Die Not der Flüchtlinge: Warum uns dieses Bild nicht loslässt
Manche Bilder vergisst man nicht, sie prägen das Bild des Krieges. Das Foto des dreijährigen Ailan wird für lange Zeit verbunden sein mit dem Tod der Flüchtlinge. Der Anblick ist unerträglich. Es zu zeigen, eine Pflicht.
Der Strand. Die sanfte Welle, die über die Kiesel rollt. Der kleine Körper. Es ist ein Bild, von dem man sich abwendet. Es ist ein Bild, von dem man sich nicht losreißen kann. Entsetzlich und endgültig ist die Stille, die von ihm ausgeht. Der Junge liegt da, mit seinen Turnschuhen, blauer Hose, rotem Hemd. Der Arm seitlich angelegt, der Kopf dem Meer zugewandt, allein. Das Wort drängt sich auf: mutterseelenallein.
In diesem Meer, im Mittelmeer, ist der dreijährige Ailan am Mittwoch ertrunken. Dieses Meer, das in der römischen Antike mare nostrum – unser Meer – genannt wurde, hat ihn angespült. Weißes Meer, so heißt im Arabischen und Türkischen. Bald jeden Tag sterben hier Menschen auf der Flucht nach Europa. Wenn man von den Grundlagen der Menschheit spricht, von Kultur und Kunst, Zivilisation und Religion, dann landet man stets hier, im Mittelmeerraum, an seinen Rändern. Jetzt wird es zum Massengrab.
Darf man das überhaupt?
Das Foto der Kinderleiche am Strand von Bodrum, dem türkischen Urlaubsort, löst Emotionen und Gedanken aus, auch Fragen, wie kein anderes. Es erschüttert die Welt. Das ist keine Floskel, man kann es sehen, lesen, überall in den sozialen Netzwerken, in digitalen und gedruckten Zeitungen. Unerträglich, unauslöschlich. Das Bild des kleinen Jungen geht nicht mehr aus dem Kopf. Warum ist das so? Warum bewegt diese Aufnahme, dieser Moment, mehr als all die Bilder, die auf uns einprasseln in den Nachrichten?
Und darf man das überhaupt – das Bild des kleinen Jungen am Strand vergleichen mit dem Foto des geöffneten Lastwagens in Österreich, in dem 71 Menschen jämmerlich erstickt sind? Darf man solche Bilder zeigen, wo wäre eine Grenze des Geschmacks, des Anstands, der Pietät? Was fängt man an mit all diesen Kategorien, denen sich die Wirklichkeit leider nicht nur nicht anpassen will, sondern permanent entzieht?
Gefühle lassen sich nicht verleugnen. Auch Tatsachen nicht. Der Anblick der Leichen in dem Lastwagen erregte Wut, Ekel, Abscheu und das unmittelbare Bedürfnis, zu erfahren, wie schnell die für dieses Verbrechen verantwortlichen Schlepper und Fahrer gefasst werden. Das Horrende des Geschehens springt unmittelbar ins Auge. Auch in dem LKW waren Kinder. Sie bleiben anonym. Sie erreichen unsere Fassungslosigkeit und Trauer letztlich nicht.
Aber das Kind. Der Junge am Strand. Ein erster Gedanke: Er lebt noch. Vielleicht ist er nur bewusstlos. Oder ist er eingeschlafen? Dann wäre er in großer Gefahr.
So viel schießt einem durchs Hirn, Fragen wider besseres Wissen. Man möchte hinzuspringen, den Kleinen aufheben, wachrütteln, versorgen, das ist der unmittelbare menschliche Impuls. Es gibt auch dieses Bild: Der Junge liegt nicht mehr am Strand. Ein Polizist hält ihn im Arm. Da weiß man, was man ohnehin wusste. Der Junge lebt nicht mehr.
Das Sinnbild einer Katastrophe
Auch wenn die sich aufdrängende Assoziation manch einem kitschig erscheint und vieles nicht zusammenpasst, auch wenn es ein Mann ist, keine Frau, die den Jungen birgt: Es wirkt wie eine Pietà, ein christliches Grundmotiv. Das Urbild. Die Mutter und ihr toter Sohn. Das Bild, das uns so sehr quält und beschäftigt, hat etwas Ikonisches. Mit diesem Bild wird sich das Elend, die Not und der Tod der Flüchtlinge auf lange Zeit verbinden. Es mag absurd erscheinen, aber der Junge, den wir nur von hinten sehen auf dem Foto, ist das Sinnbild der Katastrophe.
