Mutterland Europa: Überlasst "Heimat" nicht den Rechten!
Der Begriff "Heimat" ist besser, als viele denken. Nur das Heimatland Europa wird uns vor den nationalen Bewahrern schützen.
Freddy Quinn hätte für seine Suche nach Heimat keine App benötigt, hätte sie ohne Google Earth lokalisiert und ohne Navi gefunden. Er blickte einmal nach Steuerbord, einmal nach Backbord, dann zu den Sternen, und begann zu singen „Heimat, deine Sterne, sie strahlen mir auch am fernen Ort“. Zuhause war für ihn überall dort, wo ein Seemann, dessen Heimatland berufsbedingt nun mal das Meer war, sie ersehnte. Mit der Sehnsucht Millionen Deutscher nach Heimat verkaufte er Millionen von Schallplatten. Als er der Ferne müde ward, bat Freddy Quinn „Wind und Wolken, nehmt mich mit, ich tausche gerne, all die vielen fremden Länder gegen eine Heimfahrt aus“.
Seit der Flüchtlingskrise 2015, als Menschen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak in Deutschland Zuflucht suchten, ist Heimat aus den Niederungen von Schlagern, wo sie einst fürsorglich betreut worden war, aufgestiegen zu Schlagworten in den Programmen aller Parteien. Wenige Wochen vor den Wahlen zum Europäischen Parlament wird mit ihr Stimmung erzeugt. Sie verspricht sich heimatlos fühlenden Wählern einen sicheren Halt in einer unsicheren Welt, Rettung vor einer ungewissen Zukunft.
Ihre Väter lagen entweder verscharrt in fremder Heimaterde oder waren wund geschlagen an Körper und Seele zurückgekehrt in ihre mittlerweile zerbombte Heimat. Aus der waren deutsche Heerscharen 1939 aufgebrochen mit dem Schlachtgesang „Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“, um friedlichen Völkern die Heimat zu zerstören, deren Bürger zu ermorden, deren Land zu unterjochen. Der Tod war ein Meister aus Deutschland. Ihm waren sie kriegslüstern in die Ferne gefolgt. Nach Kriegsende 1945 hatte er aus ihnen heimatlose Gesellen gemacht. Gefühlt überlebte nur die Heimat, in der sich die Erinnerung auskannte.
Die Sehnsucht lag im Westen
Ihren Nachgeborenen fehlten Heimatorte wie Königsberg oder Danzig oder Breslau nicht, weil Orte ihrer Sehnsucht im Westen lagen, in Paris, in Rom, in London oder im schmuddeligen Liverpool, Heimat der Beatles. Ihre Sehnsucht war eine Sehsucht, international wie die Musik, zu der sie träumten. Rock me, Baby, woher auch immer du stammen magst und – „If you’re going to San Francisco, be sure to wear some flowers in your hair.“
Schlager waren national. Sie rochen wie Mottenkugeln, schmeckten wie Eisbein, klangen wie Borgward und passten zu Filmen, in denen Heimat als Idylle verkitscht, Ursachen für die blutgetränkte Heimaterde verdrängt und die Schuldigen dennoch nicht bestraft wurden. Die saßen statt in Gefängniszellen, wo sie hingehört hätten, bald wieder an ihren Stammtischen.
Über denen hatten sie noch die Lufthoheit und verdrängten ihre finstere Vergangenheit. Konrad Adenauer, für den Heimat an der Elbe endete, denn was danach kam, war ihm fremder deutscher Osten, bot sowohl alten Nazis als auch entnazifizierten Mitläufern in der CDU eine besenreine neue Heimat. Moralisch verwerflich, doch politisch wesentlich für die Stabilität der Nachkriegsrepublik. Statt einer für alle qua Abstammung verbindlichen Heimat wurde dank Wirtschaftswunder Wohlstand für alle die verbindende Identität. Die war frei von Ideologie.
In den Jahren des beginnenden Aufbruchs aus nationalen Grenzen zur grenzenlosen Heimat Europa, zunächst per VW-Völkerwanderung ins Goethe-Sehnsuchtsland Italien, schaffte es die Heimat allenfalls noch zu Pfingsten in die „Tagesschau“. Da trafen sich als Folge nationalsozialistischer Gewaltherrschaft aus deutschen Ostgebieten Vertriebene, sangen die Schlesier „Kehr ich einst zur Heimat wieder“, und die Ostpreußen – „Land der dunklen Wälder“ – forderten ihre Heimat zurück.
