten - von Andrea Nahles?

Die SPD ist auf einem Tiefpunkt angekommen. Sie kämpft um ihre Existenz als Volkspartei. Andrea Nahles verspricht einen neuen Anfang. Die erste Hürde ist der Parteitag am Sonntag.

Wenn Andrea Maria Nahles an diesem Sonntag im Wiesbadener Kongresszentrum als erste Frau an die Spitze der SPD gewählt wird, dann übernimmt sie die wohl schwerste Aufgabe, die derzeit in der deutschen Politik zu vergeben ist. Wie keine andere politische Kraft in der Republik steht die Sozialdemokratie unter Druck. Es geht, das ist den Genossen klar, um die Existenz als Volkspartei. Trotzdem kann Nahles nicht sicher sein, dass sie mit ein starkem Ergebnis gewählt wird. Denn da ist auch noch Simone Lange, die Gegenkandidatin aus Flensburg.

Warum ist die Lage für die SPD so bedrohlich?

Die Umfragewerte der letzten Monate zeigen einen dramatischen Vertrauensverlust. Nach der historischen 20-Prozent-Niederlage bei der Bundestagswahl ist die SPD in der Wählergunst weiter abgesackt. Im aktuellen Deutschlandtrend von infratest dimap liegt sie gerade noch bei 17 Prozent.

Besonders alarmierend aus Genossen-Sicht ist die Lage in Ostdeutschland. Bei der Bundestagswahl fiel die SPD in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern auf den vierten Platz zurück – hinter CDU, AfD und Linkspartei. Und nichts spricht dafür, dass dieser Trend bald gestoppt oder gar umgekehrt werden könnte. Selbst Brandenburg, bislang sozialdemokratische Bastion in den neuen Ländern, ist nicht mehr sicher. Dort liegt nun die CDU mit 23 Prozent gleichauf; die AfD ist auf einen Prozentpunkt herangerückt (22 Prozent).

Hoffnungslos scheint die Situation in Sachsen. Bei der Konferenz der SPD-Fraktionsvorsitzenden von Bund und Ländern Ende vergangener Woche in Wiesbaden machte eine Schreckensmeldung die Runde, wonach die SPD im Freistaat laut einer internen Umfrage nicht einmal mehr mit einem zweistelligen Ergebnis rechnen kann.

Wie gut ist Nahles auf die Herkulesaufgabe vorbereitet?

Kaum jemand ist in der SPD besser vernetzt als die 47-Jährige, kaum jemand hat so viel Führungserfahrung auf verschiedenen Posten. Nahles war Juso-Chefin, Generalsekretärin, stellvertretende Parteivorsitzende und Bundesministerin für Arbeit und Soziales. Seit Herbst führt sie die SPD-Bundestagsfraktion. Als Ministerin erwarb sie sich Respekt über Parteigrenzen hinweg, sogar Unionspolitiker bescheinigten ihr Professionalität, Durchsetzungskraft und Verlässlichkeit. Als Kabinettsmitglied versuchte Nahles auch, ihr Image als schrille Vorkämpferin des linken Parteiflügels zu korrigieren und rückte in die Mitte.

Bei den Wählern scheint das noch nicht ausreichend angekommen zu sein. Kurz vor dem Parteitag traute ihr Infratest Dimap zufolge nur jeder Dritte zu, die Sozialdemokratie wieder zu stärken. Zuversichtlicher äußerten sich die SPD-Anhänger: Immerhin die Hälfte glaubt, dass Nahles die Partei aus Krise führen kann.

Was erwartet die Partei von Nahles?

Profilierung und Erneuerung. Der Widerstand gegen den Eintritt in die große Koalition war in der SPD auch deshalb so stark, weil sie in den vorhergehenden Regierungsbündnissen mit Angela Merkel Glaubwürdigkeit und Unterscheidbarkeit eingebüßt hatte. Nahles verspricht nun mit ihrer Kandidatur, genau das zu verhindern. Als Partei- und Fraktionschefin sei sie nicht in die Kabinettsdisziplin eingebunden, sondern werde ein strategisches Zentrum außerhalb der Regierung bilden, sagt sie. Auch soll sie die Partei erneuern, organisatorisch und programmatisch.

Schwere Defizite hat die SPD nach Einschätzung von Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil bei zwei wichtigen Politikfeldern – der inneren Sicherheit und der Ökonomie. Andere Sozialdemokraten sehen dringenden Korrekturbedarf bei Hartz IV, dem sozialdemokratischen Streitpunkt schlechthin.

Wie ist die Stimmung in der SPD vor dem Parteitag?

Die Sozialdemokraten stehen immer noch unter dem Eindruck der turbulenten Monate seit der Bundestagswahl: Erst schloss die Parteiführung eine große Koalition kategorisch aus – sogar noch nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen. Später schwenkte sie um, erkämpfte mit Mühe in einem Mitgliederentscheid das Ja zur Groko. Parteichef Martin Schulz verlor im Ringen um Regierung und Ministerposten seine Glaubwürdigkeit und sein Amt.

