Putins Gas-Erpressung: Der Bund aktiviert den Notfallplan – zehn Fragen und Antworten
Die Gasreserven sind knapp, weitere Lieferungen aus Russland werden unsicherer. Die Regierung rechnet mit einer Arbeitslosenwelle und erwägt ein Rettungspaket.
Robert Habeck hat nicht viel Zeit. Gleich muss der Vizekanzler in die wöchentliche Kabinettssitzung, doch davor hat der Grünen-Politiker kurzfristig am Mittwochmorgen um 08.30 Uhr im Wirtschaftsministerium zur Pressekonferenz geladen. 15 Minuten, dann müsse sie „abbinden“, sagt seine Sprecherin, dann verkündet Habeck, dass man den „Notfallplan Gas“ aktiviere, indem man die sogenannte „Frühwarnstufe“ ausrufe.
"Es ist eine Präventions- oder Vorsorgeentscheidung, die ich heute getroffen habe“, sagt Habeck. Für den Fall, dass ein Gas-Lieferstopp aus Russland unmittelbar bevorsteht. Nachdem die G7-Staaten die Forderung des russischen Präsidenten Wladimir Putin abgelehnt haben, Gaslieferungen nicht mehr in Dollar oder Euro, sondern in Rubel zu bezahlen, rechnet der Wirtschaftsminister mit einer Reaktion aus Moskau. „Wir gehen den Schritt heute, weil für morgen angekündigt wurde, dass die russischen Offiziellen die gesetzlichen Änderungen vorstellen werden“, sagt Habeck.
1. Macht Putin Ernst?
Tatsächlich hatte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Dienstag mit einem Lieferstopp gedroht. „Keine Bezahlung – kein Gas“, sagte er. Am Mittwochmittag, einige Stunden nach Habecks Auftritt, kommt aus Russland ein scheinbares Signal der Entspannung. Die Umstellung der Zahlungen für Gaslieferungen nach Europa auf Rubel wird noch nicht am Donnerstag in Kraft treten. Die Lieferung von Gas und die Bezahlung seien getrennte Prozesse, sagt Peskow.
In Berlin bleibt man trotzdem skeptisch. Und im Laufe des Tages steigt die Verwirrung noch.
Der russische Präsident Wladimir Putin telefoniert auf eigenen Wunsch mit Kanzler Olaf Scholz (SPD), teilt ihm mit, dass er ein Gesetz erlassen werde, wonach Gaslieferung ab 1. April in Rubel zu begleichen seien.
Das erfuhr der Tagesspiegel aus Regierungskreisen. Auch der Kreml berichtete über das Telefonat. Zugleich betonte er in dem Gespräch, dass sich für die europäischen Vertragspartner nichts ändern werde.
Die Zahlungen würden weiterhin ausschließlich in Euro ergehen und wie üblich an die Gazprom-Bank überwiesen, die ja nicht von den westlichen Sanktionen betroffen sei. Die Bank konvertiere dann das Geld in Rubel.
Scholz habe diesem Verfahren aber ausdrücklich nicht zugestimmt, sondern um schriftliche Informationen gebeten, hieß es von deutscher Seite.
Es bleibe dabei, dass die G-7 Vereinbarung gelte: Energielieferungen werden ausschließlich in Euro oder Dollar bezahlt. So wie es die Verträge vorsehen, hieß es in deutschen Regierungskreisen.
Ob dies bedeutet, dass der im Raum stehende Gaslieferstopp erst einmal vom Tisch ist, ist unklar. Ein Lieferstopp könnte hunderttausende Arbeitsplätze in Deutschland gefährden – zugleich würden Russland dann die Milliardenzahlungen von Deutschland und anderen EU-Staaten entgehen.
Nach allen Erfahrungen mit Putin bereitet sich die Bundesregierung lieber weiter auf den Ernstfall vor.
2. Was bedeutet der Notfallplan Gas?
Die Ausrufung der Frühwarnstufe ist ein symbolischer Schritt. Dadurch wird nun im Wirtschaftsministerium ein Krisenstab eingerichtet von Mitarbeitern des Ministeriums, der Bundesnetzagentur, den Marktgebietsverantwortlichen, den Fernleitungsbetreibern und Vertreter der Bundesländer. Er soll täglich tagen und die Gaslieferungen überwachen, damit bei einer Drosselung oder dem Stopp von Lieferungen sofort reagiert werden kann. Zudem muss der Krisenstab täglich schriftliche Berichte an die EU-Kommission senden.