Alte und Neue Heimat - beide waren kontaminiert
Die meisten aber, die sich derart einmal im Jahr als Vollwaisen gerierten, weil sie angeblich sowohl Mutterland als auch Vaterland verloren hatten, waren in der bundesdeutschen Wirklichkeit längst heimisch geworden. Viele in den vom DGB erbauten 400 000 Wohnungen. Der Konzern hieß nicht von ungefähr Neue Heimat, sondern bewusst von daher, verkaufte sich als gemeinnütziger Leuchtturm in einem Meer von Immobilienhaien – und brach krachend zusammen, als vom „Spiegel“ enthüllt wurde, wie sich seine Manager insgeheim ihre Privatkonten gefüllt hatten. Nicht nur die alte Heimat war kontaminiert, durch die braunen Volksgenossen, sondern danach durch die roten Genossen auch die neue. Die Heimat zog daraufhin tief getroffen beleidigt aufs Land. Öffnete sich dort dem Volk in heimatkundlichen Museen, ließ sich feiern bei alljährlichen Schützenfesten, sang mit den Alten am Brunnen vor dem Tore, begleitete die dereinst in ihre letzte Heimat Friedhof. In der Gefühlswelt junger Städter war sie nicht mehr ersehnt. Dort lebten mehrheitlich Weltenbummler. Deren Sehnsucht war die weite Welt. Die lasen keine Heimatromane von Ganghofer, Stifter und Raabe. Sondern die von Uwe Johnson, Günter Grass und Heinrich Böll. Lesen in heutigen Zeiten die von Dörte Hansen, von Mariana Leky und Saša Stanišić.
Edgar Reitz, der mit seinem Mehrteiler „Heimat“ 1984 Fernsehgeschichte schrieb, erinnerte sich in der „FAZ“ an jene Zeiten, als Heimat ein „Genre des deutschen Films war, das wir zutiefst verabscheuten“, vergiftet durch die Nazizeit. Setzte damals dagegen in seinen Heimatgeschichten den „Duft des verlorenen Glücks“, gar ein „sehnsüchtiges Verlangen nach Rückkehr in den Mutterleib“, der ersten Heimat eines jeden Menschen.
Die nationale Gemeinschaft eines Dorfes gegen das Global Vollage
Als 1989 über Nacht Deutschland geeint wurde, erwachte die alte Heimat wieder und feierte die grenzenlose Freiheit mit. „The Wind Of Change“ hatte den ihr genetisch eigenen Mief verweht. Doch der blieb nur kurzfristig vertrieben. Parallel zur Globalisierung wuchs, vergleichbar mit physikalischen Experimenten in kommunizierenden Röhren, die Sehnsucht nach Heimat. Vor allem in den neuen Bundesländern. Dort war Vollbeschäftigung, auch wenn es, mangels tatsächlicher Arbeit, nur eine scheinbare gewesen ist, die eigentliche Identität. Wahre Heimat blühte nur in stasifreien Nischen der Datschen unter dem Motto: Freitag ab eins macht jeder seins.
Die anbrechende Massenarbeitslosigkeit löschte diese Identität stiftende gemeinsame Heimat. Die Folge war gefühlte Heimatlosigkeit. Schuldige wurden gesucht. Bei der Suche half die AfD. Erklärte sich insbesondere regional zur Rächerin der Enttäuschten, wuchs zur nationalen Bewegung in der Flüchtlingskrise 2015. Denn die aus ihrer Heimat Geflüchteten wurden zur Bedrohung der eigenen Heimat erklärt, dem einzigen Ort der Geborgenheit vor der Globalisierung. Das Fremde hatte jetzt ein Gesicht. Das Gesicht von Fremden.
Populisten mobilisierten im übertragenen Sinne die nationale Gemeinschaft eines Dorfes gegen das Global Village von Nationen. Vergifteten die Heimat mit blutbodigen Parolen von Heimatliebe und Heimatschutz und Heimaterde, nahmen sie in Beugehaft. Wer in demokratischen Parteien noch keine zum eigenen Programm passende Heimat gefunden hat, wandert seitdem unruhig in den Parteizentralen, wenn die neuesten Umfragezahlen eintreffen.
Viktor Orbán 6 Co. wissen, dass latenter Judenhass immer noch gut ankommt
Orbán & Co. schüren Angst vor Fremden, die sich vorgeblich an den Heimaten vergreifen. Mischen unter ihre Parolen faschistische Klischees, von denen sie wissen, dass latenter Judenhass in Ländern, die ihre antisemitische Vergangenheit verdrängen, noch immer gut ankommt – eben in Ungarn, aber auch in Frankreich, in Polen, in Italien.
Heimatrechte sahen ihr Heimatrecht bedroht von heimatlosen Horden. Erst fremdelten sie nur, dann machten sie mobil gegen die Fremden. In der Bundesrepublik besingen, frei von Antisemitismus, weil der von Deutschen verschuldete Holocaust eben kein Vogelschiss der Geschichte gewesen ist, sondern das größte Verbrechen in der Geschichte der Menschheit, alle Parteien die Sehnsucht nach Heimat alternativ. Außer der AfD. „Dein Land. Deine Heimat. Hol sie Dir zurück“, plakatierte die und meinte zurück von jenen Fremden, die ihre Heimat verloren hatten. Die neugegründete Partei „Aufbruch deutscher Patrioten“ unter ihrem Vorsitzenden André Poggenburg, der sogar den Rechten der AfD zu rechtslastig geworden war, sieht die AdP als „Soziale, nationale, solidarische Heimatpartei“. Nein, kein Schelm, der bei solchen Begriffen Böses denkt.
