Merkels letzte Washington-Reise: „Gute Freunde müssen nicht einer Meinung sein“
Angela Merkels Reise nach Washington sollte beim Neustart des transatlantischen Verhältnisses helfen. Das ist gelungen, auch wenn Unstimmigkeiten bleiben.
Alleine diese Szene hat Seltenheitswert. Kamala Harris, die erste amerikanische Vizepräsidentin, steht vor ihrer Residenz in Washington und begrüßt Angela Merkel, die vor 16 Jahren zur ersten deutschen Bundeskanzlerin gewählt worden war. Merkel, in einem ihrer typischen signalfarbenen Blazer – heute ist er sonnengelb –, Harris wie meist im dunkelblauen Hosenanzug. Zwei Frauen, die gezeigt haben, dass gläserne Decken durchbrochen werden können. Alleine das verbindet.
Angela Merkel ist die erste Regierungschefin, die Harris in ihrer Residenz, dem Naval Observatory im grünen Nordwesten der amerikanischen Hauptstadt, empfängt. Mit „Lassen Sie uns frühstücken“, lotst die Vizepräsidentin die Kanzlerin in ihr Wohnhaus.
Diese Washington-Reise, zu der Merkel am Mittwochabend (Ortszeit) eingetroffen ist, wird wohl ihre letzte sein. Zumindest im Amt der Bundeskanzlerin. Drei Jahre lang hat sie einen Bogen um die amerikanische Hauptstadt gemacht, das letzte Treffen mit dem damaligen Präsidenten Donald Trump weckte wenig Lust auf mehr. Deutschland und auch Merkel hatten stets einen besonderen Platz auf Trumps Attacken-Liste.
Nur eine höfliche Geste?
Dass die Kanzlerin nun wenige Monate vor dem Ende ihrer Amtszeit doch noch einmal hierher kommt, könnte man einfach als Abschiedsbesuch bezeichnen, als höfliche Geste eines neuen Präsidenten gegenüber einer „lame duck“, deren Ansehen in Amerika fast ungewöhnlich hoch ist. Laut dem Meinungsforschungsinstitut Pew haben aktuell sechs von zehn Amerikanern Vertrauen in Merkel.
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Immerhin ist Joe Biden bereits der vierte US-Präsident, der sie im Weißen Haus empfängt. Die beiden kennen sich seit seiner Zeit als Barack Obamas Vizepräsident, sie schätzen sich, und Biden hat versprochen, die unter Trump ramponierten Beziehungen schnell wieder zu reparieren.
Also gibt es harmonische Bilder mit Biden und Harris und ehrfürchtige Worte angesichts der schieren Dauer von Merkels Amtszeit, dazu eine Ehrendoktorwürde, ein Abendessen aller Ehepaare. Bei der Begrüßung im Weißen Haus sagt Biden, er schätze Merkel sehr, sie sei eine „Freundin“ – eine persönliche und einer der USA. Und sie revanchiert sich mit der Aussage: „Ich schätze diese Freundschaft sehr. Ich weiß, was Amerika für die Geschichte eines freien und demokratischen Deutschlands getan hat.“
Und dennoch: Offiziell heißt es, es sei ein „Arbeitsbesuch“. Die Liste der akuten Probleme ist hoch, die Zeit drängt. Ein Machtvakuum in einem der wichtigsten Partnerländer, das erst mal eine neue Regierung finden soll, käme dem Weißen Haus höchst ungelegen. Und in den USA werfen die Kongress-Zwischenwahlen 2022 bereits ihre Schatten voraus.
Daher versuchen Berlin und Washington in den verbleibenden Wochen der Merkel-Ära noch das eine oder andere Thema abzuhaken. Ganz besonders drängt – so sehr das Merkel auch nerven mag, die dieses Thema lieber als europäisches, denn als rein deutsches Problem betrachtet sehen will – der Streit um die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2, durch die die USA eine zu starke Abhängigkeit Europas von russischen Energielieferungen befürchten.
Ein großes Streitthema: Nord Stream 2
Obwohl Biden die Pipeline selbst als einen „schlechten Deal“ bezeichnet, will er verhindern, dass diesbezügliche Spannungen den ersehnten Neustart belasten. Daher war der Präsident schon vor Wochen mit der Aussetzung neuer Sanktionen unter anderem gegen die Betreiberfirma und ihren deutschen Geschäftsführer in Vorleistung gegangen. Seitdem wird darauf gewartet, welche Ideen Berlin dazu hat, wie nach einer Inbetriebnahme der Pipeline negative Folgen für die Ukraine verhindert werden können.
Verhandelt wird intensiv, bei den Gesprächen soll es eine deutliche Annäherung geben – aber Biden und Merkel konnten am Donnerstagabend weiter keinen Durchbruch verkünden. Man ist sich einig, dass man sich nicht einig ist.