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Erst in der dritten und finalen Stufe, der sogenannten „Notfallstufe“, würde der Staat aktiv in den Gasmarkt eingreifen. „Um in diese Stufe zu kommen, müsste sich die Situation dramatisch verschlechtern“, sagte Habeck. Sollte Putin die Lieferungen stoppen, würde sein Ministerium die „Notfallstufe“ ausrufen. Dann würde das Ministerium das knappe Gas rationieren. Gesetzlich ist dabei geregelt, dass private Haushalte zum Heizen sowie Notfallinfrastruktur wie Krankenhäuser oder Feuerwehr prioritär versorgt werden müssen. Rationiert beziehungsweise abgeschaltet werden könnten also vor allem Unternehmen.
Doch es bleiben viele Fragen offen. Die Stadtwerke forderten von der Bundesregierung und der Bundesnetzagentur „klare Kriterien und Rechtssicherheit bei der im Knappheitsfall erforderlichen Priorisierung, wem weiterhin wie viel Gas geliefert werden kann“, teilte der Verband kommunaler Unternehmen mit. Auch die Geschäftsführerin des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft, Kerstin Andreae, forderte Klarheit. Es brauche eine Positiv-Liste, „die festlegt, welche Industrien und Sektoren weiterhin mit Gas versorgt werden“.
3. Wie lange reicht das Gas?
Diese Frage will Habeck am Mittwoch nicht konkret beantworten. Zu viele unsichere Variablen bestimmen den Gasverbrauch. Es wird vor allem auf die Erdgasspeicher ankommen. Deutschland besitzt die viertgrößten Speicherkapazitäten der Welt, doch die sind aktuell nur zu 26 Prozent gefüllt. Der größte Gasspeicher Deutschlands ist ausgerechnet in der Hand einer Gazprom-Tochterfirma und ist nur zu 0,55 Prozent gefüllt.
Normalerweise füllen die Betreiber die Speicher über den Sommer langsam auf. Ein neues Gesetz verpflichtet sie eigentlich auch dazu, dass die Speicher Anfang Dezember zu 90 Prozent gefüllt sein müssen. Doch wenn Putin nun den Gashahn zudreht, könnte das kompliziert werden. Die Gaslieferungen aus Norwegen, den Niederlanden, den USA und Katar könnten dann direkt in die Industrie fließen, statt zum Auffüllen der Speicher genutzt zu werden. Habeck will das offenbar vermeiden. „Die entscheidende Frage ist, wie voll die Speicher im Herbst sind“, sagt er. Bei einem Lieferstopp könnten also schon bald Abschaltungen drohen.
4. Wer zittert besonders?
Die Chemieindustrie. Mit einem Anteil von 15 Prozent ist sie der größte industrielle Verbraucher von Erdgas. Insgesamt braucht die Branche rund 140 Terawattstunden im Jahr. Die chemisch-pharmazeutische Industrie in Deutschland setze rund 2,8 Millionen Tonnen Erdgas als Rohstoff (27 Prozent des Gesamtverbrauchs) und über 99 Terawattstunden Erdgas (73 Prozent) für die Erzeugung von Dampf und Strom ein, heißt es vom Branchenverband VCI. Erdgas sei mit Abstand der wichtigste Energieträger in der chemischen Industrie.
70 Prozent der Unternehmen berichten dem Branchenverband VCI zufolge jetzt schon über gravierende Probleme durch die hohen Energiepreise. 85 Prozent geben an, dass sie steigende Produktions- und Beschaffungskosten entweder gar nicht oder nur zum Teil weitergeben können. Andere besonders betroffene Branchen wären die Stahlindustrie – und in der Folge dann die Autoindustrie. Auch in der Glasindustrie zittert man, da ohne ausreichend Gas die Glasschmelzen in den Betrieben erkalten können – sie laufen rund um die Uhr mit Temperaturen von rund 1500 Grad Celsius, schon wegen der stark gestiegenen Energiekosten bangen Betriebe um das Überleben. Mittelfristig werden Alternativen gesucht, aber kurzfristig lässt sich russisches Erdgas, das trotz neuer Lieferverträge für Flüssigerdgas immer noch einen Anteil von rund 40 Prozent hat, schlicht nicht ersetzen.
