Vor drei Jahren flog der NSU auf: Wie der Nazi-Terror unbemerkt zurückkam
Vor genau drei Jahren, am 4. November 2011, ging ein Wohnmobil und ein halbes Haus in Flammen auf. Es war der Tag, an dem die Nazi-Terrorzelle NSU aufflog. Die Nachricht, dass eine beispiellose Mordserie auf das Konto von Nazis geht, traf Deutschland wie ein Schock.
Den Juni 2014 wird Ralf Wohlleben wahrscheinlich nie vergessen. Der ehemalige Vizechef der Thüringer NPD musste eine Niederlage einstecken, die er jahrlang spüren dürfte. Am 25. Juni lehnte der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts München im NSU-Prozess den Antrag der Anwälte Wohllebens ab, den Angeklagten aus der Untersuchungshaft zu entlassen. In der Wohlleben seit November 2011 sitzt. Doch nicht nur das. Die Richter signalisierten, dass sie den hartnäckig schweigenden Mann mit dem Bürstenhaarschnitt für überführt halten, Beihilfe zu neun der zehn Morde der Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ geleistet zu haben.
Wohlleben ist angeklagt, mit dem Angeklagten Carsten S. die Pistole Ceska 83 beschafft zu haben, mit der Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt neun Migranten türkischer und griechischer Herkunft erschossen. Der dringende Tatverdacht, heißt es im Beschluss der Richter, habe sich bei vorläufiger Bewertung bestätigt. Das Papier liest sich fast wie ein Urteil.
So kommt der NSU-Prozess, ein historisches Ereignis im wiedervereinigten Deutschland, voran. Mühsam, oft in kleinen Schritten, aber Stillstand gibt es nicht. Das ist zu berücksichtigen, wenn sich die Republik am Dienstag daran erinnert, was vor drei Jahren geschah und was sich seitdem getan hat. Am 4. November 2011 flog der NSU auf, die Neonazis Mundlos und Böhnhardt lagen tot in einem brennenden Wohnmobil in Eisenach. In Zwickau ging ein halbes Haus in Flammen auf, nachdem mutmaßlich Beate Zschäpe zehn Liter Benzin in die von ihr, Mundlos und Böhnhardt bewohnten Räume geschüttet hatte.
Wie konnte der Hintergrund so lange verborgen bleiben?
Schockartig musste das Land zur Kenntnis nehmen, dass eine rechtsextreme Terrorzelle fast 14 Jahre aus dem Untergrund heraus agieren konnte und schwere Verbrechen beging. Zehn Morde, mindestens zwei Sprengstoffanschläge mit mehr als 20 Verletzten, 15 Raubüberfälle. Ohne dass Sicherheitsbehörden, Medien oder sonst ein Beobachter der Szene etwas ahnten.
Schon die Erinnerung an die Opfer macht den dritten Jahrestag des dramatischen Endes des NSU zu einem deprimierenden Datum. Aber der Blick richtet sich auch auf die Reaktionen von Staat und Gesellschaft - ein Mischung aus Entsetzen und Entschlossenheit. „Die Menschenverachtung der rechtsextremistischen Mörder ist letztlich unbegreiflich“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Februar 2012 bei der Gedenkveranstaltung in Berlin für die Toten und Verletzten. Merkel bat die Angehörigen um Verzeihung, da sie und die Opfer jahrelang selbst von Polizei und Staatsanwaltschaft mit falschen Verdächtigungen überzogen wurden. Und die Kanzlerin versprach: „Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.“ Passiert das auch? Welche Bilanz kann das Land am 4. November 2014 ziehen?
Die gründlichste, für die Angehörigen der Opfer zwangsläufig schmerzhafte Aufklärung wird im Prozess geleistet. Seit dem Beginn im Mai 2013 versuchen der Strafsenat unter Vorsitz des energischen Manfred Götzl, die Bundesanwaltschaft, die vielen Anwälte der Nebenkläger und zum Teil auch Verteidiger, den monströsen NSU-Komplex zu durchleuchten. An bislang 154 Verhandlungstagen. Mehr als 300 Zeugen wurden bereits gehört. Ein baldiges Ende ist nicht in Sicht. Ob der Strafsenat noch Teile des Verfahrens abtrennt, vielleicht die Raubüberfälle ohne Verletzte, ist ungewiss. Aber es zeichnet sich nicht nur im Fall des Angeklagten Ralf Wohlleben ab, dass die Richter angemessen urteilen werden.
Der Angeklagte Carsten S. hat mit seinem Geständnis zur Mordwaffe Ceska 83 nicht nur Wohlleben entscheidend belastet, sondern auch sich selbst vermutlich vor langer Haft bewahrt. Die Richter können Carsten S., obwohl 34 Jahre alt, nach dem eher milden Jugendstrafrecht verurteilen, da er im Frühjahr 2000, zum Zeitpunkt der Übergabe der Pistole an Mundlos und Böhnhardt, noch Heranwachsender war. Auch der Angeklagte Holger G. könnte von seinem Geständnis profitieren, Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe unterstützt zu haben. Obwohl Holger G. keine Fragen dazu beantwortet.