„Gute Freunde müssen nicht einer Meinung sein“, sagt Biden bei der an das Treffen anschließenden Pressekonferenz im Weißen Haus. Und dass er gegenüber Merkel nochmals seine Bedenken bezüglich der Pipeline ausgedrückt habe. Die USA und Deutschland seien sich einig, die Ukraine bei Reformen und im Blick auf auf deren Souveränität und territoriale Integrität zu unterstützen.
Merkel wiederum betont, Nord Stream 2 sei ein zusätzliches Projekt und keine Alternative zum Gastransit durch die Ukraine. Die Kanzlerin erwähnt eine „Vielzahl an Instrumentarien“, die zur Verfügung stünden, falls Russland das Recht der Ukraine auf Gastransit nicht einlöst. Genauer wird es am Donnerstag nicht mehr. An einer Lösung werde weiter gearbeitet, heißt es.
Im Kongress gibt es großen Widerstand
Das Problem ist ohnehin: Im Kongress, in dem die Idee, das Projekt auf den letzten Metern zu stoppen, viele Unterstützer hat, droht großer Widerstand– egal, welche Lösung international ausgehandelt werden könnte.
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Der texanische Senator Ted Cruz nannte bereits den Verzicht auf Sanktionen einen schweren geopolitischen Fehler, der Russland auf Kosten des Westens stärken werde. Für die Republikaner ist der schwelende Streit zudem eine Möglichkeit, die Bestätigung wichtiger Personalien der neuen Regierung etwa in Botschaften weiter hinauszuzögern.
Keinen eindeutigen Durchbruch gab es zudem bei dem seit März 2020 wegen der Pandemie geltenden amerikanischen Einreiseverbot für Europäer. Die Biden-Regierung zeigt bislang wenig Eile, den „Travelban“ aufzuheben, obwohl die Kritik daran etwa von Unternehmensseite wächst.
Beim Travelban könnte es bald Neuigkeiten geben
Auf die Frage, wie die US-Regierung dies begründe, während Menschen über die Türkei einreisen könnten, wo die Zahl der neuen Fälle sieben Mal so hoch sei, verspricht Biden am Donnerstag aber zumindest, hier bald Klarheit schaffen zu können. Merkel habe das Thema zu Sprache gebracht, sagt er. Und dass über die Frage, wie bald die Reisebeschränkungen aufgehoben werden können, derzeit beraten werde.
Er werde die Frage in den kommenden Tagen beantworten können, sagt Biden. „Ich werde von unseren Leuten in unserem Covid-Team zu hören, wann das geschehen soll.“
Merkel ergänzt, man habe vor allem auch über die „neue Herausforderung“ durch die Delta-Variante des Virus gesprochen. Wichtig sei, eine nachhaltige Entscheidung zu treffen, die nicht nach kurzer Zeit wieder zurückgenommen werde.
In Berlin erklärt man sich das zögerliche Verhalten mit inneramerikanischen Überlegungen: Auch aus den Nachbarländern Kanada und Mexiko kann man auf dem Landweg weiter nicht einreisen. Würde man den Travelban für Reisende aus dem Schengenraum lockern, ließe sich nur schwer argumentieren, warum die Grenze etwa zu Mexiko dicht bleiben müsse.
Das wichtigste Ziel hat der Merkel-Besuch indes auch ohne ganz große Durchbrüche erreicht: Deutschland gilt wieder als wichtiger Partner für Amerika.
Seit ein paar Wochen geben sich die politischen Besucher aus Berlin in Washington schon fast die Klinke in die Hand. Sie alle wollen beim Neustart des unter Trump ramponierten Verhältnisses dabei sein.
Der persönliche Austausch mit Partnern im Weißen Haus, im Außenministerium oder im Kongress war aufgrund der Pandemie rund anderthalb Jahre lang nicht möglich gewesen. Unter Trump war die Kontaktpflege für viele Transatlantiker zudem eher mühsam gewesen.
Das hat sich mit der Regierung Biden wieder geändert, und zwar dramatisch. Ein Besucher nach dem anderen betont, wie freundschaftlich die Atmosphäre sei, wie konstruktiv die Treffen verliefen und wie groß der Wille sei, gemeinschaftlich die Probleme anzugehen.
Alle wollen von den Besuchern wissen: Wie geht es weiter?
Zu Besuch waren unter anderem bereits Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU). Alle werden auch mit der Frage konfrontiert, wie es nach 16 Jahren Merkel weitergeht.
Den Respekt vor Deutschland und seiner Kanzlerin zeigt auch die Ehrendoktorwürde der School of Advanced International Studies (SAIS) der Johns-Hopkins-Universität, mit der Merkel am Mittag als „globale Führungspersönlichkeit von beispielloser Entschlossenheit und Integrität“ ausgezeichnet wurde, für sie bereits der 18. Ehrendoktor.
Als sie vor zwei Jahren in Harvard geehrt wurde, feierten sie viele als Anführerin der freien Welt, als Antithese zu Trump. Biden muss nun mit dessen Erbe umgehen – und hoffen, dass auch Merkels Nachfolger dabei helfen wird. Auf die Frage, wann er denn seinerseits Berlin besuchen werde, antwortet der Präsident: „Bald, hoffe ich.“