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums wurde eher geschwurbelt. „Unsere Heimat sind auch all die Bäume im Wald. Und die Tiere der Erde. Wir lieben die Heimat, die Schöne, und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört“, heißt es in einem Kinderlied der DDR, die in der Partei Die Linke die eigentliche Heimat gewesen ist, der sie, je länger es her ist, dass sie gegen die von der SED hinterlassene Ruinenlandschaft mutig aufgestanden war, schon wieder nachtrauert.
Aufgeschreckt durch die Heimatverlosungen von links und rechts suchte auch die ehemalige Volkspartei SPD eine für ihre potentiellen Wähler attraktive Heimat. Nicht tümelnd wie bei den alten Naiven, aber altbacken eben auch: „In Deutschland gibt es gute Häuser. In Deutschland ist das Wasser klar. Das soll so bleiben“. Dagegen lässt sich wenig einwenden. Wer wollte nicht lieber in einem guten Haus wohnen, sofern die Miete bezahlbar ist? Baden in sauberem Wasser statt in einem Tümpel voller Plastikmüll?
Eher subtil cool, so wie sich ihr Vorsitzender gern gibt, die Alternative der FDP: Ihr Wahlprogramm hat bei der letzten Bundestagswahl eine Berliner Agentur namens Heimat unters Volk gestreut. Die CDU/CSU Fraktion im Deutschen Bundestag betrieb ein Proseminar in politischer Heimaterkundung, genannt Arbeitskreis „Innen und Heimat“, und gab zudem ihrem damaligen König Horst, der mittlerweile aus seiner bayerischen Heimat vertrieben worden ist, eine neue Heimat im Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat.
Mutterland Europa, Heimat der Aufklärung
Die Grünen ließen sich vom Volk der Bienen und Insekten bestäuben, deren Heimat bedroht ist. Eine von den politischen Gegnern übersehene Marktlücke. So gelang es ihnen, nachhaltige Ernte aus deren Wählerstamm in ihre Scheunen einzufahren. Denn die vom Aussterben bedrohte Biene gehört seit Karel Gotts besungener Urmutter Maja zur deutschen Leitkultur wie Bier, „Bild“, Bratwurst und Besserwisser.
Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament wird Heimat nunmehr von allen als Wahlhelferin eingesetzt. Grenzüberschreitend. Die Vaterländischen aus Italien, Frankreich, Polen, Ungarn, Holland, Spanien usw. erhoffen sich Mehrheiten rechts von der Mitte. Deshalb muss, aufrecht gegen rechts, unser Mutterland Europa, Heimat der Aufklärung, der Freiheit, der Toleranz, unter dessen beschützendem Dach unterschiedliche Heimaten erblüht sind im Norden und Süden, im Osten und Westen, verteidigt werden. So wie einst Wien, Heimat der Leichtfüßigen, gegen die Türken. Denn wer sich nicht wehrt, sondern den Rattenfängern folgt, wird von ihnen verspeist. So wie einst Wien, damals Heimat der Antisemiten und Volksgenossen, vom Landsmann Adolf Hitler.
Auf die Frage: Was ist Heimat, antwortete Michael Sandel, Autor des Bestsellers „Was man mit Geld nicht kaufen kann“, in einem Interview mit der „Zeit“: „Üblicherweise ist Heimat ein Kindheitsort. Aber ich meine, dass Heimat etwas ist, worauf wir zustreben. Heimat gleicht einer Erwartung, die wir auf dem Lebensweg, mit einem Blick zurück in unsere Vergangenheit, immer neu interpretieren. Zugleich ist sie eine Reise ohne festes Ziel. Sie hat etwas Illusionäres. Jeder wird auf diesem Weg ein Leben lang geleitet von einer Vorstellung, die er von seiner Herkunft hat und die ihn berührt, die ihn anspricht. Aber sie lässt sich nicht einholen.“ Das Recht auf Heimat ist ein Menschenrecht, die Heimat eines Bürgers die Zivilgesellschaft. Ein Ort, an dem er sich verstanden fühlt. Für neunzig Prozent aller Deutschen ist laut Infratest die Sehnsucht nach Heimat wichtig oder sehr wichtig. Diese Sehnsucht beinhaltet Wohlfühlbegriffe wie Geborgenheit, Familie, Freunde, Ort der Kindheit, Sicherheit, Mundart, Brauchtum, Landschaft.
Nur das Heimatland Europa schützt vor nationalen Heimatschützern. Europa wurde einst gegründet auf drei Säulen: Nie wieder Krieg. Nie wieder Nationalismus. Nie wieder Diktatur. Dafür lohnt es sich zu kämpfen. Nicht auf den so genannten Feldern der Ehre wie einst. Sondern vom 23. bis 26. Mai in den Wahlkabinen.
Freddy Quinn übrigens verortete sich am Ende seiner Reisen nicht mehr auf dem Meer, sondern erdnah in Quickborn nahe seinem einstigen Heimathafen Hamburg. Sterne leuchten ihm auch in seiner neuen Heimat.
Von Michael Jürgs
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