SPD-Chefin Saskia Esken: „Ich sehe einfach die realistische Gefahr einer zweiten Welle“
Die Vorsitzende der Sozialdemokraten über notwendige Provokationen, Morddrohungen des „NSU 2.0“ und die Bedrohung für Deutschland durch das Coronavirus.
Saskia Esken (59) ist staatliche geprüfte Informatikerin und seit Dezember 2019 gemeinsam mit Norbert Walter-Borjans Vorsitzende der SPD.
Frau Esken, sind Sie verrückt?
Das ist eine ungewöhnliche Einstiegsfrage … aber ich ahne, worum es geht.
Wir fragen, weil Sie erklärtermaßen „zufrieden“ damit sind, wenn man Sie „linksverrückt“ nennt.
Ja, ich habe kürzlich getwittert, dass ich mit diesem eigens für mich und Norbert Walter-Borjans erfundenen Etikett zufrieden zu Bett gehe. Das war meine ironische Replik auf eine konservative Journalistin, die uns in ihrem Artikel „linksverrückt“ genannt hatte. Ich kann gut damit leben, als Vorsitzende der SPD als links zu gelten.
Das war mit dem Begriff „linksverrückt“ wohl nicht gemeint.
Es ist doch Unsinn, dass Norbert Walter-Borjans und ich die SPD nach links „verrückt“ hätten. Sie ist links. Und sie darf nicht einer imaginären Mitte hinterherlaufen, sondern sie muss inmitten der relevanten Debatten sein und damit selbst bestimmen, wo die Mitte ist. Dieser Ansatz stammt übrigens von Sigmar Gabriel.
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Nur wenige in der SPD polarisieren so stark wie Sie. Machen Sie das aus Lust an der Provokation – oder weil sie es für politisch notwendig halten?
Es sind ja auch nur wenige in der SPD in meiner Position. Ich erwarte von meiner Partei, dass sie progressive und emanzipative Positionen besetzt und notwendige Debatten anstößt. Wenn ich die soziale Fragen voranbringen will, dann muss ich wohl damit leben, dass manche Menschen das provozierend finden.
Bringt das die SPD voran?
In den acht Monaten, in denen Norbert Walter-Borjans und ich die SPD leiten, ist die Partei vorangekommen. Wir haben maßgeblichen Einfluss genommen auf die erfolgreiche Politik der Koalition. Wir haben in hohem Maße zueinander gefunden. Regierung, Fraktion und Partei sind einig wie nie. Aber nochmal: Es ist auch meine Aufgabe als Parteichefin der SPD, bei umstrittenen Themen klare Positionen zu vertreten, um die gesellschaftliche Debatte voranzubringen und damit Türen und Fenster zu öffnen für neue Ideen.
Heftige Reaktionen gab es auch, als Sie von latentem Rassismus in Teilen der Polizei sprachen. War das eine notwendige Provokation?
Unsere Gesellschaft kann mit der Tatsache, dass Rassismus in unseren Köpfen beginnt und sich in den Institutionen fortsetzt, nicht leicht umgehen. Viele wollen sich damit nicht auseinanderzusetzen, empfinden Rassismus nicht als ihr Problem. Deshalb kommen so heftige Reaktionen. Ich würde mir wünschen, dass wir diese Debatte führen und dass nicht versucht wird, diejenigen stumm zu machen, die Unbequemes aussprechen.
Manche Genossen meinen, Sie hätten mit der Debatte über die Polizei der eigenen Partei geschadet…
Es ist Aufgabe der SPD, auch den etwa 20 Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland zu signalisieren, dass wir sie achten und dass wir ihre oft schwierige Situation im Blick haben. Kürzlich hat mir ein türkischstämmiger Taxifahrer hier in Berlin von einer Kundin erzählt, die sich beim Einsteigen lauthals beschwerte: „Ich habe der Taxizentrale doch ausdrücklich gesagt, dass sie mir keinen Türken schicken soll.“
Er erzählte mir dann von sich und seinen Brüdern, von seiner Frau, seinen Kindern, die alle hier geboren und aufgewachsen sind und sich als Teil unserer Gesellschaft wahrnehmen. Und wie sich das dann anfühlt, wenn man sich sowas anhören muss.
Was sagt Ihnen ein solcher Vorfall?
Mir kamen fast die Tränen, weil dieser Mann so unter Druck stand, sich zu rechtfertigen, dass auch er Anerkennung verdient. Es ist unsere Pflicht, alle Menschen in Deutschland vor Zurücksetzung zu beschützen und auch vor Bedrohung. Die 200 Toten, die auf das Konto von Rechtsextremisten gehen in den vergangenen 30 Jahren, und die ganz überwiegend Menschen mit Migrationsgeschichte waren, sind eine Schande für Deutschland. Die SPD ist von jeher Beschützerin derjenigen, die unter Rassismus, Benachteiligung und Ausgrenzung leiden.
Sie selbst haben eine Morddrohung von Rechtsextremisten mit dem Absender NSU 2.0 erhalten und Anzeige erstattet. Glauben Sie, dass der Absender zur Rechenschaft gezogen wird?
