Zuviel Geld für die falschen Leute: Die Nato hat die Warlords in Afghanistan gestärkt – nicht die Demokratie
Der Vorrang des Militärischen hat den Westen falsche Bündnisse eingehen lassen. Welche Lehren sich ziehen lassen. Ein Gastbeitrag.
Thomas Ruttig ist Co-Direktor des Afghanistan Analysts Network (Kabul/Berlin).
Am 14. April zog Präsident Joe Biden einen Schlussstrich unter das US-Engagement in Afghanistan. Der militärische Rückzug ist nicht mehr an ein Friedensabkommen mit den Taliban gekoppelt.
Dass Biden den Termin unilateral nach hinten verschob – erst auf den symbolischen 11. September, nun auf den Unabhängigkeitstag 4. Juli – lieferte den Aufständischen den Vorwand, den stotternden Friedensprozess vorläufig ganz auf Eis zu legen.
Doch was bedeutet das für die Zukunft des Landes? Das Schreckensszenario, dass die Taliban sofort militärisch die Macht übernehmen, ist nicht unausweichlich. Denn weitere Gespräche schließen sie nicht aus – und immerhin stehen ihnen 350 000 Bewaffnete gegenüber.
Zudem hat Washington der Regierung in Kabul weitere Militärhilfe zugesichert. Die Taliban könnten nach dem Truppenabzug wieder in innerafghanische Gespräche einsteigen, aber zu ihren Bedingungen.
Der Wiederaufbau wurde immer dem Militäreinsatz untergeordnet
Das hätte den Vorteil für sie, dass sie es mit einer schwachen Regierung zu tun haben. Sie ist von ethnisch untersetzten Fraktionsstreitigkeiten zerrissen und von Selbstbereicherung geprägt, was verhindert, dass sie sich der Überwindung der Armut in der Bevölkerung widmet. Aufgrund serienmäßig manipulierter Wahlen fehlt ihr die Legitimität. Die US-Verhandlungen mit den Taliban über den Kopf von Präsident Aschraf Ghani hinweg unterminierten sie weiter.
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Ghanis Regierung steht aber nicht deshalb auf tönernen Füßen, weil sich die einheimischen Eliten von Anfang an „korrupt und kleptokratisch“ verhalten hätten und “ein hoffnungsloser Fall“ gewesen seien, wie es in Analysen zu lesen war. Im Gegenteil: Gerade die Korruption ist Ergebnis des US/Nato-geführten Afghanistan-Einsatzes.
Der Ende 2001 auf der Bonner Afghanistan-Konferenz vereinbarte Wiederaufbau wurde immer mehr dem Militäreinsatz untergeordnet. Die Milliardenzuschüsse aus den truppenentsendenden Ländern befeuerten eine Warlord-Kaste, die die Hilfsgelder aufsaugte und unter den Augen des Nato-Militärs mit Bestechung und Waffengewalt die neuen, demokratischen Institutionen kaperte.
Die meisten Mittel kamen aus Washington. Den US-Kommandeuren in den Provinzen standen Fonds von jährlich teilweise bis zu einer Milliarde Dollar zur Verfügung, die sie persönlich vergeben konnten – ohne Recht auf Rückgabe, sollten sich nicht genügend sinnvolle Projekte finden.
Die örtlichen Warlords wussten Rat, denn nebenher sind sie auch Geschäftsleute und dominieren den Privatsektor. Verwandte mit Bau- oder Transportfirmen, manchmal als Hilfsorganisationen getarnt, erhielten als Monopolisten zum Teil über Jahre Milliardenaufträge für den Auf- und Ausbau von Basen und deren Belieferung mit Munition, Treibstoff und Lebensmitteln. Nebenher setzten sie Entwicklungsprojekte um.
Die Warlords, wurden die Hauptpartner der Nato-Kontingente. Deren Gelder machten sie unabhängig von Kabul. Gleichzeitig leitete im Nato-Hauptquartier das US-Militär, und nicht zivile Fachleute, ein Programm zur Korruptionsbekämpfung.
