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Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Donnerstag in Berlin
© Imago Images/Christian Thiel

RKI meldet mehr als 4000 Neuinfektionen: Spahn nennt Pandemie „Charaktertest für unsere Gesellschaft“

Die Zahl der positiven Tests auf Corona ist binnen 24 Stunden extrem gestiegen. Gesundheitsminister Spahn und RKI-Chef Wieler mahnen die Bürger eindringlich.

Angesichts sprunghaft gestiegener Coronavirus-Infektionszahlen in Deutschland haben Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, eindringlich an die Deutschen appelliert, die bestehende Corona-Regeln und -Empfehlungen einzuhalten.

„Die Infektionszahlen steigen besorgniserregend stark“, sagt Spahn (CDU) in Berlin. „Diese Pandemie ist auch ein Charaktertest für unsere Gesellschaft. Ich möchte, dass wir den bestehen“, sagte Spahn am Donnerstag bei einer Pressekonferenz in Berlin.

Jedes Mal, wenn Werkzeuge wie die „AHA-Regeln“ zu Abstand, Hygiene und Alltagsmaske eingehalten würden, mache die Gesellschaft einen Punkt gegen das Coronavirus, so Spahn. „Wenn 80 Millionen mitmachen, sinken die Chancen des Virus gewaltig.“ Gleichzeitig warnten Spahn und Wieler vor Panik. Die Lage sei noch kontrollierbar. Zum Glück sei die Zahl der schweren Fälle, die intensivmedizinisch behandelt werden müssten, noch überschaubar, sagte Spahn.

Stand Donnerstagmittag liegt die Zahl der Intensivpatienten deutschlandweit bei 487, das ist ein Plus von 17 im Vergleich zum Vortrag. 239 von diesen Patienten müssen derzeit beatmet werden. Am Morgen hatte das RKI mitgeteilt, dass die Zahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus in Deutschland binnen eines Tages um mehr als 4000 angestiegen ist. Die Gesundheitsämter meldeten demnach 4058 neue Infektionen.

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Das sind rund 1200 mehr als am Mittwoch, als mit 2828 Neuinfektionen ein neuer Höchstwert seit April gemeldet worden war. Ein höherer als der nun gemeldete Wert war zuletzt in der ersten Aprilwoche erreicht worden. Der Tagesrekord liegt bei mehr als 6554 Neuinfektionen am 2. April.

Seit Beginn der Corona-Krise haben sich nach Angaben des RKI mindestens 310.144 Menschen in Deutschland nachweislich mit dem Virus Sars-CoV-2 infiziert (Datenstand 8.10., 0.00 Uhr). Die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit einer Infektion liegt nach RKI-Angaben bei 9578. Das sind 16 mehr als am Vortag. Rund 269.600 Menschen haben die Infektion nach RKI-Schätzungen überstanden.

Kanzleramtsminister Helge Braun sprach angesichts der deutlich gestiegenen Infektionszahlen vom Beginn einer zweiten Infektionswelle. In einigen Großstädten sehe man nicht nur, dass die Inzidenz von 50 überschritten werde, „sondern wir sehen auch, dass die Zahlen sehr, sehr schnell ansteigen“, sagt er in der Sendung „Frühstart“ von RTL/ntv.

„Das heißt, dass die Kontaktnachverfolgung in den Gesundheitsämtern möglicherweise an einigen Stellen nicht mehr funktioniert, und das ist der klassische Beginn einer zweiten Welle.“ Wenn die Zahlen weiter rasch anstiegen, dann verlieren wir die Kontrolle über die Infektionszahlen und dann können wir es nur noch durch sehr einschneidende Maßnahmen aufhalten“.

Spahn sagte, es gelte zu verhindern, dass die Zahlen insgesamt wieder exponentiell steigen und es zu einem Moment komme, „wo wir die Kontrolle verlieren.“ Aber: „Da sind wir noch nicht.“ Allerdings gebe es etwa in Berlin teilweise ein „sorgloses, ignorantes Verhalten“ von Menschen, weshalb er die neuen Maßnahmen des Berliner Senats begrüße.