Ich erwarte nicht viel, da solche Täter oft nicht ermittelt werden können, vertraue aber fest darauf, dass die Polizei das Mögliche und Nötige an Ermittlungen führen wird. Ich fühle mich selbst nicht wirklich bedroht, aber es macht mir deutlich, dass die Bedrohungslage allgemein steigt. Dass solchen Worten auch Taten folgen, haben wir leider mehrfach erlebt. Ich sehe die Gefahr eher für die Gesellschaft als für mich.
Für Ihre Art, Politik zu machen, zahlen Sie als Person einen Preis; Sie werden nicht nur von politischen Konkurrenten hart attackiert, sondern auch von vielen aus der eigenen Partei. Wie gehen Sie damit um?
Nur wer keine Positionen vertritt, eckt nicht an. Mein Weg ist das nicht. Wenn die Mehrheit wirklich so negativ auf mich reagieren würde, wäre ich weder Bundestagsabgeordnete noch SPD-Vorsitzende.
Aber Sie nehmen wahr, dass manche in der SPD auf Ihre Person allergisch reagieren?
Natürlich sind nicht alle einverstanden. Manche hätten vielleicht gerne gehabt, dass die Mehrheit der Mitglieder sich anders entscheiden. Das hat sie aber nicht. Wir lassen uns davon nicht beirren.
„Wir haben einen guten Draht in die Partei hinein“
In großen SPD-Landesverbänden wird schon darüber nachgedacht, wie man Sie wieder loswerden könnte…
Norbert Walter-Borjans und ich sind von den Mitgliedern direkt gewählt worden. Das ist neu für die Partei, und das gibt uns ein sehr starkes Mandat. Wir haben einen guten Draht in die Partei hinein.
Wie funktioniert der?
Wir haben neue Kommunikationsmittel und -wege im Umgang mit Landesverbänden, Kreisverbänden und Unterbezirken eingeführt – und das schon vor Corona. Früher wurde ein Mal im Jahr zu einer Unterbezirkskonferenz hier im Willy-Brandt-Haus geladen. Wir machen das nun einmal im Monat, aber am Telefon. Da erleben wir sehr viel positives Feedback für die gute Kommunikation und die Möglichkeit, sich auszutauschen. Vor allem wird immer wieder gelobt, dass wir an der Spitze sehr harmonisch zusammenarbeiten. Ich bin zufrieden mit dem Rückhalt für uns, die beiden Vorsitzenden in der Partei.
Ihnen und Ihrem Ko-Chef steht das Recht zu, den Kanzlerkandidaten vorzuschlagen. Immer größer wird der Druck, Olaf Scholz auszurufen. Haben Sie noch den Handlungsspielraum, einen anderen Kandidaten zu benennen?
Wir sprechen in diesem Sommer mit Menschen mit einem strategischen Blick darüber, wer glaubwürdig sozialdemokratische Positionen vertreten kann und wer der aussichtsreichste Kanzlerkandidat für die SPD ist. Und wenn wir da zu einem Ergebnis gekommen sind, dann werden wir das bekanntgeben.
In Teilen der SPD gibt es Vorbehalte gegen Scholz. Die Kritiker machen nun sogar auf Twitter mit der Kampagne „NOlaf“ vor gegen seine Nominierung mobil. Hat das irgendeinen Einfluss auf ihre Entscheidung?
Olaf Scholz ist Sozialdemokrat wie ich. Wir arbeiten sehr gut zusammen und lassen uns nicht gegeneinander ausspielen.
Haben Sie oder Ihr Ko-Vorsitzender DGB-Chef Rainer Hoffmann gefragt oder fragen lassen, ob er bereit sei, als Spitzenkandidat für die SPD anzutreten?
Der Prozess der Auswahl des Kanzlerkandidaten oder der Kanzlerkandidaten ist nicht öffentlich. Und das aus gutem Grund.
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Wird es programmatische Festlegungen geben, bevor Sie die Kandidatin oder den Kandidaten vorschlagen – oder wird die Reihenfolge umgekehrt sein?
Wir haben eine Programmkommission gegründet – und die arbeitet schon am Wahlprogramm. Wir stecken mitten in der Arbeit zur Vorbereitung der Bundestagswahl. Ihre Frage klingt ein bisschen so wie die, ob zuerst die Henne oder das Ei komme. Das ist ein komplexer Prozess, in dem vieles zusammenfließt.
Warum haben Sie und Ihr Ko-Vorsitzender für sich selbst eine Kandidatur ausgeschlossen?
Wir haben es nicht ausgeschlossen, aber klar gesagt: Wir streben keine Kandidatur an.
Und wenn jetzt ihre Gesprächspartner im Sommer sagen: Saskia Esken muss es machen. Treten Sie dann an?
Wir haben uns doch klar dazu geäußert, insofern wird keiner erwarten, dass unsere Gesprächspartner mich der SPD als Kanzlerkandidatin empfehlen.
Vielleicht hat das Dauertief der SPD in den Umfragen auch damit zu tun, dass Millionen von Menschen von Stundenlöhnen unter zwölf Euro leben müssen. Was werden Sie dagegen tun?