Über Jahre flossen diese Gelder vor allem in Gebiete, in denen die Taliban wieder aktiv wurden. „Geld als Waffe“ hieß das, oft mit absurden Folgen. Dorfgemeinschaften legten zusammen, um sich einen Granatwerfer anzuschaffen und damit den nächstgelegenen Stützpunkt zu beschießen, in der Hoffnung, als Problemgebiet eingestuft zu werden und Projektgelder zu erhalten.
Der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr kostete 12,5 Milliarden Euro. Die Bundesregierung verkaufte ihn in ihrer Öffentlichkeitsarbeit lange als „Technisches Hilfswerk (THW) in Uniform“, anstatt die Aufbauarbeit Zivilisten zu überlassen. Für die inzwischen geschlossene Außenstelle in der Provinz Badachschan heuerte die Bundeswehr eine örtliche Miliz mit Verbindungen in den Drogenhandel als Schutztruppe an. Als man es merkte, war das Abhängigkeitsverhältnis schon zu stark, um es gefahrlos aufzulösen.
Das westliche Militär gefiel sich in einer neuen politischen Rolle
Auch am ersten Bundeswehrhauptstandort Kundus kungelte man mit dem örtlichen Gouverneur und Warlord, der ein noch größerer Akteur im Drogenhandel war. Die Truppe patrouillierte durch blühende Opiummohnfelder, besaß aber kein Mandat, diese zu zerstören, währenddessen in Berlin Reden über die Bekämpfung des Drogenhandels gehalten wurden.
Offenbar begriffen die Militärs erst vor Ort, dass nicht die Taliban, sondern ihre eigenen Verbündeten den Großteil der Gewinne daraus einstrichen. Folglich stieg Afghanistans Produktion des Heroin-Rohstoffs Opium unter den Augen der Nato in immer neue Höhen.
Oft hört man aus Militärkreisen, das alles seien ja Entscheidungen der Politik gewesen seien und man trage deshalb dafür nicht die Verantwortung. Das ist nur teilweise korrekt. Das Militär gefiel sich schnell in seiner neuen politischen Rolle, zudem es im Rahmen der regierungsamtlichen Doktrin der zivil-militärischen Kooperation schon angesichts der sehr viel geringeren Zahl von Diplomaten und Entwicklungsleuten de facto oft die Koordination übernahm.
In Kabul belagerten Uniformierte aller Farben die Abgeordneten des 2005 erstmals gewählten Parlaments, marginalisierten die wenigen Diplomaten und drängten den Abgeordneten zum Teil regelrecht Gelder auf. Gleichzeitig weigerte sich die EU, ein Unterstützungsprogramm für die Parlamentarier:innen aufzustellen, um sie vom Einfluss der Warlords unabhängig zu machen – zu teuer.
Zu Beginn der Intervention waren die Afghanen offen für einen Paradigmenwechsel
Gerade im Parlament, in neuen Gruppen und Parteien sowie der Zivilgesellschaft gab es zu Beginn der Intervention 2001/02 hinreichende gesellschaftliche und politische Voraussetzungen für einen politischen Paradigmenwechsel in Richtung einer afghanischen Demokratie. Nach drei repressiven Regimen – Kommunisten, Mudschaheddin und Taliban – waren die Afghanen dafür reif.
Diese Ansätze wurden aber mit den Nato-Geldern und durch die Kooperation mit den Warlords und den neuen Eliten unter Präsident Hamed Karsai, die vor allem an der Macht und höchstens an einer Fassadendemokratie interessiert waren, untergepflügt.
Selbst wenn es doch noch zu Verhandlungen zwischen den Taliban und den anderen afghanischen Fraktionen kommen sollte, wird das Ziel keine Demokratisierung sein. Als die Afghanistan-Direktorin der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, Patti Gossman, die zahlreichen Warlords in der Delegation sah, welche die Regierung in Kabul zu Gesprächen mit den Taliban schicken wollte, kommentiert sie sarkastisch, da könne man gut auch gleich den Internationalen Strafgerichtshof hinzubitten.
Sollten sich aber nicht einmal Warlords und Taliban einigen können, könnte das zu einem neuen Fraktionskrieg führen. In Washington, Berlin oder Brüssel könnte man dann sagen, dass die afghanischen Eliten die auf absehbare Zeit letzte Chance auf Frieden verspielt hätten. Mitverantwortlich wäre man aber auch dort.
Thomas Ruttig