Berlin entwickelt sich zum Zentrum der Pandemie: Was kann jetzt noch getan werden?
Vier Bezirke sind inzwischen zu Risikogebieten erklärt worden. Bald könnte die ganze Stadt die Inzidenz von 50 überschreiten.
Sie mussten jetzt handeln. Berlin hat die höchste Sieben-Tage-Inzidenz aller Bundesländer. Täglich klettert der Wert näher auf die kritischen 50 Infektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen zu. Am Dienstag stand er bei 44,5. Zwei der Corona-Ampeln standen auf rot.
Merkel, Spahn, Söder – alle schauen auf diese Stadt. Der Senat hat deshalb am Dienstagabend strengere Regeln beschlossen: eine Sperrstunde ab 23 Uhr, nächtliche Kontaktbeschränkungen und Ansammlungsverbote in Parks. Ob das reicht oder bald die ganze Stadt zum Risikogebiet wird, wird sich zeigen.
Lässt sich die Ausbreitung in Berlin in diesem Stadium überhaupt noch beherrschen?
Das ist abhängig von individuellem Verhalten, aber auch von den politischen Entscheidungsträgern. In einer idealen Welt tragen alle Personen, sobald sie außerhalb des Haushalts mit anderen zusammenkommen, Masken. Das verringert die Ansteckungswahrscheinlichkeit massiv – nicht so sehr für den Maskenträger, aber für die, die sich in der Nähe eines infizierten Maskenträgers aufhalten.
Wenn zusätzlich Abstand gehalten, bei Symptomen oder nach Kontakt mit Infizierten so weit als möglich zu Hause geblieben und dann auch dort Maske getragen wird, lässt sich selbst in Ballungsräumen die Ausbreitung des Virus stark bremsen. Dazukommen sollte konsequentes, effektives, sehr regelmäßiges oder dauerhaftes Lüften.
Denn in der kalten Jahreszeit steigt die Infektionswahrscheinlichkeit über die Atemluft, unter anderem, weil sich Personen wieder mehr in Innenräumen aufhalten und weil Tröpfcheninfektionen in trockenerer, kälterer Luft wahrscheinlicher sind.
Können die Gesundheitsämter die Infektionsketten noch nachverfolgen?
Die Gesundheitsämter ziehen wieder Personal zusammen. Die Kontaktverfolgung ist aber grundsätzlich noch möglich – obwohl die täglichen Steigerungsraten teils höher liegen als zu Beginn der Pandemie. Das liegt auch daran, dass die Gesundheitsämter seit März ihre Personalressourcen ausgebaut haben.
In einigen Bezirken wurden Pandemieteams aufgebaut, die fast ausschließlich mit der Kontaktnachverfolgung beschäftigt sind. Die Nachverfolgung werde aber „immer schwieriger“ und sei „höchst komplex“, heißt es.
Wie konnte es in Berlin zu dieser Lage kommen?
In Ballungsräumen verbreitet sich das Virus deutlich schneller als im ländlichen Raum. Auch in anderen Großstädten wie Bremen oder Hamburg liegt die Inzidenz mittlerweile bei über 30. Menschen begegnen sich in Großstädten häufiger, fahren gemeinsam Bus und Bahn, die Wohnsituation ist oft beengter.
Stiegen anfangs vor allem die Infektionszahlen in den Innenstadtbezirken rasant, klettern die Infektionszahlen nun auch am Rand der Stadt. Das Virus streut über ganz Berlin und ist anders als während der größeren Ausbrüche in Mietshäusern nicht mehr auf wenige Hotspots einzugrenzen.
Bereits in einer weithin ignorierten Risikoanalyse der Bundesregierung aus dem Jahr 2012 wurde davon ausgegangen, dass Berlin besonders lange und heftig mit den Folgen einer Pandemie zu kämpfen haben wird.
Momentan treiben besonders junge Berliner die Pandemie voran, die Gruppe der 20- bis 40-Jährigen wird besonders häufig positiv auf das Virus getestet. In den Haushalten stecken sich aber vermehrt auch „weniger robuste Bevölkerungsgruppen“ an.
Welche Rolle spielen private Feiern und Partys als Treiber der Pandemie?
Zumindest aus den Berliner Innenstadtbezirken berichten Ärzte und politisch Verantwortliche übereinstimmend, dass das Infektionsgeschehen durch private Feiern, Hochzeiten, Geburtstage und Freundestreffen ausgelöst wird. Auch illegale Partys spielen eine Rolle – vor allem jene, die nun im Herbst wieder vermehrt in geschlossenen Räumen stattfinden.
