Nachruf auf Michael Jürgs: In Ausübung seiner Berufung
Michael Jürgs ist tot. Bauchspeicheldrüsenkrebs. Wahrscheinlich erwartet der große Journalist zu dem Krebs jetzt eine Recherche.
Es ist geschehen. Er wird nie mehr anrufen, mailen, SMS schicken. Aufmuntern, ermuntern, kritisieren, aber sofort einen Vorschlag machen. Zum Bessermachen, nicht besserwissen. Er mochte den Satz: Kritik ist konstruktiv, wenn sie konstruktiv ist. Von wegen banal – existenziell ist das. Und er war so, Michael Jürgs. Gott, wird er fehlen.
Über Gott und die Welt konnte man mit ihm reden. Die Welt, wie sie ist und sein soll sowieso. Auch da hatte er Verbesserungsvorschläge. Umso schöner wäre es zu wissen, was Gott jetzt sagt, über ihn und über die Welt. Von hier aus kann man das nicht recherchieren. Das muss jetzt MJ machen. Wenn es einer schaffen kann, Gott zum Reden zu bringen und das anschließend auch noch aufzuschreiben, dann er.
Ein Leben für den Journalismus: Am 4. Mai 1945 wurde Jürgs in Ellwangen geboren. Gestorben ist er in der Stadt, die er liebte, in Hamburg. Er studierte Politik, Geschichte und Germanistik in München, brach das Studium aber ab und volontierte stattdessen bei der Münchner Abendzeitung. Mit 23 Jahren wurde er Chef des Feuilletons. 1973 wechselte Jürgs in die Entwicklungsabteilung von Gruner und Jahr, 1976 wurde er Ressortleiter Unterhaltung beim „Stern“, 1986 dessen Chefredakteur neben Heiner Bremer und Klaus Liedtke. 1990 wurde er von Gerd Schulte-Hillen aus Verärgerung über die Titel-Schlagzeile „Sollen die Zonis bleiben, wo sie sind?“ entlassen. Später wollte er ihn zurückholen, aber Jürgs wollte nicht.
Sachbücher und Biografien. Und Bestseller
Von 1992 bis 1994 war er Chefredakteur bei Tempo. Jürgs moderierte auch die NDR Talk Show. Es folgten Sachbücher und Biografien. Viele wurde zum Bestseller und verfilmt. Dazu war er Koautor vieler TV-Dokumentationen und schrieb für mehrere Zeitungen, nicht zuletzt für den Tagesspiegel. Sein letzter Text bei uns: „Heimat Europa – was jetzt gegen Rechtspopulismus hilft.“
„Jungs“, hatte er kürzlich noch gemailt, „Ihr müsst das ohne mich schaffen.“ Gemeint war die Feier beim Theodor-Wolff-Preis, wo er gefeiert wurde. Wo sein lebenslanger Freund Michael Naumann, Ex-„Zeit“-Chef und der erste deutsche Kulturstaatsminister, in der Laudatio fand, dass er ihn für seinen Geschmack zu spät bekomme. Nur mal so: Naumann hat einen guten Geschmack. Aber ganz zu spät kam die Ehrung gottlob nicht. Das ist das einzig Tröstliche.
Auf ihn war Verlass
Und: dass er uns da hätte sehen wollen. Was auch eine Auszeichnung ist. „Sie können mich besuchen – wenn es mir besser geht. Im Moment geht es gerade nicht.“ Der Raubauz, der er sein konnte, aber doch nicht war. Dafür ein Herr, old fashioned im Benimm, ein bisschen Lord, aber ohne Dünkel. Witzig, frech, direkt, warmherzig. Immer warmherzig. Fähig zu Komplimenten, ja Galanterie, mit einer leisen ironischen Note – das muss einer auch erst einmal können. Und diskret, verschwiegen, wenn es sein sollte. Auf ihn war Verlass.
„Die Umschreibung unseres geliebten Berufes als vierte Macht war mir stets zu martialisch. Jetzt aber, in Zeiten, da Barbaren unsere Zivilgesellschaft attackieren und vor Mord nicht zurückschrecken, ist es der passende Begriff.
"Wir sind Volkes Stimme. Nicht die anderen"
Den Feinden der Demokratie, auf der Straße oder im Netz, ist zu begegnen mit aller Macht des Staates, aber auch mit unseren eigenen Waffen – Wörtern und Worten. Die werden gelesen. Analog wie digital. Lokal wie regional wie überregional. Wir sind Volkes Stimme. Nicht die anderen. Und wir sind die Mehrheit.“
Das war seine Antwort auf die Verleihung des Theodor-Wolff-Preises. Es ist ein Vermächtnis. Wir werden es in Ehren halten. Michael Jürgs starb in Ausübung seiner Berufung.