„Wir dürfen das Erreichte nicht verspielen.“ Derzeit steckten sich vor allem jüngere Menschen an – aber nicht nur. Gerade die Jüngeren hielten sich oft für unverletzlich. „Das sind sie aber nicht“, betonte Spahn. RKI-Chef Wieler sagte: „Die aktuelle Situation beunruhigt mich sehr.“ Man wisse nicht, wie sich die Lage in Deutschland in den nächsten Wochen entwickeln werde.

„Es ist möglich, dass wir mehr als 10.000 neue Fälle pro Tag sehen. Es ist möglich, dass sich das Virus unkontrolliert verbreitet.“ Er hoffe, dass die Infektionen auf einem Level gehalten werden, mit dem man umgehen könne, sagte Wieler. „Unser Ziel ist, so wenig wie möglich Infektionen zuzulassen.“ Nur dann werde das Gesundheitssystem nicht überlastet, und nur dann verhindere man viele schwere Verläufe und Todesfälle.

Nach Einschätzung des RKI-Chefs ist Deutschland bisher eben wegen der Schutzmaßnahmen gut durch die Krise gekommen. „Es sind nicht so viele Menschen erkrankt und gestorben, weil wir gemeinsam Maßnahmen ergriffen haben und uns daran gehalten haben.“ Mit den Hygiene- und Abstandsregeln könne man einen großen Teil der Infektionen verhindern.

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Das Virus verbreite sich naturgemäß überall dort, wo Menschen zusammenkommen. Es erkrankten auch wieder mehr ältere Menschen, zudem gebe es erste Ausbrüche in Pflegeheimen. „Wenn sich wieder mehr ältere Menschen anstecken, werden wir nach einiger Zeit auch wieder mehr schwere Fälle und Todesfälle sehen.“

Spahn sagte, um die Entwicklung im Griff zu halten, gehe es um die richtige Balance aus Zuversicht wegen der bisher gut gemeisterten Krise, aber auch aus Wachsamkeit und Achtsamkeit. Es komme weiterhin auf Abstand, Hygieneregeln und Masken an – nun in der kalten Jahreszeit ergänzt um Lüften und ein möglichst breites Nutzen der Corona-Warn-App.

Der Präsident Robert Koch-Instituts: Lothar H. Wieler.
Der Präsident Robert Koch-Instituts: Lothar H. Wieler.
© imago images/Christian Thiel

Wieler ergänzte, dass es zusätzlich in den kommenden Herbst- und Wintermonaten auch darum gehe, die „drei Gs“ zu vermeiden: geschlossene Räume, Gruppen und Gedränge sowie Gespräche in lebhafter Atmosphäre und engem Kontakt zueinander. Masken seien auch im Freien sinnvoll, wenn der Abstand nicht eingehalten werden könne.

Von einer Debatte über einen neuen Lockdown wie im Frühjahr halte er nichts, sagte Spahn. Da werde man nicht wieder hinkommen, weil man nun deutlich mehr über die Verbreitung des Virus wisse. Wo die Regeln eingehalten würden, wirkten sie auch: „Wir haben keine Ausbrüche beim Einkaufen. Wir haben keine Ausbrüche beim Friseur. Wir haben kaum Ausbrüche im öffentlichen Nahverkehr“, sagte Spahn. Auch in den Kindergärten und Schule laufe es „vergleichsweise gut“.

Stattdessen zeige sich, dass die meisten Infektionen bei Feiern, Großveranstaltungen oder religiösen Veranstaltungen festzustellen seien – meist in geschlossenen Räumen. Da sei möglicherweise jemand, oder zwei oder drei in dem Raum, die nicht wüssten, dass sie das Virus haben und verbreiten. „Muss die Hochzeitsfeier mit 200, 300 Gästen mitten in dieser Jahrhundertpandemie jetzt sein? Das kann ich mich als Veranstalter fragen, als Einlader, und ich kann mich das als Eingeladener fragen“, sagte Spahn.

Der Gesundheitsminister und der RKI-Chef betonten, dass für die Gesamtbetrachtung der Entwicklung in Deutschland nicht nur die Zahl der täglich registrierten Neuansteckungen entscheidend ist. Wieler sagte, man konzentriere sich auf eine Vielzahl von Zahlen, etwa auch die der schweren Krankheitsverläufe oder die Belegung der Intensivstationen. „Ich wäre dankbar, wenn die Komplexität dieser Pandemie entsprechend häufiger dargestellt würde“, sagte Wieler.

