Global Challenges: Neustart für den alten Kontinent
Die Europäische Union muss endlich ihre Lethargie überwinden und politische Strahlkraft entfalten. Ein Gastbeitrag.
Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute ein Beitrag von Prof. Dr. Bert Rürup, Präsident des Handelsblatt Research Institute und Chefökonom
des Handelsblatts. Weitere Autor:innen sind: Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Sigmar Gabriel, Günther H. Oettinger, Prof. Jörg Rocholl PhD, Prof. Dr. Renate Schubert und Jürgen Trittin.
Als die gewählte Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, das EU-Parlament bat, ihre neue Kommission zu bestätigen, kündigte sie eine Art kopernikanische Wende an. Nach den Krisenjahren brauche man jetzt einen echten „Neustart“, rief sie den Abgeordneten in Straßburg zu. Ihre „geopolitische Kommission“ jedenfalls werde sich nicht scheuen, international „selbstbewusst aufzutreten“. Von der Leyens Rede gipfelte in dem Satz: „Wir können diejenigen sein, die die Weltordnung zum Besseren formen.“
Das war im November 2019. Heute ist klar: Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander. Das zeigen Auftritte wie die Blamage des EU-Außenbeauftragten Josep Borell in Moskau. Statt den Fall des inhaftierten Regimekritikers Alexej Nawalny anzusprechen, ließ er sich im Februar von Russlands Außenminister Sergej Lawrow wie ein Schuljunge in die Ecke stellen. Borell, der gerne anmahnt, die Europäische Union müsse „die Sprache der Macht“ lernen, hat sich in Moskau als politisches Leichtgewicht vorführen lassen.
Erdogans Aversionen
Im April folgte das für Kommissionspräsidentin von der Leyen demütigende „Sofagate“: Im Palast des türkischen Präsidenten in Ankara musste sie weitab vom Hausherr Platz nehmen, während für Ratspräsident Charles Michel ein Sessel in unmittelbarer Nähe von Recep Tayyip Erdogan reserviert war. Diese „Sitzordnung“ ließ neben Erdogans Aversion gegenüber mächtigen Politikerinnen auch das interne Machtgerangel Brüsseler Institutionen zu Tage treten.
Die Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft durch Sloweniens Präsident Borut Pahor ist eine weitere Hypothek. Wie soll die EU für eine bessere Weltordnung eintreten, wenn Pahor sich nach polnischem und ungarischem Vorbild anschickt, in seinem Land die Pressefreiheit auszuhebeln? Das alles reflektiert aber nur die Oberfläche der Politik. Was also sind die tieferen Ursachen dafür, dass Anspruch und politische Wirklichkeit so weit auseinander klaffen?
Ein Grund für die schwindende geopolitische Bedeutung der EU erwächst aus der Diskrepanz zwischen politischer Rhetorik und faktischer Verfasstheit des Staatenverbunds. Als von der Leyen 2019 das EU-Parlament als „Herz der europäischen Demokratie“ ausgab, konnte sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Nominierung eine klassische „Hinterzimmergeburt“ im Postengeschacher der nationalen Regierungen war.
Im Wahlkampf hieß es noch, nur einer der parlamentarischen Spitzenkandidaten könne Kommissionspräsident werden. Mit der Wahl von der Leyens war der Traum einer Parlamentarisierung der Europäischen Union bis auf weiteres ausgeträumt.
Von der Leyen hat auch nichts gegen die Schwäche der vermeintlichen Herzkammer europäischer Politik unternommen: Die Handlungsmöglichkeiten der Abgeordneten bleiben eingeschränkt, eigene Gesetzesinitiativen sind ihnen untersagt. Über das Spitzenpersonal der Kommission entscheiden die Staats- und Regierungschefs. Das „Königsrecht“ demokratischer Parlamente, das alleinige Budgetrecht, fordern die Abgeordneten bis heute vergebens ein.
