Deutschland im Corona-Herbst: „Herr Spahn, kommt der zweite Lockdown?“
Die Infektionszahlen steigen sprunghaft an, die Kanzlerin lädt zum nächsten Corona-Krisentreffen. Wie kann die Lage wieder unter Kontrolle gebracht werden?
Jens Spahn kann die Frage nicht mehr hören. "Kommt der zweite Lockdown?" Der Gesundheitsminister warnt vor einer Verunsicherung der Bürger und bittet am Donnerstag in der Bundespressekonferenz „gewisse Überschriftenlogiken zu vermeiden.“ Dann macht er klar, warum aus seiner Sicht ein neuer Lockdown nicht zu fürchten ist: „Wir haben keine Ausbrüche beim Einkaufen, keine Ausbrüche beim Friseur, ganz wenige im Nahverkehr.“
Dank der Masken. Ansteckungen mit dem Coronavirus gebe es offenbar vor allem, wenn Alkohol im Spiel sei. Die über 4000 Neuinfektionen vom Mittwoch zeigen aber: Der Corona- Herbst wird eine schwierige Probe – das bundesweit zunehmende Ausbruchsgeschehen weist auf bestimmte Risiken hin.
Warum ist die Lage so brenzlig?
Als Bundeskanzlerin Angela Merkel am 28. August vor 19200 Neuinfektionen am Tag bis Weihnachten warnte, wurde das als Alarmismus kritisiert. Sie erklärte die Rechnung so: Im Juli, August und September hätten sich die Infektionszahlen drei Mal verdoppelt. Von 300 auf 600, von 600 auf 1200, von 1200 auf 2400. Wenn das in den nächsten drei Monaten wieder so wäre, käme man im Oktober von 2400 auf 4800, im November von 4800 auf 9600 und bis Weihnachten dann von 9600 auf 19200.
Da aber nun schon Anfang Oktober fast 4800 tägliche Neuansteckungen erreicht sind, könnte Merkels Prognose sogar übertroffen werden. Besonders das Ausbruchsgeschehen in großen Städten macht Sorge, erst München, nun Berlin, wo die ganze Stadt nun Risikogebiet ist, Frankfurt, Bremen und weitere Städte entwickeln sich zu Hot Spots der Pandemie – hier sind die Räume enger, es gibt mehr Begegnungen.
Merkel hat für diesen Freitag die erste Videokonferenz mit den Stadtoberhäuptern von elf Städten angesetzt, in denen die Grenze von 50 Neuinfektionen je 100000 Einwohner in sieben Tagen erreicht oder überschritten wurde. Ein Risiko liegt auch im zuletzt nicht mehr einheitlichen Handeln von Bund und Ländern bei Reisen, Obergrenzen für Feiern und Maskenpflicht: Das mindert die Akzeptanz für Einschränkungen.
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Ist die Zahl der Neuinfektionen ein sinnvolles Kriterium?
Die sogenannte 7-Tage-Inzidenz wurde im Rahmen der bundesweiten Hotspot- Strategie festgelegt – bis zu 50 Fällen unter 100000 Menschen in sieben Tagen gilt die Verfolgung von Kontakten der Infizierten als leistbar. Für Spahn ist es völlig unverständlich, dass der Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg trotz der dort hohen Zahlen die angebotene Hilfe von Bundeswehrsoldaten bei der Kontaktnachverfolgung strikt ablehnt.
In Deutschland bewähren sich, anders als im zentralistischen Frankreich, gerade die lokalen Strukturen mit den Gesundheitsämtern: So kann schneller und präziser reagiert und entschieden werden. Bundesweit liegt die 7-Tages-Inzidenz bei 20,2 Fällen je 100000 Einwohner, im Juni waren es nur 3 Fälle. In den kommenden Tagen werden immer mehr Kreise und Städte die 50er-Grenze reißen.
Aktuell gibt es rund 1,1 Millionen Tests bundesweit pro Woche. Viel mehr können die Labore nicht verarbeiten – in Berlin sind die Kapazitäten bereits ausgeschöpft. Die Quote positiver Testergebnisse liegt bei 1,64, in der Hochphase der ersten Welle lag sie bei bis zu 9 Prozent. Bald soll es Schnelltests geben, bei denen es in wenigen Minuten ein Ergebnis gibt.
Gibt es nicht weniger schwere Fälle?
Ja, aber die Entwicklung in Frankreich oder Spanien wird mit Zeitverzug auch hier Einzug halten. „In fast ganz Europa befinden wir uns gerade in der Beschleunigungsphase. Und das bereits Anfang Oktober – nicht mal drei Wochen nach Herbstbeginn“, warnt die Virologin Sandra Ciesek.
Die Genfer Virologin Isabella Eckerle betont: "Es ist nur eine Frage der Zeit, bis in den Krankenhäusern die Zahlen ansteigen. Ich habe das zuerst in Florida verfolgt. Wie bei uns auch, ist das Virus dort im Sommer vor allem bei jungen Leuten zirkuliert, aber die Zahl der Patienten in den Krankenhäusern und der Todesfälle blieb niedrig." Von den Jungen sei das Virus dann weitergewandert in höhere Altersgruppen: "Die stecken sich an, landen nach wenigen Wochen im Krankenhaus und wieder ein paar Wochen später sterben sie."