Spahn äußerte Verständnis für besondere Auflagen bei innerdeutschen Urlaubsreisen aus Gebieten mit hohen Infektionszahlen geäußert. Wichtig sei aber ein möglichst einheitlicher Rahmen der Länder, sagte der CDU-Politiker. Dieser könne dann auch je nach Infektionsgeschehen anders ausgestaltet werden. Generell könne er verstehen, dass Länder mit geringen Infektionszahlen Sorgen vor Viruseinträgen hätten.

Entscheidend sei jedoch eine rasche Eindämmung von Ausbrüchen in betroffenen Kommunen. Dies sei „die viel bessere Variante“ als danach Beherbergungsverbote auszusprechen. Mit Blick auf die Verantwortlichen sagte er: „Unser höchstes Gut in der Pandemie ist die Akzeptanz der Bevölkerung für das, was wir tun.“

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Die Länder hatten am Mittwoch mehrheitlich beschlossen, dass Reisende aus Gebieten mit sehr hohen Infektionszahlen nur dann beherbergt werden dürfen, wenn sie einen höchstens 48 Stunden alten negativen Corona-Test haben. Greifen soll dies für Reisende aus Gebieten mit mehr als 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohnern binnen sieben Tagen. Einige Länder gaben zu dem Beschluss aber abweichende Erklärungen ab.

Auch die Infektiologin Susanne Herold appellierte bei der Pressekonferenz an alle Bürger: Viele würden denken, dass nur die Alten und Schwachen betroffen seien. Doch das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs steige ab dem 60. Lebensjahr, auch bei gesunden und sportlichen Menschen. Es könne „jeden von uns treffen“. Herold, Leiterin der Abteilung Infektiologie des Uniklinikums Gießen, sagte: „Das ist eine schwere Erkrankung.“

Allerdings habe die Medizin seit März bei der Behandlung von Covid-19 viel dazu gelernt. Die Krankheitsverläufe könnten besser eingeschätzt werden. Fest stehe, dass Sars-CoV-2 viele Gefäße betreffe, nicht nur die der Lunge. Sie erläuterte, dass Covid-19-Patienten auch in Deutschland mit zwei der Medikamente behandelt würden, die bei US-Präsident Donald Trump eingesetzt worden waren.

Susanne Herold, Professorin an der Universitätsklinik Gießen.
Susanne Herold, Professorin an der Universitätsklinik Gießen.
© Tobias Schwarz/Reuters

Dabei handele es sich um Remdesivir, das ein für die Verbreitung der Viren nötiges Enzym der Erreger hemmt. Eingesetzt werde zudem ein ebenfalls bei Trump verwendetes Cortisonpräparat, was vorkommende ausgeprägte Entzündungen abmildern könne. Beide Mittel hätten sich in Deutschland zum Therapiestandard entwickelt.

Nicht zum Einsatz komme derzeit ein bei Trump eingesetzter experimenteller Antikörper-Cocktail des Biotechnologie-Unternehmen Regeneron, der verhindern soll, dass das Virus in die Zelle eintreten kann. Es gebe erhebliche Anstrengungen, dieses nicht zugelassene Mittel in klinische Prüfungen zu bringen.

Trotz des Fortschritts bei den Therapien warnte sie vor einer „neuen Welle von schwer erkrankten Patienten“, die intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Mit dem bereits jetzt zu beobachtenden Anstieg bei der Aufnahme von Patienten mit Covid-19 sei ein hohes Maß an organisatorischem Aufwand verbunden.

Patienten mit anderen Erkrankungen könnten dann nicht mehr so gut behandelt werden. Dazu sollte es nicht kommen. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), betonte allerdings, derzeit seien 8500 Betten für Intensivpatienten frei. Das seien mehr als die Gesamtkapazität von Italien und Spanien. Zudem gebe es eine Notfallreserve von etwa 12.000 Betten, die eingesetzt werden könnten.

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