Verfall westlicher Werte
Verstärkt werden die Demokratiedefizite durch den Verfall „westlicher Werte“ wie Menschenrechte, Unabhängigkeit der Justiz und Pressefreiheit in einigen Mitgliedsstaaten. So weigert sich Ungarns Führung beharrlich, Flüchtlinge aufzunehmen, während Regierungschef Viktor Orbán für sein Modell der „illiberalen Demokratie“ wirbt. Nicht nur in Polen, das jüngst wieder vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen der Absetzung zweier Richter verurteilt wurde, stößt Ungarns Weg auf viel Sympathie. Die verheerende Wirkung, die vom Zwang zur Einstimmigkeit auf zentralen EU-Politikfeldern ausgeht, ist eine weitere Ursache für die politische Lethargie. Legt nur eines der 27 Mitglieder etwa in Fragen der Außen-, Sicherheits- oder Steuerpolitik ein Veto ein, ist die Gemeinschaft weitgehend handlungsunfähig. Das Konsensprinzip wirkt als Hemmschuh auch in der Außenwirtschaftspolitik. Deshalb kann die Union – militärisch ein Zwerg, wirtschaftlich ein Koloss – ihr ökonomisches Gewicht kaum in geopolitische Stärke ummünzen.
Forderungen, das Einstimmigkeitsprinzip zu überwinden, sind Legion. Denn das Prinzip kann nur einstimmig geändert werden. Als Alternative käme eine Reform der Europäischen Verträge in Frage. Davor scheuen die meisten Mitgliedstaaten aber zurück. Die Erfahrungen mit den gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden vor 16 Jahren wirken bis heute nach. Glaubwürdige Schritte hin zur Abschaffung des Prinzips könnte die Selbstbindung größerer Mitgliedsstaaten sein, im Fall breiter Mehrheiten nicht vom Vetorecht Gebrauch zu machen. Das dürfte kleineren Mitgliedern die Angst nehmen, nur das Einstimmigkeitsprinzip bewahre sie vor „Fremdbestimmung“.
Dritte Krisenursache ist die Weigerung vieler Mitgliedsstaaten, nationale Souveränitätsrechte auf die EU-Kommission zu übertragen. Verstärkt wird sie vom Missbehagen in den Bevölkerungen über „Brüssels Einmischung“ in „ureigene“ Angelegenheiten. In die europäische Rechtsgeschichte wird das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtmäßigkeit des Anleihekaufprogramms der Europäischen Zentralbank eingehen.
Überschrittener Ermächtigungsspielraum
Das Gericht erklärte das abweichende Votum des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) für „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“. Der EuGH habe in einem „ausbrechenden Rechtsakt“, seinen Ermächtigungsspielraum überschritten. Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki würdigte den Karlsruher Spruch als „wichtigstes Urteil in der Geschichte der Europäischen Union“. Nach wie vor kommt er nicht der Forderung des EuGH nach, die Förderung im Braunkohletagebau Turow zu stoppen.
Damit stellt sich die Frage, wie diese nationalstaatlichen Beharrungskräfte überwunden werden können? Wohl nur durch ein Bündnis von Avantgardestaaten. Außenminister Heiko Maas warnt zwar immer wieder vor einem Europa der „zwei Geschwindigkeiten“ – obwohl es die zwei Geschwindigkeiten spätestens seit der Einführung des Euros gibt.
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Inzwischen geht es aber nicht mehr um unterschiedliche Geschwindigkeiten, es geht um verschiedene Richtungen. Das Konzept der „zwei Geschwindigkeiten“ setzt voraus, dass es ein gemeinsames Ziel gibt, die „ever closer union“. Fakt ist aber, dass schwächere Mitgliedsstaaten zunehmend die Hilfe Chinas suchen, da sie sich vom Stabilitäts- und Wachstumspakt stranguliert fühlen. Außerdem ist ein Teil der EU bereits autoritären Versuchungen erlegen.
Deshalb muss die Richtung wieder klar werden – indem sich einige Mitgliedsstaaten auf eine schnellere Integration ihrer Politiken einigen. Zu begrüßen wäre, wenn Deutschland und Frankreich dabei voran gehen. Wahrscheinlich würden nordische und westliche EU-Länder sich anschließen. Zumindest „Kerneuropa“ könnte dann in den geopolitischen Konflikten mit den USA, China und Russland eine wichtigere Rolle spielen. Kommt es nicht dazu, bliebe von der Leyens Auftrag, „Europa stärker zu hinterlassen, als wir es geerbt haben“, ein leeres Versprechen.
Bert Rürup
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