Was aber, wenn das Bild gestellt wäre? Wenn jemand das Kind auf den Strand gelegt hätte, um eben die ungeheure Wirkung zu erzielen, die das Bild auf so viele Menschen ausübt? Es würde nicht viel ändern. Etliche Fotos, die in anderen Weltzusammenhängen historische Bedeutung erlangten, sind nicht unmittelbar aus dem Moment heraus entstanden, da wurde mehr oder weniger nachgeholfen.
Inzwischen ist die Identität des Jungen bekannt. Nach Informationen aus mehreren Quellen stammte die Familie aus Damaskus. Sie flohen über Aleppo und Kobane in die Türkei. Vater, Mutter und zwei Söhne wagten die Überfahrt von Bodrum auf die griechische Insel Kos. Ihr Ziel war Kanada, dort warteten Verwandte der Familie Shenu. Ailans Bruder Galip war fünf Jahre alt. Die beiden Kinder und ihre Mutter sind ertrunken, als das völlig überladene kleine Boot kenterte. Der Vater hat überlebt.
Um Kobane, einer von Kurden bewohnten Stadt in Nordsyrien, haben die Terroristen des Islamischen Staats und kurdische Truppen erbittert gekämpft. Hunderttausende Menschen sind über die Grenze in die nahe Türkei geflohen.
Kurden werden von den türkischen Behörden schlecht behandelt. Sie bekommen nicht die Papiere ausgestellt, mit denen sie auf sicherem Weg ausreisen könnten. Ohne Ausreisevisum kommen sie nicht nach Kanada. In Vancouver lebt eine Tante von Ailan und Galip. Sie hatte darum gekämpft, sie aufnehmen zu dürfen.
Es sind immer die Kinder, die zu den Gesichtern eines Krieges werden
Nun gehen auch fröhliche Kinderbilder der beiden um die Welt, mit Stofftier, sie lachen in die Kamera. Doch sogleich schiebt sich wieder das Bild vom Strand davor. Warum ist das so, es will sich doch niemand am Elend weiden?
Wie der Junge da liegt am Wasser – es ist die Schutzlosigkeit des Kindes, die Zartheit des zerstörten Lebens, die so tief berühren, es ist das Bild der Unschuld, das nicht weichen will.
Aber immer mehr Informationen kommen hinzu, ein Szenario unvorstellbarer Grausamkeit zeichnet sich ab. In türkischen Medien berichten Überlebende, die Schleuser hätten 17 Menschen in ein Boot getrieben, in dem nur Raum für zehn Insassen war. Dann nahmen sie den Flüchtlingen die Schwimmwesten ab, um noch mehr Menschen loszuschicken. Das jüngste Opfer ist ein neun Monate altes Baby. Mit einer Schwimmweste hätte es eine Überlebenschance gegeben.
Es sind die Kinder. Es sind immer die Kinder, wenn solche Bilder zum Gesicht eines Krieges werden. Das darf man nicht vergessen: Die syrischen Flüchtlinge kommen aus einem Krieg mit vielen Fronten, ihr Land ist zerrissen, ihre Städte sind zerstört, ihre Fluchtwege lebensgefährlich.
Ein nacktes Mädchen rennt schreiend über eine Straße. Neben ihr laufen andere Kinder, bekleidet. Im Hintergrund Soldaten und dichter Qualm. Das Foto, entstanden im Juni 1972, wurde zum Bild des Vietnamkriegs. Ein junger vietnamesischer Fotograf hat es geschossen. Er und seine Kollegen standen an der Straße in Erwartung eines Luftangriffs der Südvietnamesen. Im Dorf lagen Soldaten des Nordens. Die Flugzeuge warfen Napalm ab. In einer solchen Situation kam es zu einem der eindringlichsten Kriegsfotos des 20. Jahrhunderts. Die „New York Times“ brachte es am nächsten Tag auf der Titelseite. Das Mädchen hieß Kim Phúc, damals neun Jahre alt. Gisèle Freund, die berühmte Fotografin, sagte, „dieses Bild wird für immer im Gedächtnis jener bleiben, die es gesehen haben“.
Hatte die Verbreitung des Fotos Einfluss auf die Polizeiarbeit?