5. Wie viele Jobs sind in Gefahr?
Über die genauen Auswirkungen eines Energie-Embargos – ob nun freiwillig oder nicht – diskutieren Politik und Ökonomen seit Wochen. Die Bundesregierung fürchtet einen kurzfristigen Anstieg der Arbeitslosenzahlen wie seit vielen Jahren nicht. Habeck sprach gar von „Massenarbeitslosigkeit“. Der Vorsitzende der Chemiegewerkschaft IG BCE und Aufsichtsratsmitglied von BASF, Michael Vassiliadis, sagte im Deutschlandfunk, bei einer Gasversorgung unter 50 Prozent müsse ein Verbundstandort wie Ludwigshafen ganz heruntergefahren werden. „Alle würden in Kurzarbeit gehen oder ihren Job verlieren.“ Der Ausfall könne „über einen relativ kurzen Zeitraum Hunderttausende Arbeitsplätze kosten“. Allein in Ludwigshafen arbeiten rund 39000 Menschen. Bundesweit sind in der Chemieindustrie rund 466000 Menschen beschäftigt. Hier ist die Abhängigkeit vom Gas deshalb so groß, weil die Prozesse miteinander verknüpft sind. In den Verbundstandorten, die oft als Chemieparks betrieben werden, wird Erdgas stofflich wie auch in hohem Maß zur Strom- und Wärmeerzeugung eingesetzt.
6. Warum droht ein Dominoeffekt?
Chemische Produkte sind in sehr vielen Bereichen die notwendigen Vorprodukte, für Kunststoffe, Klebstoffe, Lacke, Waschmittel, Pharmazeutika. Ohne Erdgas bricht zum Beispiel auch die Ammoniakherstellung zusammen. Ammoniak gehört laut VCI mit einer Kapazität von rund 2,5 Millionen Tonnen pro Jahr zu den wichtigsten Grundchemikalien in Deutschland. Ammoniak braucht man zum Beispiel zur Herstellung von Düngemitteln, Lösemitteln, Kunststoffen und medizinischen Produkten. Ein Teil fließe zudem über die Harnstoffsynthese in die Produktion von AdBlue für die Abgasreinigung von Dieselfahrzeugen.
VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup betont auf Tagesspiegel-Anfrage: „Unterstützungsmaßnahmen werden vom Staat im Fall eines Lieferstopps zwingend notwendig sein.“ Schon jetzt leide besonders der energieintensive Mittelstand unter den dramatisch gestiegenen Energiepreisen. „Eine Insolvenzwelle in mittelständischen Unternehmen würde zu einer erheblichen Veränderung und Schwächung der Industriestruktur in Deutschland führen. Ein dauerhafter Wohlstands- und Wachstumsverlust wäre vorprogrammiert.“ Es brauche in jedem Fall Überbrückungshilfen, wenn eine dauerhafte Erosion der industriellen Basis vermieden werden solle.
7. Was können Verbraucher tun?
So direkt wie noch nie wendet sich Habeck am Mittwoch an die Bevölkerung. Unternehmen und private Haushalte sollten möglichst den Energieverbrauch reduzieren. „Jede eingesparte Kilowattstunde Energie hilft“, sagte der Grünen-Politiker. Wer die Heizung runterdrehe, schone nicht nur den Geldbeutel und das Klima, sondern ärgere auch Putin. „Sie helfen uns, Sie helfen Deutschland, Sie helfen der Ukraine, wenn Sie Gas oder Energie insgesamt einsparen“, sagte Habeck.
Vor gesetzlichen Verpflichtungen zum Energiesparen schreckt er aber offenbar noch zurück. Zuletzt hatten Verbände und Parteifreunde Habecks etwa ein Tempolimit und autofreie Sonntage gefordert. Einer aktuellen Umfrage des Energiedienstleisters Techem zufolge ist das Thema Energieeffizienz längst bei Verbrauchern angekommen. 76 Prozent der Befragten würden inzwischen stärker auf ihren Energieverbrauch achten, 45 Prozent planen, den Einsatz von Heizöl und Gas in ihren Liegenschaften zu reduzieren. Auch die Vermieter scheinen zu reagieren. 57 Prozent der Befragten wollen demnach zeitnah auf erneuerbare Energien umsteigen oder smarte Thermostate nutzen.
