1968 - 50 Jahre Studentenrevolte: Ich musste mir die Freiheit nicht mehr nehmen
Ohne die Feministinnen der 68er wären viele Frauenleben ganz anders verlaufen. Auch das unserer Autorin. Eine Danksagung.
Wenigstens konnte ich Hosen tragen. Dass die Rockpflicht ein paar Jahre vor meinem Eintritt ins Ursulinengymnasium abgeschafft worden war, erleichterte mich sehr. Ich mochte keine Röcke, wegen der kratzigen Strumpfhosen im Winter und der rutschenden Kniestrümpfe im Sommer.
Es war Mitte der sechziger Jahre, der Aufbruch machte sich langsam bemerkbar. Selbst in der Provinz. Ich weiß nicht, wie mein Leben ohne ’68 verlaufen wäre. Sicher ist, ich wäre nicht da, wo ich heute bin, wäre keine Journalistin in leitender Funktion, die dasselbe verdient wie der Ressortleiterkollege, und dazu stolze Mutter und Großmutter. Ohne ’68 hätte ich kaum studieren und arbeiten, meinen Leidenschaften für Kino und Musik nachgehen und gleichzeitig ein Kind großziehen können, ohne je verheiratet gewesen zu sein. Die Freiheit dazu musste ich mir nicht nehmen, sie war bereits da, in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern, als ich nach Berlin kam – weil andere sie erkämpft hatten. Es ist an der Zeit, dafür einmal Danke zu sagen.
Dank an die Frauen, die dafür stritten, dass das Grundgesetz ("Männer und Frauen sind gleichberechtigt") Realität wird und unsereins sich nicht mehr zwischen Kind und Karriere entscheiden musste. Dank an die Aktivistinnen, die ihre BHs verbrannten und das Recht auf Selbstbestimmung nicht zuletzt mit Alice Schwarzers "Stern"-Aktion "Ich habe abgetrieben" lautstark öffentlich machten. Dank an den Frankfurter Weiberrat mit Silvia Bovenschen und Mona Steffen, die vor 50 Jahren die drastische Parole "Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen" auf ein Flugblatt schrieben. Dank an den West-Berliner Aktionsrat zur Befreiung der Frauen, an Helke Sander, die die ersten Kinderläden gründete.
Am Anfang war die Tomate
Dank an die Romanistikstudentin Sigrid Rüger, die beim Frankfurter SDS-Kongress am 13. September 1968 dem Chefdenker Hans-Jürgen Krahl eine Tomate an den Kopf warf, weil die Herren auf dem Podium nach Helke Sanders Rede zur Frauenfrage ohne Diskussion zur Tagesordnung übergehen wollten. Bis heute gilt der Tomatenwurf als Initialzündung der Frauenbewegung in Deutschland. Dank auch an Gabriele Goettle und Brigitte Classen, die Mitte der Siebziger in der Zeitschrift "Die schwarze Botin" frechere Töne anschlugen als die Selbsterfahrungs-Frauen mit Verena Stefans "Häutungen" als ihrer feministischen Bibel. Ohne sie alle hätte ich es schwerer gehabt.
Ich begann 1977 zu studieren. Erst in jenem Jahr wurde das Gesetz endgültig abgeschafft, welches die Aufgabenteilung in der "Hausfrauenehe" so regelte, dass eine Frau nur erwerbstätig sein durfte, wenn der Ehemann zustimmte. Bis 1969 konnte er ihren Job sogar eigenmächtig kündigen, auch die Geschäftsfähigkeit war einer Verheirateten verwehrt. Bei der Hochzeit musste sie ihren Namen abgeben, und wenn sie die Scheidung einreichte – etwa wegen Gewalt in der Ehe –, war sie automatisch die "Schuldige", bekam keinen Unterhalt und verlor das Sorgerecht.
Nicht dass es keine arbeitenden Frauen gegeben hätte. Meine in der Familie verehrte Großtante Ria war berufstätig, aber sie blieb ihr Leben lang ledig, wie die meisten meiner Lehrerinnen in der Grundschule und im Gymnasium. 1980/81 wurde die gleiche Entlohnung von Männern und Frauen erstmals juristisch verbürgt, dank der "Heinze-Frauen": Angestellte des Gelsenkirchener Foto-Unternehmens Heinze klagten dagegen, dass ihre männlichen Kollegen höhere Zuschläge erhielten. Das Bundesarbeitsgericht gab ihnen in dritter Instanz Recht.