Dann müssten die Umfragewerte ja sprunghaft steigen. Denn die SPD kämpft mit aller Kraft dafür, dass dieser beschämende Niedriglohnsektor endlich ausgetrocknet wird. Beispielsweise treten wir für allgemeinverbindliche Tarifverträge ein, stoßen damit aber leider auf erbitterten Widerstand der CDU/CSU. Bei der Überprüfung des Mindestlohn-Gesetzes im Herbst wollen wir die Regeln ändern, damit der Mindestlohn schneller steigen kann.
Zehn Millionen Menschen in Deutschland verdienen weniger als zwölf Euro in der Stunde und liegen damit unter der Armutsgrenze, das sind ein Viertel der Erwerbstätigen. Darunter sind sehr viele Frauen. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass Menschen nicht von ihrer Hände Arbeit leben können, obwohl sie Vollzeit arbeiten.
Wie wollen Sie die Regeln ändern?
Die bisherige Formulierung, der Mindestlohn solle einen „Mindestschutz“ gewähren, reicht womöglich nicht aus. Unser Ziel ist es ganz konkret, dass der Mindestlohn 60 Prozent des Median- Lohns, also des mittleren Lohns beträgt. Wer darunter liegt, ist nach der gängigen Definition arm. Niemand darf im reichen Deutschland arm sein. Deshalb müssen wir das ändern. Und wenn diese Leute mehr Geld verdienen, tragen sie es nicht nach Luxemburg, sondern sie geben es hier aus. Niedrige Löhne anzuheben bedeutet deshalb auch, etwas für die Konjunktur zu tun. Das kann in Zeiten von Corona nicht falsch sein.
„Meine Befürchtung ist eher, ob wir die Kraft für einen zweiten Lockdown haben“
Es gibt große Befürchtungen, dass ein Wiederanstieg der Corona-Infektionszahlen im Herbst massiv Arbeitsplätze kosten würde. Hat Deutschland die Kraft für einen zweiten „Wumms“, also für ein zweites Konjunkturpaket?
Wenn ein zweiter „Wumms“ notwendig wird, dann haben wir dafür auch die Kraft. Meine Befürchtung ist eher, ob wir die Kraft für einen zweiten Lockdown haben. Das sollten wir unbedingt vermeiden.
Weil die Menschen das dann nicht mehr akzeptieren?
Weil es dann Probleme mit der Akzeptanz geben würde, ja, und weil die wirtschaftlichen Auswirkungen noch schlimmer wären als beim ersten Mal. Ich bin davon überzeugt, dass 98 Prozent der Deutschen insbesondere jetzt, in Zeiten der Pandemie froh sind, genau in diesem Land zu leben und in keinem anderen. Das drückt sich auch in der breiten Akzeptanz für das Konjunkturprogramm der großen Koalition aus. Die SPD hat hier so erfolgreich verhandelt, dass sie dem Paket ihren Stempel aufdrücken konnte. Auch der Lockdown und die Kontaktbeschränkungen, die anfangs notwendig waren, hatten eine hohe Akzeptanz. Aber das Ganze noch mal – das würde schwierig.
„Wir können uns auch im Inland keinen Leichtsinn leisten“
Sie haben früh vor einer zu schnellen Rückkehr zur Normalität gewarnt. Fühlen Sie sich durch die jüngsten alarmierenden Zahlen des Robert-Koch-Instituts bestätigt?
Es geht nicht darum, ob ich Recht habe. Ich sehe einfach die realistische Gefahr einer zweiten Welle. Den neuen Anstieg der Zahlen führen manche auf die Rückkehr der Urlauber zurück. Ich glaube: Wir können uns auch im Inland keinen Leichtsinn leisten. Viele Institutionen versuchen jetzt wieder in die gewohnte Normalität, also in alte Strukturen zurückzukehren. Das ist absolut verständlich, aber womöglich lebensgefährlich.
So zu leben, zu arbeiten, zu lernen wie vor Corona taugt nun einmal nicht dazu, Kontakte einzuschränken und damit Infektionsursachen zu bekämpfen.
Und das heißt?
Alle müssen wissen: Es steht jetzt viel für unser Land auf dem Spiel. Die Institutionen müssen umdenken, neue Strukturen aufbauen. Ich habe in meinem Wahlkreis in Calw eine Altenpflegeschule besucht, die das vorbildlich gelöst hat: Da weisen in der Mensa Pfeile den Weg, da gibt es unterschiedliche Pausen und Essenszeiten. Die bieten einen Mix aus Präsenz und digital gestütztem Unterricht an. Ich hoffe, viele andere Institutionen in Deutschland bringen den Mut und die Kreativität auf, um neue Strukturen gegen Corona aufzubauen, die ein Weiterarbeiten unter Pandemiebedingungen erlauben.
In dieser Veränderung liegt ja vielleicht auch die eine oder andere Chance, Neues zu entdecken! Das würde ich mir vor allem für die Schulen wünschen. Darüber wollen wir auch bei unserem öffentlichen Zukunftsdialog über Bildung „Der Schulausfall – SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern im schulischen Notstand“ an diesem Donnerstag mit Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch kommen.