Lage in Afghanistan: In diesem Jahr bereits 300.000 Vertriebene mehr
SPD fordert Aussetzung der Abschiebungen nach Afghanistan - das Auswärtige Amt beschönige die Lage, meint ein Fachmann.
Der migrationspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Lars Castellucci, will erreichen, dass vorerst niemand mehr nach Afghanistan abgeschoben wird. „Angesichts der Sicherheitslage bleibt uns keine andere Wahl, als die Abschiebungen nach Afghanistan auszusetzen“, sagte er dem „Spiegel“ am Wochenende. Zuvor hatte die afghanische Regierung darum gebeten. Schweden, Norwegen und Finnland haben die Abschiebungen bereits ausgesetzt, Deutschland nicht.
In Afghanistan überrennen die Taliban derzeit Provinz für Provinz; allein seit Januar wurden nach Angaben des UN- Flüchtlingshilfswerks UNHCR 295 000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben und sind Flüchtlinge im eigenen Land (Stand 19. Juli).
Taliban kontrollieren mehr als die Hälfte der Distrikte
Es sei auch eine moralische Verpflichtung des Westens, den Flüchtlingen zu helfen, sagte Castellucci. Die EU-Staaten müssten zumindest einige Schutzsuchende aus den Nachbarländern oder der Türkei ausfliegen. Nur so könne man sicherstellen, dass die Länder in der Region ihre Grenzen offen hielten.
Die Bundeskanzlerin hatte letzte Woche Ortskräften, die für die Bundeswehr oder deutsche Polizei in Afghanistan gearbeitet haben, Hilfe zugesichert. Bisher haben etwa 490 von ihnen Aufnahmezusagen erhalten; zusammen mit ihren Angehörigen handelt es sich um etwa 3000 Menschen.
Erst vor wenigen Tagen hatte ein Lagebericht des Auswärtigen Amts heftige Kritik des Afghanistan-Experten Thomas Ruttig nach sich gezogen. Unter dem Titel „Gefährlich geschönt“ unterzog Ruttig, einst stellvertretender EU-Sondergesandter für Afghanistan und Mitbegründer und Kodirektor des unabhängigen Think Tanks Afghanistan Analysts Network, den Bericht einer scharfen Analyse.
Der Bericht, der nach dem Willen der Bundesregierung als Grundlage für Asyl- und Abschiebeentscheidungen dient, enthalte „an mehreren Stellen veraltete oder falsche Behauptungen“ und beschönige die Sicherheitslage. Schon dass er „Stand Mai“ angebe, sei problematisch: Anfang Mai hätten die Taliban 32 Distrikte des Landes kontrolliert, Ende des Monats waren es bereits 200 der 388 Distrikte.
Das AA unterschlage den Erkenntnisstand der Vereinten Nationen über zivile Opfer in den ersten drei Monaten 2021 und schreibe über „starke regionale Unterschiede“ in der Sicherheitslage, die Abschiebungen in bestimmte Gebiete möglich machten. Tatsächlich seien aber nur wenige Randgebiete Afghanistans von Kämpfen verschont.
Den Bericht hatte das AA als Verschlusssache qualifiziert; die „taz“ hatte ihn sich beschaffen können. Der Text enthält aber auch die Einschätzung, dass in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 mehr Journalisten, Menschenrechtler und andere, die für ein liberales Afghanistan eingetreten sind, getötet wurden. Für sie gebe es im Prinzip nirgendwo im Land mehr einen sicheren Ort. Auch die Verluste der staatlichen Sicherheitskräfte im ersten Quartal dieses Jahres waren laut Bericht deutlich höher als im Vorjahr.
Deutscher Anteil am UN-Programm "geradezu lächerlich"
Ruttig hatte bereits im Frühjahr für den Tagesspiegel eine ernüchternde Beschreibung dessen geliefert, was der Westen nach seinem Abzug hinterlässt: „Der Ende 2001 auf der Bonner Afghanistan- Konferenz vereinbarte Wiederaufbau wurde immer mehr dem Militäreinsatz untergeordnet. Die Milliardenzuschüsse aus den truppenentsendenden Ländern befeuerten eine Warlord-Kaste, die die Hilfsgelder aufsaugte und unter den Augen des Nato-Militärs mit Bestechung und Waffengewalt die neuen, demokratischen Institutionen kaperte.“
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Erst das Engagement der USA und ihrer Nato-Verbündeten habe die Korruption gefördert, so Ruttig. Die Taliban könnten jetzt mit einer schwachen Regierung nach ihren Bedingungen verhandeln. Den raschen und bedingungslosen Rückzug aus Afghanistan hatte US-Präsident Biden im April angekündigt.
SPD-Politiker Castellucci nannte den deutschen Anteil an UN-Resettlements von 5000 Menschen jährlich – darunter wenige Afghanen – „geradezu lächerlich“ und will ihn mindestens verdoppeln. Mitte Juli hatte die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl erneut einen sofortigen Abschiebestopp gefordert. Die Abschiebewünsche aus der deutschen Politik seien unverantwortlich, sagte Geschäftsführer Günter Burkhardt. (mit kna, dpa)