Frankreich: Ich habe von diesem Wahlkampf die Nase voll!
Das Gerangel in Frankreich ist fast vorbei, endlich. Aber Vorfreude auf den Wahlabend will sich angesichts der Kandidaten nicht einstellen. Eine Kolumne.
Ich habe die Nase voll: in meiner Berliner Küche stundenlang französisches Radio zu hören, damit ich endlich mal verstehe, was in meinem Land los ist.
Ich habe die Nase voll: In diesem Wahlkampf wurde mehr Zeit damit verbracht, die Machenschaften der Kandidaten aufzudecken, als über die vielen Probleme Frankreichs zu reden.
Ich habe die Nase voll: Meine Kindheitsfreundin erzählt mir, dass sie den Sozialisten Benoît Hamon wählen will. „Wir müssen schließlich weiter träumen“, sagt sie. Träumen oder reformieren?
Ich habe die Nase voll: Der Front National phantasiert von einem Frankreich hinter hohen Mauern, abgegrenzt von der Globalisierung.
Ich habe die Nase voll: Schluss mit dem Pathos, lyrischen Höhenflügen, Herumgeschrei, Gesten à la gekreuzigter Christus! Kann man in meinem Land nicht normal über Politik reden?
Ich habe die Nase voll: vom Neid auf die Deutschen, die am 24. September die Wahl zwischen Merkel und Schulz haben, zwischen zwei respektablen Kandidaten.
Ich habe die Nase voll: Marine Le Pen weigert sich, an einer Fernsehsendung teilzunehmen, wenn nicht die Europafahne im Hintergrund entfernt wird. Der Sender gehorcht. Und hängt eine zweite französische Fahne auf.
Ich habe die Nase voll: von all den Angriffen auf Angela Merkel. „Ich bin nicht Frau Merkels Vizekanzlerin“, sagt Marine Le Pen. „Maul zu, Frau Merkel!“, befiehlt Jean-Luc Mélenchon auf Deutsch.
Ich habe die Nase voll: Wann hören die Franzosen endlich auf, sich der Anti-Boche-Klischees zu bedienen? Bismarck, Pickelhaube, Nazimethoden, Hitlerbärtchen, Hakenkreuz, Dirndl, blonde Zöpfe, Würstchen und Sauerkraut… Es reicht!
Ich habe die Nase voll: Marine Le Pen leugnet die Verantwortung Frankreichs für die Razzia des Wintervelodroms 1942. Dort hielt die französische Polizei 13000 Juden tagelang gefangen, die anschließend deportiert wurden. Nicht Frankreich ist verantwortlich, sagt Le Pen, sondern die Leute, die damals an der Macht waren. Die alten Revisionisten des Front National kriechen aus ihren Löchern.
Ich habe die Nase voll: Die Deutschen halten uns für Hallodris. Manchmal haben sie recht.
Ich habe die Nase voll: Unsere Politiker schwafeln ständig von „la France!“. Was für eine lächerliche Rhetorik. La France ist aber ein Land wie jedes andere und nicht gerade in einem guten Zustand.
Ich habe die Nase voll: Die Deutschen nennen mein Land die „Grande Nation“, ein Ausdruck, den es in Frankreich gar nicht gibt. Mir gefällt die Mischung aus Spott und Verehrung in diesem Begriff nicht.
Ich habe die Nase voll: Die Gattinnen der Kandidaten scheinen kein eigenes Leben zu haben. Sind sie gerade gut genug, die Post zu sortieren oder in einer Rede die Rechtschreibfehler zu korrigieren, wenn sie nicht gerade einen Scheinposten im Parlament haben?
Ich habe die Nase voll: Die Franzosen reden nur noch über die Agenda 2010. Wie haben die Deutschen die Krise überwunden? Wie haben sie ihren Arbeitsmarkt reformiert? Dabei haben wir 2017. Ich hätte gern, dass Frankreich eigene Ideen entwickelt.
Ich habe die Nase voll: Die Deutschen schwören, dass sie sich nicht in die französische Debatte einmischen wollen. Und im selben Satz erzählen sie uns, was wir zu tun haben.
Ich habe die Nase voll: Die Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen müssen kugelsichere Westen tragen. Ein Attentat bringt immer nur dem Front National zusätzliche Stimmen.
Ich habe die Nase voll: In Frankreich gibt man ungeniert zu, dass man den Front National wählt. Vor ein paar Jahren noch wurde für diese Partei nur heimlich in der Wahlkabine gestimmt. Das Tabu ist längst gebrochen.
Ich habe die Nase voll: von Sektierertum, von hirnlosen Behauptungen. Von dem aggressiven Ton in diesem Wahlkampf.
Ich habe die Nase voll: Auf die Medien wird eingeprügelt.
Ich habe die Nase voll: Mehrere Kandidaten fordern den Frexit. Man vergisst, was Europa uns bringt.
Ich habe die Nase voll: Vor lauter Nabelschau bekommen die Kandidaten die gravierenden Ereignisse in der Welt gar nicht mehr mit. Trump, Erdogan, Putin, Nordkorea…
Ich habe die Nase voll: Auch morgen werde ich wieder wählen, um das Schlimmste zu verhindern. Wie gern würde ich mit Begeisterung an ein Projekt glauben, das wirklich etwas ändern könnte.
Ich habe die Nase voll: Ich will nicht mehr ruhig schlafen gehen und am nächsten Morgen im Schockzustand aufwachen. Nach dem Brexit, nach Trump…
Ich habe die Nase voll: Wenn es morgen Le Pen/Macron wird, werden wir noch zwei Wochen zittern. Wenn es Le Pen/Mélenchon wird, fängt der Albtraum sofort an.
Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.
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