Alleinerziehende Mutter? Die hat doch ein "Kommunengör"
Dank jedenfalls dafür, dass eine berufstätige, alleinerziehende – in meinem Fall: getrennt erziehende – junge Mutter in den achtziger Jahren nicht mehr gesellschaftlich geächtet wurde, zumindest nicht in Berlin. Hier gab es Schwangerschaftsgruppen, Krabbelgruppen, WGs mit Kindern, erste aktive Väter, eine selbstverständliche Akzeptanz von Patchworkfamilien und anderen Alternativen zur Kleinfamilie. Allein die Heimatbesuche in der katholischen Bischofsstadt, wo die Uhren langsamer tickten, machten schnell klar, wie die diskriminierende Alternative ausgesehen hätte: Es genügte ein scheeler Blick beim Brötchenkauf auf meine kleine Tochter, diese "Kommunengöre".
Die Studienstiftung des Deutschen Volkes, die mit mir als Stipendiatin recht unglücklich war, als sie erfuhr, dass ich mein Studium nach der Geburt meines Kindes keineswegs abbrechen wollte, drängte zur Eheschließung. "In einer Wohngruppe, von der Sie sprachen, deren Bestand mir unsicher erscheint, würde ein Kind wahrscheinlich herumgereicht und herumgeschoben und mehr Roth-Händle einatmen als wahre Obhut und Pflege erfahren", schrieb mir mein Vertrauensdozent.
Abgesehen davon, dass Studenten damals eher Selbstgedrehte rauchten, treffen sich Mitglieder der inkriminierten "Wohngruppe" übrigens bis heute zu Weihnachten und Festen jeglicher Art. Wahlverwandtschaft kann äußerst verbindlich sein. Dank der Kinderladen-Gründerinnen, die sich für selbstverwaltete Elterninitiativen engagiert hatten, konnten wir uns jedenfalls zusammentun und wie viele andere mit Senatsgeldern Räumlichkeiten und eine Erzieherin oder einen Erzieher unserer Wahl finanzieren. Studieren mit Kind, Berufsanfang mit Kind – mit Ausnahme der konservativen Studienstiftung, die mich noch nach der Geburt meiner Tochter mit "Fräulein" titulierte, legte mir niemand Steine in den Weg. Die Auseinandersetzung endete immerhin gütlich: Überall in der Nachkriegsrepublik waren überkommene Welt- und Menschenbilder in Bewegung geraten.
Linker Machismo - Männer diskutieren, Frauen hören zu
Nicht zu vergessen die "taz"-Gründer. Sie schufen Gegenöffentlichkeit, setzten Umwelt, soziale Gerechtigkeit und Frauenrechte auf die Agenda, Themen, die bald auch in den bürgerlichen Medien Einzug hielten. Nebenbei ermöglichten sie es mir, meine praktische Ausbildung nicht an einer Journalistenschule zu absolvieren, sondern per learning by doing, als Jungredakteurin in der Watt-, später in der Kochstraße. Hier lernte ich den Diskurs, die Macht des Arguments, die Notwendigkeit einer moralischen Haltung anstelle unverrückbarer Ideologien und redaktioneller Hierarchien: bei den teils erbitterten Auseinandersetzungen um linken Antisemitismus, um die militante Kehrseite revolutionärer Bewegungen, auch bei der Stasi-Debatte nach dem Mauerfall. Einschließlich der Kunst, über den eigenen Schatten zu springen und aus Fehlern so etwas wie Erkenntnis zu gewinnen.
Bevor diese Laudatio in Lobhudelei umschlägt: Männer diskutieren, Frauen hören zu, Revoluzzer mit sexy Begleitung, das gab es auch bei der Apo, in den WGs, in der "taz". Wer sich ein Bild vom linken Machismo machen will, blicke auf dieses Foto:
Auch Helke Sanders West-Berlin-Film „Der subjektive Faktor“ von 1981 ist eine kritische Reflektion. „Es gibt viel Falsches im Wahren“, wandelt die Regisseurin darin das berühmte Adorno-Zitat ab. Beispiel: Ein Kinderladen war kein Kinderparadies, antiautoritäre Erziehung vor Missbrauch nicht gefeit. Die selbstkritische Aufarbeitung der linken Geschichte hat gerade erst angefangen.
In Zeiten von MeToo ist klar, die Frauenfrage hat sich nicht erledigt. Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 1997 strafbar. Die Selbstausbeutung berufstätiger Frauen ist nicht passé, auch nicht die gläserne Decke bei Spitzenpositionen. „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, flächendeckend ist das immer noch Utopie. Das ideologische Denken ist nicht abgeschafft, von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch zu schweigen. Trotz alledem: Wo stünden wir ohne den Tomatenwurf vom 13. September?