So würdigten Stephan-Andreas Casdorff (CAS) und Lorenz Maroldt (LOM) ihn anlässlich des Theodor-Wolff-Preises für sein Lebenswerk:
„Sehr gut. Auch richtig verkauft auf Seite eins.“
„Die heutige Zeitung zeigt eine beispielhafte moralische Haltung UND führt den Magazinmachern vor, dass es zwar eine Krise der Medien gibt, aber keine Krise des Journalismus.“
„Man braucht die richtigen Journalisten, die der Krise so lange in die Augen sehen, bis sie den Blick senkt.“
„Thea de Terra schreibe ich irgendwann, based on facts and research. Jaja, schon gut, ich biete es euch zuerst an. Vielleicht für eine Doppelseite an einem Sonntag. Es gibt ja Optik.“
So jung, wie manch ein Junger nie mehr wird
Mails wie Zurufe. Das waren die netten … Ja, und wer ihn kennt, das sind viele, hört seine Stimme. Er könnte auch Hörbücher sprechen. So jung ist er! So jung, wie manch ein Junger nie mehr wird. Ein Vorbild in Haltung und Einstellung. Angetrieben von Leidenschaft und Neugier. Und immer wieder: von Professionalität.
Michael Jürgs ist der Mann mit einem Lebenswerk. Er hat dafür jeden Preis verdient, besonders aber diesen. Immer ist er werktätig, im allerwahrsten Sinne des Wortes. Es ist ein fulminantes, rasantes Journalistenleben. Und dabei ist er immer a jour. Wobei: Das Wort vom allerwahrsten würde Profi Jürgs jetzt streichen, weil wahr doch schon wahr ist und bleiben muss. Das reicht doch schon. CAS, LOM, jetzt ist aber mal gut, würde er schreiben.
Nein! Manchmal muss man übertreiben, nicht wahr. Denn in dieser Übertreibung liegt der wahre Kern. Und um den Kern des MJ geht es doch. Den guten, den wahren.
MJ ist immer aktuell
Kurz: Der ist ein Guter. Ein Superguter. Er denkt seit ewigen Zeiten so vernetzt, buchstäblich, wie es heute State of the Art ist. MJ denkt in Buchstaben, Bildern, Filmen. Bei ihm läuft sofort ein Film ab, wenn er das Thema gesehen, gerochen, gehört, gefühlt hat. Wer weiß was noch. Axel Springer, Romy Schneider, Richard Tauber. Günter Grass. Eva Hesse. Churchills Geheimagentin Nancy Wake. Das BKA. Die Treuhänder. Der kleine Frieden im großen Krieg: Westfront 1914 … Die Liste ist nicht vollständig, pardon. Was er anfasst, auffasst, wird ein Bestseller. Und ein toller Film. Und wenn nicht jetzt, dann später. Wenn die Leute seine Bücher gelesen haben. Oder seine Artikel.
MJ ist für uns, für die gesamte Branche, immer aktuell. Auch das wird er wieder übertrieben finden. Aber man muss es ja auch mal auf einen Begriff bringen. MJ schreibt: Geschichte. Sozusagen. Weil er seine Geschichten im wirklichen Leben findet. In der Geschichte. Dafür geht er manchmal weit zurück. Und manchmal bis zur Tankstelle. Um nichts zu verpassen, was aktuell ist.
Magazine. Aus alter Liebe
MJ liest nämlich, und zwar so gut wie alles (selbst wenn nicht alles gut ist, da ist er geradezu rührend). Also, Guardian, New Yorker, Tagesspiegel, den sowieso. Süddeutsche. FAZ. Hamburger Abendblatt. Und dazu lauter anderes Zeugs, würde der Hamburger sagen, der er nicht von Geburt, aber von Gesinnung ist. Zeugs wie, sagen wir: Magazine. Aus alter Liebe. Da war er ja auch ein Stern am Himmel und hat Tempo gemacht.
Die an den Tankstellen in Hamburg werden ihn lieben. Was er da immer alles kauft! So einer wie er ist die Soziale Marktwirtschaft in Person. Tablet hin, Tablet her. Er ist Leser. Bezahlschranken sind für ihn kein Hindernis. Und dabei drängelt er als Autor nicht ständig beim Honorar.
Ja, Autorität kommt auch von Autor. Er ist unser Autor – und unsere Autorität, an der wir unsere Pläne für die Zukunft prüfen. Gut beraten, wer sich von ihm beraten lässt. Ruf ihn an – er hat einen Plan. Oder er ruft an, voller Pläne. So guter Rat ist nicht mal zu teuer.
Musikalisch sind nicht nur seine Zeilen
Dafür, dass er nicht wirklich lange eine Tageszeitung gemacht hat, vergleichsweise kurz sein Wesen in der Münchner Abendzeitung getrieben hat; dafür, dass er mit Mike Naumann vor Jahrzehnten in München studiert und eine Zeitung herausgebracht, die allerdings sofort wegen kommunistischen Inhalts verboten wurde – also dafür versteht er das Business, man möchte fast meinen, wie kein Zweiter. MJ ist ja auch vom Typ her immer ein Erster.
Apropos State of the Art: Bilder sind für ihn auch Gemälde. Musikalisch sind nicht nur seine Zeilen, sprich Überschriften, er kann auch Klavier spielen. Und Feuilleton ist für ihn kein Fremdwort. MJ war immerhin mit sage und schreibe 23 Chef eines Feuilletons. Will sagen: Der Mann hat Kultur.
So, jetzt aber genug des Lobs. Ist das neue Buch endlich fertig? Und wann kriegen wir die Doppelseite? Wir brauchen doch eine Optik für die Eins. Also: ans Werk!