Auschwitz-Prozess in Detmold: Geblieben ist nur ein Schwarz-Weiß-Foto
Ihre Wege haben sich einst in Auschwitz gekreuzt. Der eine war Wachmann, der andere Häftling. Jetzt sitzen sich die beiden 94-Jährigen in einem deutschen Gerichtssaal gegenüber.
Mit gebeugtem Kopf betritt Reinhold Hanning den Saal. Die vielen Kameras, die Zuschauer, die Rechtsanwälte – das alles scheint er nicht an sich heranzulassen. Während der Verhandlung vor dem Landgericht Detmold hält der Angeklagte den Blick gesenkt, knapp 90 Minuten lang, die Hände im Schoß gefaltet. Dabei macht der Mann im hellbraunen Anzug und mit gelber Weste nicht den Eindruck, als könne er dem Prozess nicht folgen. Wer ihm zufällig auf der Straße begegnete, würde kaum glauben, dass Reinhold Hanning bereits 94 Jahre alt ist.
Am anderen Ende des Raums sitzt ein Mann, der im selben Jahr in Deutschland geboren wurde. Leon Schwarzbaum feiert Ende kommender Woche seinen 95. Geburtstag. Diese beiden hochbetagten Männer treffen nun in einem deutschen Gerichtssaal aufeinander, weil sich ihre Wege einst an einem Ort gekreuzt haben, der zum weltweiten Symbol unbegreiflicher Verbrechen geworden ist: Auschwitz. Hanning war Wachmann im Vernichtungslager der Nationalsozialisten, er muss sich nun wegen Beihilfe zum Mord verantworten, Schwarzbaum war zur selben Zeit Häftling. Der eine wird von seiner Vergangenheit eingeholt, den anderen hat sie nie losgelassen.
In den Gerichtssaal hat Schwarzbaum ein Schwarz-Weiß-Foto mitgebracht, das ihn als jungen Mann mit seinen Eltern Estera und Josef und seinem Onkel zeigt. Die Mutter beschriftete die Rückseite in den 30er Jahren mit kleinen, zierlichen Buchstaben in hebräischer Sprache und schickte das Bild an Verwandte in den USA. Das Foto ist mehr als 70 Jahre alt, aber sehr gut erhalten – eine kostbare Erinnerung. Denn die Eltern und der Onkel von Leon Schwarzbaum wurden in Auschwitz ermordet. „Die Nazis haben mein Leben zerstört“, sagt der Nebenkläger Schwarzbaum vor Gericht. „35 Menschen sind allein aus meiner Familie ermordet worden.“ Das Bild ist alles, was Leon Schwarzbaum geblieben ist.
Auch von Reinhold Hanning gibt es ein Schwarz-Weiß-Foto, das ihn als jungen Mann zeigt. Es könnte ungefähr zur selben Zeit aufgenommen worden sein. Auf diesem Bild trägt Hanning eine Uniform mit Totenkopf auf dem Kragenspiegel. Es ist die Uniform der SS, die das Wachpersonal in den Konzentrationslagern trug.
Hanning meldet sich freiwillig zur Waffen-SS
Reinhold Hanning wächst als Arbeiterkind in Lage bei Detmold auf, nach acht Jahren Volksschule arbeitet er in einer Fahrradfabrik. Als er sich freiwillig zur Waffen-SS meldet, ist er 18 Jahre alt. Ein dreiviertel Jahr zuvor hat der Zweite Weltkrieg begonnen. Weiß er, auf was er sich einlässt? Will er der Enge seiner ostwestfälischen Heimat entkommen und in den Krieg ziehen? Diese Fragen bleiben am ersten Prozesstag unbeantwortet. Die Möglichkeit, das Wort zu ergreifen und zu berichten, wie er nach Auschwitz kam und was er dort tat, lässt Reinhold Hanning an diesem Tag verstreichen. Der Angeklagte schweigt selbst dann, als die Vorsitzende Richterin Anke Grudda ihn fragt, wann und wo er geboren ist.
Nach Angaben seiner Verteidiger ist das Verfahren für Hanning eine große psychische Belastung. Im Januar habe er einen Zusammenbruch erlitten, nachdem er einen Zeitungsbericht über den bevorstehenden Prozess gelesen hatte, sagen sie. Für eine Woche kam er in die Psychiatrie. Seine Verhandlungsfähigkeit wurde kurz vor Prozessbeginn bestätigt. Schräg hinter dem Angeklagten sitzt ein psychiatrischer Gutachter. Zwei Stunden am Tag könne Hanning am Prozess teilnehmen, haben die Ärzte gesagt. Doch schon eine Viertelstunde vorher ist auf Wunsch der Verteidiger Schluss: Die Belastung für ihren Mandanten fange schließlich schon mit der Anreise an, argumentieren sie.
Der Verteidiger Johannes Salmen schildert kurz und knapp Hannings Lebenslauf. Auschwitz kommt darin nicht vor, auch nicht die Mitgliedschaft in der Waffen-SS. Salmen spricht nur von Hannings „Militärzeit“.
Nach Angaben der Ermittler schließt sich Hanning im Juli 1940 der SS-Division „Das Reich“ an. Seine Einheit kämpft erst auf dem Balkan und nimmt später, nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion, am Russlandfeldzug teil. Kurz vor Moskau ist der Krieg für Reinhold Hanning vorerst beendet. Im Januar 1942 wird er nach Auschwitz versetzt. Das rettet ihm vermutlich das Leben.
Im sogenannten Stammlager von Auschwitz wird er Wachmann im „Totenkopf-Sturmbann“ der SS. Tagsüber bewachen er und seine Kollegen Gefangene bei der Arbeit außerhalb des Lagers und bilden eine „große Postenkette“, um Häftlinge an der Flucht zu hindern. Nachts stehen die SS-Männer auf den Türmen rund um das Lager. Sie arbeiten in Schichten, zehn bis zwölf Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche. Die Kompanie, die gerade Bereitschaftsdienst hat, kann auch in Auschwitz-Birkenau eingesetzt werden, dem eigentlichen Vernichtungslager, in dem die Gaskammern stehen. „Im Rahmen der Bereitschaften hatten die Angehörigen der Kompanie unter anderem bei ankommenden Transporten von Gefangenen die Ausladung und Selektionen zu bewachen“, sagt der Dortmunder Oberstaatsanwalt Andreas Brendel vor Gericht. Hanning wird beschuldigt, zwischen Januar 1943 und Juni 1944 bei der Ermordung von mindestens 170 000 Menschen geholfen zu haben. Unter ihnen waren viele ungarische Juden, die im Frühsommer 1944 in Birkenau ermordet wurden.
Besondere Bedeutung des Detmolder Prozesses
In der Anklage geht es nicht nur um die Morde in den Gaskammern. Vor dem Detmolder Landgericht beschreibt Brendel die Massenerschießungen vor der „schwarzen Wand“ und die Selektionen im Stammlager. Der Staatsanwalt betont auch, dass die Verhältnisse in Auschwitz bewusst so waren, dass die Häftlinge das Lager nicht lebend verlassen würden. Hunger, Kälte, mangelnde medizinische Versorgung und körperliche Schwerstarbeit führten zum Tod vieler Häftlinge. Das alles hat Brendel in seine Anklage aufgenommen. Aus Sicht des Nebenklageanwalts Cornelius Nestler hat der Detmolder Prozess deswegen besondere Bedeutung: „In diesem Verfahren wird zum ersten Mal der arbeitsteilig organisierte Massenmord in Auschwitz in seinem ganzen Umfang angeklagt.“
Nach dem Staatsanwalt erhält Leon Schwarzbaum das Wort. Als der kleine Mann im eleganten blauen Anzug an den Zeugentisch tritt, starrt Hanning weiter durch seine Brille nach unten. Auch für Schwarzbaum muss die psychische Belastung an diesem Tag hoch sein, es ist das erste Mal, dass er in einem deutschen Gerichtssaal über Auschwitz aussagt und einem ehemaligen Wachmann gegenübersitzt. Doch an der Last, die Auschwitz heißt, trägt er schon sein ganzes Leben. „Je älter ich werde, desto mehr muss ich daran denken“, sagt Schwarzbaum. Nachts träumt er vom Lager, tagsüber stellt er sich wieder und wieder die Frage, wie es zum Massenmord an den europäischen Juden kommen konnte.
Leon Schwarzbaum wird in Hamburg-Altona als einziges Kind einer jüdischen Familie geboren. Als er noch klein ist, ziehen seine Eltern mit ihm nach Polen, ins oberschlesische Bedzin, wo Estera Schwarzbaum herkommt. „Meine Mutter hatte Heimweh, das hat sie am Ende das Leben gekostet“, sagt Schwarzbaum. Auf dem Dachboden des Hauses errichten die Eltern eine kleine Manufaktur für Daunen- und Steppdecken. Als die Wehrmacht Polen überfällt, ist Leon Schwarzbaum 18 Jahre alt – so alt wie Hanning bei dessen Eintritt in die Waffen-SS. „Das Unheil brach über uns herein.“ Die Familie Schwarzbaum muss wie die anderen Juden ins Ghetto. Im Juni 1943 werden Estera und Josef Schwarzbaum deportiert. Der Sohn begleitet sie zur Sammelstelle. „Das war das letzte Mal, dass ich meine Eltern gesehen habe.“ Der Zug fährt nach Auschwitz.
Vier Wochen später wird auch Leon Schwarzbaum nach Auschwitz deportiert. Als ihm dort ein anderer Häftling eine Nummer in den Arm tätowiert – 132624, er kann sie heute noch ohne zu zögern aufsagen –, stellt Leon Schwarzbaum eine Frage. Er will wissen, wo seine Eltern sind. „Wo bleiben die Menschen, die vor Kurzem nach Auschwitz kamen?“ Der ganze Transport sei leider vernichtet worden, antwortet der Häftling.
"Ich war Zeuge von furchtbaren Dingen"
Manchmal stockt seine Stimme. „Ich war Zeuge von furchtbaren Dingen.“ Er erzählt, wie er einmal einen SS-Offizier auf einem Motorrad sah, dahinter einen Wagen mit nackten Menschen. „Sie schrien und weinten und hoben die Hände zum Himmel, als ob sie Hilfe von Gott erwarteten. Doch es kam keine Hilfe.“ Der Wagen fuhr zu den Gaskammern und Krematorien. Dieses Bild kann Leon Schwarzbaum nicht vergessen. Auschwitz sei „Dantes Inferno“ gewesen, sagt er. „Die Schornsteine der Krematorien spuckten Feuer. Der Geruch verbrannten Fleisches war so unglaublich, dass man es kaum ertragen konnte. Wenn man das Feuer sah, hatte man immer den Tod vor Augen. Denn es waren Menschen, die dort brannten.“
Der Rauch, das Feuer, der entsetzliche Geruch können auch Reinhold Hanning nicht entgangen sein. Der Angeklagte soll bisher bestritten haben, am Massenmord beteiligt gewesen zu sein. Dass er Wachmann im Stammlager war, gab er in einer Vernehmung zu. Doch seine Verteidiger wollen auch dieses eine Mal, als ihr Mandant geredet hat, nicht gelten lassen, die Vernehmung dürfe nicht als Beweis zugelassen werden, weil ihr Mandant zu Hause überrascht worden, ihm die Tragweite der Aussagen nicht klar gewesen sei.
Nach dem Krieg lebt Hanning jahrzehntelang von der Justiz unbehelligt in Lage. Er gründet eine Familie und übernimmt 1969 ein Molkereifachgeschäft, in dem er zuvor gearbeitet hat. Auch Schwarzbaum hat nach dem Krieg in Deutschland seine künftige Frau kennengelernt und sich eine Existenz in Berlin aufgebaut. Mehr als fünf Jahrzehnte führt er ein Antiquitätengeschäft unweit des Wittenbergplatzes.
Seit zehn Jahren berichtet Leon Schwarzbaum über Auschwitz, spricht in Schulen und bei öffentlichen Veranstaltungen. „Das ist meine Pflicht den Toten gegenüber“, sagt er.
"Sprechen Sie darüber, was Sie getan haben!"
Umso mehr ärgert ihn Hannings jahrzehntelanges Schweigen. Er will, dass der Angeklagte endlich die Wahrheit sagt. Am Ende seiner Aussage spricht Schwarzbaum ihn sichtlich bewegt direkt an. „Herr Hanning, wir sind fast gleich alt, und wir stehen bald beide vor dem höchsten Richter“, sagt er laut, aber mit zitternder Stimme. „Sprechen Sie hier an diesem Ort darüber, was Sie und Ihre Kameraden getan haben!“ In diesem Moment hebt Reinhold Hanning endlich den Kopf, blickt kurz in Schwarzbaums Richtung.
Kurz darauf bittet die Verteidigung um eine Pause, der Angeklagte müsse dringend zur Toilette. Eine weitere Viertelstunde später ist der erste Prozesstag vorbei. Reinhold Hanning verlässt den Gerichtssaal, schweigend und mit gesenktem Blick.