Der Parteivorstand wollte Nahles daraufhin im Hau-Ruck-Verfahren zur kommissarischen Parteichefin machen. Doch damit provozierte die SPD-Führung heftigen Widerstand aus vielen Landesverbänden. Der Hamburger Olaf Scholz wurde deshalb zum Übergangsvorsitzenden bestimmt, Nahles zur Wahl auf dem Parteitag vorgeschlagen. Für Scholz und Nahles muss das ein Warnschuss gewesen sein. In Teilen der Partei hat sich eine für sie gefährliche Stimmung breit gemacht nach dem Motto: „Die da oben machen ohnehin, was sie wollen; unsere Meinung zählt im Zweifel wenig.“

Eine Stimme hat Nahles bereits sicher: Juso-Chef Kevin Kühnert kündigte am Samstag an, sie zur Parteivorsitzenden wählen zu wollen. Damit verband er allerdings einen deutlichen Hinweis: Zur Forderung nach einer Erneuerung der Partei passe die Wahl "auf den ersten Blick natürlich nicht, vielleicht auch auf den zweiten Blick nicht", sagte Kühnert am Samstag im Bayerischen Rundfunk. Nahles sei "natürlich kein neues Gesicht". Entscheidend ist für den Juso-Vorsitzenden jedoch, ob die SPD sich inhaltlich bewegt: "Wir haben immer betont, dass wir die programmatische Erneuerung für das absolute Herzstück halten." Die Sozialdemokraten müssten aufhören, sich "immer auf einzelne Personen zu fokussieren und Wohl und Wehe der SPD ausschließlich von denen abhängig zu machen".

Wie gefährlich kann Gegenkandidatin Simone Lange für die Favoritin werden?

Die Kommunalpolitikerin reitet auf der Anti-Establishment-Welle. Sie verspricht, als Außenseiterin Glaubwürdigkeit für die Partei zurückzugewinnen. Den parteiinternen Wahlkampf führt sie in der Rolle des Opfers einer technokratischen Parteiführung. So klagt sie über Benachteiligung bei ihrer Kandidatur und eine angeblich zu kurze Redezeit beim Parteitag. Inzwischen musste die SPD-Führung klarstellen, dass beide Kandidatinnen gleichlang, jeweils eine halbe Stunde sprechen dürfen.

Dass Lange in Wiesbaden gewählt werden könnte, gilt in der SPD als ausgeschlossen. Aber wenn die Flensburgerin deutlich mehr als ein Viertel der Delegierten überzeugen sollte, würde sie Nahles’ Start erschweren. In der SPD-Führung heißt es, mit einem ein Ergebnis um 80 Prozent könne Nahles sehr zufrieden sein. Bei einer Zustimmung unter 70 Prozent wäre die Autorität der neuen Chefin indes von Anfang an infrage gestellt.

Welche Rolle spielt der bisherige Kurs der SPD in der großen Koalition bei der Wahl der Vorsitzenden?

In der SPD gibt es Unmut über das Vorgehen der Führung, der sich im Wahlergebnis niederschlagen könnte Den harten Kurs des neuen Außenministers Heiko Maas gegen Russland halten etliche Sozialdemokraten von Gewicht für falsch, darunter Parteivize Manuela Schwesig und der Fraktionsvorsitzende im NRW-Landtag, Norbert Römer. Sogar Befürworter der neuen Linie in der Partei beklagen, dass niemand der Partei die neue außenpolitische Linie erklärt habe.

Auch die Hartz-Debatte hat Spuren hinterlassen. Dass der Nahles-Vertraute und Vizekanzler Olaf Scholz die Diskussion über die ungeliebte Sozial- und Arbeitsmarktreform per Interview beenden wollte, hat alten Vorbehalten Nahrung gegeben. Vor allem Vertreter des linken Flügels warnen vor einer Rückkehr zur „Basta-Politik“, mit der einst Gerhard Schröder die Hartz-Reform durchdrückte. Für Unmut bei den Parteilinken sorgt auch der Satz von Generalsekretär Lars Klingbeil, die Agenda-2010-Debatte „langweile“ ihn.

Dann ist da noch die Europapolitik und die Frage, ob die Bundesregierung Geld ausgeben will, um Europa zu reformieren, wie das Emmanuel Macron vorschlägt. Finanzminister Scholz verbreitet zu diesem Thema vor allem eine Botschaft: Ich bin der Hüter des deutschen Geldes und will das bleiben. Die strikte Haushaltsdisziplin („schwarze Null“), die er verspricht, ist in der SPD umstritten. Dazu kommt: Noch vor wenigen Wochen hatte die SPD es als großen Sieg gefeiert, dass sie ein Bekenntnis zur Reform Europas im Koalitionsvertrag durchsetzen konnte. Genau daran dürfte am Sonntag in Wiesbaden der Mann erinnern, den Nahles nun beerben soll. Martin Schulz hält auf dem Parteitag eine Abschiedsrede – zur Zukunft Europas. (mit AFP)

Der Tagesspiegel kooperiert mit dem Umfrageinstitut Civey. Wenn Sie sich registrieren, tragen Sie zu besseren Ergebnissen bei. Mehr Informationen hier.

Zur Startseite