8. Was plant die Politik?
Zwischen Kanzleramt, Wirtschaftsministerium und Finanzministerium wird nach Tagesspiegel-Informationen über das nächste Milliardenpaket beraten, vor allem für den Fall, dass die jüngste russische Ankündigung eine weitere Finte ist, es also in den nächsten Wochen doch zu einer drastischen Einschränkung der Gaslieferungen kommen sollte. Denn Wladimir Putin wird schlicht nicht mehr getraut. Der Wirtschaftsberater von Kanzler Olaf Scholz, Staatssekretär Jörg Kukies, ist eng in die Beratungen eingebunden. Eine diskutierte Option ist, dass der bisher für die Bewältigung der Folgen durch die Corona-Pandemie aufgelegte Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) in einen Hilfsfonds für Unternehmen umgewandelt werden könnte. Er soll noch mit rund 150 Milliarden Euro gefüllt sein. Die bisher bis Juni verlängerten Kurzarbeit-Regelungen könnten erneut verlängert werden.
[Berliner Reaktionen auf „Frühwarnstufe Gas“: Fällt die Fernwärme aus, kommt es zur Belastungsprobe. Lesen Sie alle Hintergründe bei Tagesspiegel Plus]
Laut Wirtschaftsministerium könnte auch ein neues Kreditprogramm der staatlichen KfW-Förderbank aufgelegt werden. Fällt aber das Wirtschaftswachstum deutlich geringer aus oder Deutschland rutscht in die Rezession, sinken automatisch die Steuereinnahmen. Für Finanzminister Christian Lindner dürfte es mit einer sich abzeichnenden Neuverschuldung von weit über 100 Milliarden Euro immer schwerer werden, 2023 das von ihm verfolgte Ziel zu schaffen, die Schuldenbremse wieder einzuhalten. Der Sachverständigenrat (SVR) zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung schätzt, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in diesem Jahr nur noch um 1,8 Prozent statt der bislang erwarteten 4,6 Prozent zulegen wird. Da sind aber Produktionsunterbrechungen durch Gasmangel nicht einkalkuliert.
9. Warum gerät Deutschland in der EU zunehmend unter Druck?
Weil der Krieg zeigt, dass all die Warnungen in Richtung von Angela Merkel und des früheren Außenministers und heutigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier richtig waren, dass Deutschland sich und Europa viel zu sehr von russischen Energielieferungen abhängig gemacht hat.
Nord Stream 2 liegt wie ein Mahnmal für eine gescheiterte Appeasement-Politik auf dem Boden der Ostsee. Die Grünen, nun in Regierungsverantwortung, hatten SPD und Union immer wieder gewarnt. Nun wird man im Rubel-Streit auch noch zum Spielball Putins, einen Energieboykott wollte und konnte die Bundesregierung wegen der drohenden Verwerfungen nicht von sich aus verhängen.
10. Wie reagieren andere EU-Länder?
Andere Länder können sich schneller unabhängiger machen. Polens Regierung hat angekündigt, dass man ab April oder Mai auf russische Kohlelieferungen verzichten will, spätestens ab Dezember auf Öl und ebenso auf Gas. Also eine Energie-Unabhängigkeit von Russland bis Ende 2022.
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Regierungschef Mateusz Morawiecki betont, man werde den radikalsten Plan in Europa für den Ausstieg vorlegen – ein Fingerzeig auch an Berlin. Gerade osteuropäische Staaten halten Deutschland weiterhin für viel zu zögerlich. Habeck sieht Gaslieferungen aus Russland für die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, Deutschland, noch bis 2024 als notwendig an. „Sponsert bitte nicht die Kriegsmaschine von Russland“, hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj an Deutschland appelliert.
Doch wie kompliziert die Debatte ist, welche Verwerfungen drohen können, zeigen die Einschätzungen der Industrie. Das Tragen von Pullovern in nicht mehr so stark geheizten Wohnungen möge vielleicht gehen, aber anderswo breche die ganze Produktion zusammen.