NSU Prozess - 117. Prozesstag: Eine rote Blechdose hinterließ heillose Verwüstung
Eine Christstollen-Dose hinterließ die Terrorzelle NSU im Lebensmittelgeschäft eines Iraners in Köln. Als der Sprengsatz darin explodierte, erlitt dessen Tochter schwerste Verbennungen. Jetzt sagten ein Sprengstoffermittler und ein Ex-Polizist im Prozess aus.
Die längliche, rote Blechdose mit den weißen Sternen sah harmlos aus. Weihnachten war gerade vorbei, in solchen Behältern werden Christstollen verkauft, an einen teuflischen Inhalt dachte die junge Iranerin nicht. Doch als sie den Deckel hob, sah die Frau eine Druckgasflasche. Die Iranerin drückte den Deckel schnell wieder auf die Dose, doch es war zu spät. Eine Stichflamme schoss hoch, mehr als ein Kilogramm Schwarzpulver explodierten, Splitter flogen durch den Raum, die Decke aus Leichtbauplatten stürzte hinab. Dass die Frau überlebte, ist ein Wunder.
Sie erlitt schwerste Verbrennungen und Schnittwunden. Einige Splitter seien durch die „extreme Druckwelle“ in die Kleidung „eingesprengt“ worden, sagt am Dienstag ein Polizist. Er tritt als Zeuge im NSU-Prozess am Oberlandesgericht München auf. Der Strafsenat hat nun ein weiteres Kapitel in der Verhandlung zu den Verbrechen der rechtsextremen Terrorzelle geöffnet.
Die Detonation traf am 19. Januar 2001 das Lebensmittelgeschäft eines Iraners in der Kölner Probsteigasse. Der Laden war von außen nicht als Firma eines Migranten zu erkennen, dennoch suchten ihn die Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt als Ziel für einen Anschlag aus. Für einen besonders perfiden. Laut Anklage betrat Mundlos oder Böhnhardt in den Wochen vor Weihnachten 2000 das Geschäft mit einem Korb, in dem sich die präparierte Christstollendose befand. Der Täter nahm aus einem Regal eine Flasche Whiskey dazu, vermutlich um die Splitterwirkung noch zu erhöhen. An der Kasse behauptete der Mann, er habe sein Portemonnaie vergessen und wolle es schnell holen. Der Korb blieb im Geschäft. Der Mann kam nicht zurück.
Die Druckwelle verwüstete den Raum
Der Betreiber des Ladens deponierte den Korb in einem hinteren Raum. Dort schaute ihn sich am 19. Januar 2001 die Tochter des Iraners an. Und öffnete die Blechdose, die mit einem blauen Geschenkband verziert war.
Die Druckwelle verwüstete den Raum und schoss schoss durch einen weiteren ins Ladenlokal. „Die Schaufensterscheibe wurde zerstört und die Rolladen rausgedrückt“, sagt der Polizeizeuge, der beim Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen als „Sprengstoffermittler“ tätig ist. Die Regale mit den Waren blieben hingegen weitgehend intakt. Dennoch hätte die Explosion zu einem späteren Zeitpunkt noch mehr Menschen treffen können. Zumal Mitglieder der iranischen Familie in dem Raum, in dem der Korb stand, häufig frühstückten.
"Die meisten Sprengstoffanschläge kamen von links"
Die Kölner Polizei ermittelte in alle denkbaren Richtungen. Und selbst in solche, die seltsam erscheinen. „In Köln sind auch die Linken aktiv“, sagt ein pensionierter Beamter im Prozess, „die meisten Sprengstoffanschläge kamen von links“. Eine Anwältin der iranischen Familie fragt entgeistert, „links gegen Ausländer, das kommt mir komisch vor“. Doch der Ex-Polizist bleibt dabei. Es sei auch untersucht worden, ob die Tat „von rechts“ kam, ob eine iranische Gruppierung oder „die Organisierten“ verantwortlich waren, Verbrecher aus dem Spektrum der organisierten Kriminalität. Die Ermittler sprachen auch mit der Abteilung für Staatsschutz, die sich mit politisch motivierten Delikten befasst, und mit dem Verfassungsschutz. Eine Spur fand sich nicht.
Erst im November 2011, nach dem dramatischen Ende des NSU, wurde klar, wer knapp elf Jahre zuvor in Köln gebombt hatte. In dem bis 2011 unbekannten Video der Terrorzelle zu ihren Morden und Anschlägen wird das Attentat in der Probsteigasse zynisch gefeiert. Genauso wie der zweite Angriff von Mundlos und Böhnhardt in Köln. Im Juni 2004 hatten die Neonazis in der Keupstraße vor einem türkischen Friseursalon eine Nagelbombe platziert. Sie war in einer Box auf einem Fahrrad versteckt. Bei der Explosion wurden mehr als 20 Menschen verletzt. Dieses Verbrechen war bislang nur am Rande ein Thema im NSU-Prozess.
Die in der Probsteigasse schwer verletzte Iranerin ist offenbar hochgradig traumatisiert. Ihre Anwältinnen haben die Medien gebeten, weder den Namen der Frau noch den der Angehörigen zu nennen. Einige sind am Dienstag im Saal. Am Mittwoch soll das Anschlagsopfer als Zeugin gehört werden.