Die EU und die Flüchtlinge: Planen für den Massenexodus aus Afghanistan
Viele Anzeichen deuten daraufhin, dass Hunderttausende von Afghanen vor der Gewalt in ihrem Land fliehen könnten. Die EU sollte schnell reagieren, sagen Politiker und Experten.
Österreichs Kanzler Sebastian Kurz gab sich alle Mühe, seinem Ruf als Vertreter einer harten Migrationspolitik gerecht zu werden. Mit einer Art Weckruf mahnte der ÖVP-Politiker am Sonntag die EU, sich auf den Ansturm von Flüchtlingen aus Afghanistan vorzubereiten. Der Abzug der westlichen Truppen aus dem Land werde „zu Migrationsströmen führen", sagte Kurz der „Bild“-Zeitung. Die Probleme Afghanistans könnten nicht dadurch gelöst werden können, dass Deutschland und Österreich wie 2015 massenhaft Menschen aufnehmen. Er sei daher „sehr froh“, dass sich die Linie gegenüber der ungesteuerten Zuwanderung des Jahres 2015 in Europa und Deutschland geändert habe.
„Wir müssen als Europäische Union jetzt schon im Sommer aktiv werden, um zu verhindern, dass es wieder ähnliche Zustände gibt wie damals“, verlangte der Kanzler und kündigte eine Fortsetzung seiner konsequenten Abschiebepolitik an. Wenn Menschen fliehen müssten, dann halte er „Nachbarstaaten, die Türkei oder sichere Teile Afghanistans definitiv für den richtigeren Ort“. Mehr Flüchtlinge aus Afghanistan würden eine neue Qualität der Gewaltkriminalität provozieren, warnte der konservative Politiker und verwies auf eine „Häufung von Gewaltverbrechen (...) in gewissen Gruppen“ und einen Sexualmord an einem 13-jährigen Mädchen in Wien, für den Afghanen verantwortlich gemacht werden.
Mehr Zivilisten als je werden in Afghanistan Opfer von Gewalt
Tatsächlich gibt es viele Indizien dafür, dass schon jetzt mehr Menschen aus Afghanistan in Nachbarländer und vor allem durch den Iran in die Türkei fliehen und sich ihre Zahl erheblich steigern könnte, wenn die Taliban noch mehr Provinzen unter ihre Kontrolle bringen. Die Zahl der zivilen Opfer in dem Land hat mit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen ein Rekordniveau erreicht. Allein im Mai und Juni wurden nach einem Bericht der Vereinten Nationen 2392 Zivilisten verwundet oder getötet - so viele wie noch nie seit Beginn der UN-Aufzeichnungen 2009.
Noch geht es nur um Erwartungen, nicht um Tatsachen. „Es gibt Frühindikatoren, wonach die Zahl der Flüchtlinge aus Afghanistan in diesem Sommer bei zunehmender Gewalt steigen wird“, sagt Graeme Smith, Afghanistan-Experte beim Londoner Thinktank Overseas Development Institute (ODI): „Aber es werden noch einige Monate vergehen, bevor wir die Wirkung der zunehmenden Destabilisierung des Landes erkennen können.“ ODI-Experten betreiben ein Monitoringsystem für Flüchtlinge, das Vorortmessungen und Satellitendaten nutzt.
Obwohl noch nicht feststeht, ob es zu einem Massenexodus aus Afghanistan kommen wird, soll sich die EU nach Meinung von Gerald Knaus vorbereiten. Der Gründer des Thinktanks European Stability Initiative schlägt andere Lösungen als Kurz vor. Er erinnerte am Montag im Bayerischen Rundfunk daran, dass nach dem Ende des Vietnamkriegs Hunderttausende versucht hatten, das Land auf dem Seeweg zu verlassen, und erst dann eine Koalition der Willigen beschloss, diesen Flüchtlingen gemeinsam zu helfen. Zuvor hatten die Soldaten dieser Länder in Vietnam gekämpft.
Rufe nach Abschiebungen helfen oft nicht weiter
Alle Staaten, „die 20 Jahre in Afghanistan gekämpft haben, dürfen nun ihre Verantwortung nicht abgeben“, forderte Knaus. Gemeinsam sollten sie afghanischen Flüchtlinge in Erstaufnahmeländern helfen. vor allem in der Türkei, in der schon heute vier Millionen Vertriebene aus anderen Ländern lebten. Eine Unterstützung für Flüchtlingsprojekte in der Türkei, in der die Stimmung gegenüber Flüchtlingen zu kippen drohe, durch einen neuen, Flüchtlingspakt mit der EU in Milliardenhöhe und durch weitere Länder sei schließlich „auch im Interesse der Europäer“.
Auch Migrationsexpertin Victoria Rietig von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) empfiehlt „mehrjährige Pakte“ zur Unterstützung afghanischer Geflohener in anderen Ländern, Programm zur Aufnahme anerkannter Flüchtlinge („Resettlement“) und eine Reform des EU-Asylsystems. Solange die Reform auf sich warten lasse, sollten sich handlungsbereite EU-Staaten zusammentun, um gemeinsam neue Lösungen auszuprobieren.
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Mit Blick auf die Forderungen von Kanzler Kurz sagte Rietig, statt „Panikmache“ seien „solide Strategien zum Umgang mit Schutzsuchenden“ nötig. Der Ruf nach nach konsequenteren Abschiebungen sei zwar eine oft zu hörende "klassisch konservative Forderung". Leider hätten die politischen Lösungsvorschläge, die dafür präsentiert würden wie etwa die Ausweitung von Abschiebehaft oder mehr Sanktionen für Ausreisepflichtige) aber "oft wenig Auswirkungen auf die tatsächliche Zahl von Abschiebungen". Der Grund dafür sei: "Die Abschiebehindernisse liegen woanders", etwa in der fehlenden Bereitschaft von Herkunftsstaaten, eigene Bürger zurückzunehmen.