Die Menschen nehmen ihre lockeren Gewohnheiten des Sommers, sich im Freien zu treffen, nun mit in die Innenräume, sagt ein Amtsarzt, dies sei deutlich gefährlicher als die Raves im Freien. Erst am Wochenende haben sich 50 Personen bei einer Hochzeit mit Hunderten Menschen in Neukölln angesteckt. Einen ähnlichen Fall gab es bereits Mitte September in Tempelhof-Schöneberg, damals infizierten sich mindestens 30 Personen.
Droht Berlin ein zweiter Lockdown?
Diese Drohung ist aufgrund der stark steigenden Neuinfektionszahlen sehr real. Das weiß auch Rot-Rot–Grün. Am Dienstagabend verständigte sich der Senat auf eine Sperrstunde, nächtliche Kontaktbeschränkungen und Verbote von Menschenansammlungen nachts in Parks. Ziel ist es, einen zweiten Lockdown zu verhindern. „Wir würden ohne zu handeln zu weiteren Einschränkungen in Richtung eines Lockdowns kommen“, sagte der Regierende Bürgermeister Michael Müller.
Warum werden Verstöße nicht konsequenter verfolgt?
Die Ordnungsämter der Bezirke haben kaum genug Personal, ihren eigentlichen Pflichten nachzukommen. Sie sind mit der Kontrolle der Regeln und dem Eintreiben von Bußgeldern überfordert. Auch die Polizei ist laut Innenverwaltung seit Wochen damit beschäftigt, illegale Partys aufzulösen, und am Rande der Belastungsfähigkeit.
[Behalten Sie den Überblick: Corona in Ihrem Kiez. In unseren Tagesspiegel-Bezirksnewslettern berichten wir über die Krise und die Auswirkungen auf Ihren Bezirk. Kostenlos und kompakt: leute.tagesspiegel.de]
Besonderes Kopfzerbrechen bereitet den Verantwortlichen: Berlin hat keine zwei, drei Zentren wie Hamburg oder München, sondern Hunderte Partyhotspots. Es ist nahezu unmöglich, dort überall zu kontrollieren. Die ersten Verantwortlichen hoffen deshalb, dass „Exempel statuiert werden“.
Welche Rolle spielen Kinder in Kitas und Schulen?
Neben jungen Erwachsenen gelten Kinder als wichtige, hier aber schuldlose Treiber der Pandemie. Schulen und Kitas zu schließen hat wahrscheinlich stark dazu beigetragen, dass die Situation sich im Frühjahr und Frühsommer entspannte. Jetzt in der kalten Jahreszeit bedeutet Präsenzunterricht und Kitabetrieb, dass sich dort Personen stark und auf engem Raum mischen.
Mit jedem Kind mehr steigt die Wahrscheinlichkeit der Präsenz von symptomfreien Corona-Infizierten und der Übertragung des Virus durch diese. Das Verhalten von Kindern ist zudem teilweise schwer im Sinne der Infektionsvermeidung zu kontrollieren.
[Die Zahl der Corona-Infektionen in der Hauptstadt steigen rasant: Verfolgen Sie hier die Entwicklungen im Corona-Blog für Berlin.]
Die Infektionswahrscheinlichkeit könnte, so meinen Experten wie der Didaktikforscher Christoph Mall, stark gesenkt werden, wenn Kinder gut angeleitet in allen Situationen, in denen es nicht massiv die Bildung stört, Masken tragen würden, wenn die Klassen verkleinert würden, Kinder also einen Teil der Woche zu Hause lernen, und wenn so viel wie möglich Unterricht im Freien, bei dauerhaft geöffnetem Fenster oder nach Einbau effektiver Luftfilter stattfände.
Wie kann man sich in Berlin am besten schützen – was sollte man vermeiden?
Sich selbst schützen funktioniert vor allem über die angesprochenen Verhaltensweisen: Abstand, Hygiene, konsequentes Lüften und das Minimieren von Aufenthalten an Orten mit vielen Menschen.
Selbstschutz ist aber nicht der wichtigste Schlüssel, sondern Fremdschutz. Hier spielt neben den genannten Faktoren vor allem die korrekt getragene, hygienisch behandelte Maske eine wichtige Rolle.
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität