"Rädchen in Mordmaschinerie": Früherer SS-Wachmann des Lagers Stutthof angeklagt
Die Staatsanwaltschaft Hamburg wirft einem früheren SS-Mann Beihilfe zum Mord an 5230 Menschen im Lager Stutthof vor. Der Angeklagte ist 92 Jahre alt.
In Deutschland könnte es 74 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus noch einen Prozess gegen einen mutmaßlichen NS-Täter geben. Die Staatsanwaltschaft Hamburg erhob am Donnerstag Anklage gegen einen 92-Jährigen, der SS-Wachmann im Konzentrationslager Stutthof gewesen war. Ihm wird Beihilfe zum Mord an 5230 Menschen vorgeworfen.
Der Angeklagte, der zwischen August 1944 und April 1945 Wachmann in dem Lager bei Danzig war, habe „die heimtückische und grausame Tötung insbesondere jüdischer Häftlinge unterstützt“, erklärte die Staatsanwaltschaft. Im Rahmen des Wachdienstes habe es zu seinen Aufgaben gehört, „die Flucht, Revolte und Befreiung von Häftlingen zu verhindern“. Er sei „ein Rädchen der Mordmaschinerie“ gewesen und habe „in Kenntnis aller Gesamtumstände“ dazu beigetragen, dass der Tötungsbefehl umgesetzt werden konnte.
Weil der Angeklagte zum Zeitpunkt der Tat erst 17 beziehungsweise 18 Jahre alt war, ist eine Jugendstrafkammer des Landgerichts Hamburg für den Fall zuständig. Sie muss nun zunächst entscheiden, ob dem 92-Jährigen der Prozess gemacht wird.
Bereits unmittelbar nach dem deutschen Überfall auf Polen 1939 wurden die ersten Gefangenen ins Konzentrationslager Stutthof gebracht, die meisten von ihnen waren polnische Intellektuelle aus Danzig. Später wurde das Lager zu einem der Tatorte des Holocaust.
Im Sommer 1944 erhielt der Lagerkommandant einen Befehl zur systematischen Tötung von Häftlingen. Die meisten der Opfer wurden durch Genickschüsse oder in der Gaskammer ermordet. Andere verhungerten oder kamen ums Leben, weil ihnen medizinische Versorgung verweigert wurde. Von den insgesamt 110.000 Häftlingen in Stutthof starben mindestens 65.000.
Jahrzehntelang suchte Justiz nicht nach Wachleuten
Dass nun gegen einen 92-Jährigen Anklage erhoben wird für Taten, die 75 Jahre zurückliegen, hat mit den Versäumnissen der deutschen Justiz in der Aufarbeitung der NS-Verbrechen zu tun. Jahrzehntelang hatten die Ermittler nach den ehemaligen Wachleuten gar nicht erst gesucht, weil die Auffassung vorherrschte, für eine Verurteilung müsse ein konkreter Mord nachgewiesen werden.
Das änderte sich erst 2011 nach dem Urteil des Landgerichts München gegen John Demjanjuk, einen ehemaligen SS-Wachmann in Sobibor. Das Gericht war der Argumentation der Staatsanwaltschaft und der Nebenklage gefolgt, wonach die SS-Männer durch das Bewachen der Opfer das Morden überhaupt erst möglich machten. Nach diesem Urteil begannen die Ermittler, in ihren Akten nach den Männern und Frauen zu suchen, die im Dienst der SS die Lager bewacht hatten.
Angeklagter in Münster verhandlungsunfähig
Im Jahr 2015 wurde in Lüneburg der frühere „Buchhalter von Auschwitz“, Oskar Gröning, schuldig gesprochen und rechtskräftig zu vier Jahren Haft verurteilt. Allerdings starb Gröning vor dem Antritt der Haftstrafe. Ein Jahr später wurde in Detmold der frühere SS-Wachmann Reinhold Hanning verurteilt. Das Urteil wurde allerdings nicht rechtskräftig, weil Hanning vor der Revision starb.
Im November vergangenen Jahres begann in Münster ein Prozess gegen einen weiteren früheren SS-Wachmann in Stutthof. Der damals 94-Jährige war ebenfalls wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Aus gesundheitlichen Gründen wurde das Verfahren allerdings nach wenigen Wochen ausgesetzt. Ende März entschied das Landgericht Münster, das Strafverfahren „wegen dauerhafter Verhandlungsunfähigkeit“ auszusetzen.