So wie das Bild des Jungen, der vor der türkischen Küste ertrunken ist. Es bewegt selbst die Menschen, die es nicht über sich bringen, es anzuschauen. Dann spricht man darüber. So wirkt ein Bild auch durch die Worte, die Gespräche, die es auslöst. Darum darf man diese Bilder nicht unterdrücken. Weil die Hoffnung besteht, dass sie etwas verändern in den Ländern, die keine oder nur eine geringe Bereitschaft zeigen, Flüchtlinge aufzunehmen. Weil es ja sein kann, dass Politiker ihre Haltung überdenken, die Hilfsbereitschaft überhaupt zunimmt. Weil Bilder in einer von Bildern beherrschten Welt eine Waffe sein können. Das wissen auch die IS-Terroristen. Sie produzieren Horrorvideos, um ihre Macht zu demonstrieren.
Aber offenbar wirkt das Foto eines toten Jungen am Strand stärker als die grauenhaften Bilder, die der IS verbreitet. Auch das könnte eine Hoffnung sein: Empathie ist eine größere Kraft als Hass und Abscheu. Auch darin liegt ein Grund, ein Bild zu zeigen, dessen Anblick man seinen eigenen kleinen Kindern möglicherweise nicht zumuten möchte. Aber warum nicht? Flüchtlingskinder kommen hier in die Schulen, überall spricht man über das Thema. Und hier ist eine furchtbare Geschichte, die ein Kind nachfühlen kann: Ein Junge ertrinkt auf der Flucht, weil Verbrecher diese Flucht organisieren und die Länder, die Rettung verheißen, nicht oder in nicht ausreichendem Maß in der Lage sind, die Menschen auf der Flucht wenigstens vor dem Schlimmsten zu bewahren.
Und dann irritiert die Nachricht doch, dass am Donnerstag in der Türkei vier aus Syrien stammende Männer verhaftet wurden, die Ailan und Galip und zehn andere Flüchtlinge auf dem Gewissen haben sollen. Ist es nicht möglich, die Schleuser vorher zu stoppen? Oder soll ein schneller Fahndungserfolg nur die öffentliche Weltmeinung beruhigen? Hatte die blitzartige Verbreitung des Fotos einen Einfluss auf die Polizeiarbeit? Das Bild des toten Jungen vom Strand ist zum Politikum geworden.
Shabal Gurla war zwölf Jahre alt, als ein amerikanischer Fotograf sie in einem Flüchtlingslager in Pakistan entdeckte. Ihr Porträt 1985 auf dem Cover von „National Geographic“ wurde zu einer Ikone. Die grünen Augen, der wilde Blick – Shabal war das Bild des afghanischen Mädchens, des afghanischen Volks im Krieg. Siebzehn Jahre später fand der Fotograf sie wieder. Sie lebte. Und war neuen Drangsalen ausgesetzt. Da war sie 30 und hatte drei Töchter, sie wusste nichts von ihrer Berühmtheit.
Hatte der Fotograf sie benutzt? Immer stellt sich bei solchen Bildern, zumal wenn Kinder abgebildet sind, die Frage der Ästhetisierung des Elends und Schreckens. Das Foto vom Strand übt eine schlimme Magie aus. Man starrt darauf, wieder und wieder. Als wehrte sich der Kopf zu begreifen und anzuerkennen, was das Gefühl weiß: Der Junge ist tot. Man schaut auch deswegen immer wieder zu dem Bild, weil man sich einbildet, es könnte sich verändern. Der Junge stünde auf und würde davonlaufen.
Die Ästhetik des Horrors
Und ja: Es hat etwas mit Ästhetik zu tun. Die Welle. Der Strand. Der kleine Körper. Es ist wie aus einem Horrorfilm. Das rote Hemdchen. Steven Spielberg hat „Schindlers Liste“ in Schwarzweiß gedreht. Aber da gibt es das Mädchen mit dem roten Kleid, das zweimal auftaucht. Durch das Mädchen in der Menge wird der Tod schockartig sichtbar – der Tod von Millionen Menschen in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten.
Dort ein filmischer Trick, hier das Foto eines Pressefotografen. Ein Kind ist ertrunken. Tausende Flüchtlinge sterben. Jetzt soll keiner sagen, er habe es nicht gesehen, nicht gewusst, wie dramatisch die Situation ist, ein paar Flugstunden von hier, in unseren Urlaubsorten.
Und nur durch das Foto weiß man jetzt auch: Der tote Junge am Strand ist der dreijährige Ailan. Frieden kannte er nicht. Er war sein ganzes, kurzes Leben auf der Flucht.