Ohne jedes Wort an die Richter sitzt André E. im Saal. Der Rechtsextremist, der in Zwickau offenbar bis zuletzt Kontakt zu Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe hielt, äußert sich über seine martialische Aufmachung: T-Shirts im provokativen Szene-Look, Lederweste im Rockerstil, Tattoos bis zu den Fingerknochen.
Am meisten rätselhaft wirkt Beate Zschäpe. Die Hauptangeklagte dreht Tag für Tag den Fotografen und Kameraleuten den Rücken zu, in der Verhandlung sagt sie nichts. Immerhin scheint der Konflikt mit ihren drei Verteidigern, denen Zschäpe im Juli das Vertrauen entzogen hatte, ausgestanden zu sein.
Dass Zschäpe verurteilt wird, ist kaum zu bezweifeln. Wer außer ihr soll die Wohnung in Zwickau in Brand gesetzt haben? Mehrere Zeugen haben zudem geschildert, welche Geschichten Zschäpe erzählte, um sich, Mundlos und Böhnhardt zu tarnen. Dennoch bleibt fraglich, ob die Bundesanwaltschaft mit ihrem Maximalvorwurf durchkommt, Zschäpe sei bei allen Verbrechen des NSU die Mittäterin gewesen. Ein Hinweis, wie die Richter denken, fehlt. Da Zschäpes Anwälte keinen Antrag auf Haftentlassung stellen, muss der Strafsenat auch nicht wie bei Wohlleben offenlegen, in welchem Maße die Angeklagte bislang als belastet gilt.
Die Versäumnisse der Sicherheitsbehörden
Vor allem die Opferanwälte thematisieren im Prozess die möglichen Verflechtungen von NSU und rechter Szene sowie die Versäumnisse der Sicherheitsbehörden bei den Ermittlungen zu den Taten der Terrorzelle. Richter Götzl lässt dazu jetzt deutlich mehr Fragen zu, als in der Anfangsphase der Hauptverhandlung. Trotzdem bleibt nebulös, wie weit die Unterstützung reichte, die der NSU aus der rechten Szene bekam. Wie schwierig diese Frage und die nach den Versäumnissen der Behörden zu beantworten sind, zeigt nahezu exemplarisch die Vernehmung von Tino Brandt im Prozess. Der ehemalige V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes und Ex-Anführer der Neonazi-Truppe „Thüringer Heimatschutz“ hat als Zeuge tagelang Antworten gegeben, deren Wahrheitsgehalt nur schwer zu überprüfen ist. Der Verdacht, Brandt habe Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe zum bewaffneten Kampf ermuntert und gewusst, wohin sie 1998 abgetaucht waren, hat sich nicht erledigt. Und es bleibt offen, was Brandt dem Verfassungsschutz über die drei mitteilte. Dass der Nachrichtendienst den NSU gedeckt hat, ist allerdings nicht zu belegen.
Solchen Fragen sind mehrere Untersuchungsausschüsse nachgegangen, klare Antworten bleiben trotz der produzierten Papierberge oft aus. Es gibt viele Vermutungen, am härtesten hat sie der Ausschuss des Thüringer Landtags in seinem Schlussbericht formuliert. Die Häufung falscher und nicht getroffener Entscheidungen bei den Sicherheitsbehörden ließen „den Verdacht gezielter Sabotage“ bei der Suche nach drei verschwundenen Neonazis zu, heißt es. Aber es bleibt beim Verdacht.
Die Rolle der Medien und der Zivilgesellschaft wurde nur sporadisch thematisiert
In den drei Jahren nach dem Schock des 4. November 2011 haben Polizei, Verfassungsschutz und Justiz herbe Kritik einstecken müssen. Die Behörden gelobten Besserung, bei Polizei und Staatsanwaltschaften änderte sich jedoch nicht viel. Einige Polizisten fielen sogar im NSU-Prozess mit kalten, herzlosen Äußerungen auf. Doch der Verfassungsschutz stand stärker unter Druck, mehrere Chefs mussten gehen. Die Versäumnisse, die sich Medien und Zivilgesellschaft insgesamt im NSU-Komplex geleistet haben, werden hingegen nur sporadisch thematisiert. Und es blühen die Verschwörungstheorien zu Hintermännern des NSU. Immerhin kann die Frage, ob derzeit eine braune Terrorzelle in Deutschland aktiv ist, mit einem vorsichtigen „Nein“ beantwortet werden. Aber Rechtsextremisten äußern handfest Sympathie für die Terrorzelle. Seit November 2011 hat die Polizei mehr als 200 Straftaten „im Zusammenhang mit dem NSU“ gemeldet, wie im Juli der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion zu entnehmen war. Von den szenetypischen Delikten war alles dabei: Bedrohung, Beleidigung, Verwenden von NS-Symbolen, Billigung von Straftaten, Sachbeschädigung, Volksverhetzung, Bombendrohung. Und in acht Fällen Gewalt. Bis hin zur Brandstiftung.
Frank Jansen