Die deutschen Pflege- und Altenheime sind besser vorbereitet, haben Schutzkonzepte entwickelt. RKI-Chef Lothar Wieler berichtet bei der Pressekonferenz mit Spahn, bisher seien seinem Institut in Deutschland 310.144 Corona-Infektionen gemeldet worden, es habe 9578 Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 gegeben, das sind 3,1 Prozent der registrierten Infektionen.
Seit September steigt der Anteil Infizierter in älteren Altersgruppen wieder. Es sei ein großer "Trugschluss" zu glauben, das Virus sei ungefährlicher geworden. Spahn betont, "es ist und bleibt eine sehr sehr ernsthafte Erkrankung". Gerade für die Eltern – und ein 20-Jähriger habe auch Großeltern, die er besucht.
Berlin zeige, was bei sorglosen und ignorantem Verhalten passieren könne. "Die Pandemie ist auch ein Charaktertest für uns als Gesellschaft", sagt Spahn: Jeder solle prüfen, ob eine Reise notwendig ist oder man die Einladung zu einer Feier mal ausschlägt.
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Kann die Lage außer Kontrolle geraten?
Bisher deutet nichts darauf hin. Aktuell müssen 470 Covid-19-Patienten intensivmedizinisch behandelt werden, das sei eine niedrige Zahl, sagt Wieler. "Aber: Die Zahl hat sich in vier Wochen verdoppelt" Aktuell sind 8472 Intensivbetten frei, binnen sieben Tagen wäre eine Notfallreserve von 12152 Betten zusätzlich verfügbar. "Wir haben eine Reserve, die die Gesamtkapazität von Spanien und Italien umfasst", sagt Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung: "Wir sind seit davon entfernt einer Überlastung entgegenzusteuern." In Berlin sieht es nicht ganz so gut aus. Es gibt zwar nur 40 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, aber 1038 Intensivbetten sind belegt, nur 193 sind frei. Allerdings gibt es auch hier eine 7-Tages-Reserve von 446 Intensivbetten.
Wo ist das Risiko besonders groß?
Bei vielen kleinen Feiern und Zusammenkünften entstehen diffuse Ausbruchsgeschehen. Wie glimmende Brandnester, die nicht mehr alle auszutreten sind, machen sie die Lage schwer kontrollierbar.
"Fallhäufungen werden insbesondere beobachtet im Zusammenhang mit Feiern im Familien- und Freundeskreis sowie u.a. in Alten- und Pflegeheimen, Krankenhäusern, Einrichtungen für Asylbewerber und Geflüchtete und Gemeinschaftseinrichtungen", berichtet das RKI. Der Anteil von Ansteckungen im Ausland sei wieder unter 10 Prozent gesunken.
Für Reiserückkehrer aus Risikogebieten greift ab Mitte des Monats eine Quarantänepflicht, die erst nach frühestens fünf Tagen durch einen negativen Corona-Test beendet werden kann, oder wie Spahn betont: Durch eine "Freitestung".
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RKI-Chef Wieler hat vor allem drei G-Gefahren für den Corona-Herbst ausgemacht: „Geschlossene Räume, Gruppen und Gedränge, Gespräche in lebhafter Atmosphäre und mit engem Kontakt.“ Es laufe in Deutschland bisher einigermaßen gut, weil sich die meisten an die Maßnahmen gehalten haben.
Spahn meint zum alkoholischen Mäßigungsapell des nordrhein-westfälischen Gesundheitsministers Karl-Josef Laumann (Bier ist okay, Schnaps lieber nicht): „Er hat das sehr lebensnah betrachtet an dieser Stelle.“ Wenn es nach dem Minister geht, ist jetzt Verzicht statt Feiern geboten. Helfen sollen in Städten wie Berlin Sperrstunden und nächtliche Alkoholverbote. Gastronomen, Hotels und Reiseveranstalter spüren die Vorsicht schon – ihnen drohen neue ökonomische Verwerfungen.
Wo gibt es Hoffnungsschimmer?
Es geht oft um Buchstaben in dieser Pandemie. Die AHA-Regeln (Abstand, Hygiene, Alltagsmaske) werden um ein "L" erweitert. L wie Lüften. Das ist auch für Berlin von großer Bedeutung. Martin Kriegel, Leiter des Instituts für Energietechnik an der TU Berlin erklärt, wie durch Husten, Singen, und Sprechen in Räumen die Zahl der virenbeladenen Partikel und Schwebeteilchen ansteigt – und wieder eingeatmet werden.
Je mehr saubere Luft hinzugeführt werde, desto besser. Man halbiere das Risiko, wenn die frische Luftmenge verdoppelt wird. Auch aus dem folgenreichen Corona-Ausbruch in der Fleischfabrik Tönnies wurden diese Lehren gezogen. Helfen soll ein 500-Millionen-Programm für Luftfilter, das Bundeswirtschaftsministerium organisiert die Förderrichtlinien. "Gut gelüftete Räume sind einfach nicht so risikobehaftet", versichert Kriegel.
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