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70 Jahre nach Ende der Nazi-Diktatur steht der frühere SS-Mann Oskar Gröning in Lüneburg vor Gericht. Die Anklage wirft ihm Beihilfe zum Mord im Vernichtungslager Auschwitz vor.
© AFP

Prozess gegen Oskar Gröning: Der "Buchhalter von Auschwitz" sagt aus

70 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz erzählt der ehemalige SS-Mann Oskar Gröning vor Gericht seine Geschichte - und gibt eine "moralische Mitschuld" am Massenmord zu. Die Nebenklägerin Eva Pusztai hat lange auf einen solchen Prozess gewartet.

An seinen ersten Abend in Auschwitz kann sich Oskar Gröning ganz deutlich erinnern. In seiner Baracke betranken sich die anderen SS-Männer. „Es wurde Wodka aufgefahren, und Speckseiten.“ Alles, was es im Herbst 1942, nach drei Jahren Krieg, sonst nicht mehr gab. Minutenlang beschreibt Oskar Gröning, wie die Wodkaflaschen aussahen, bauchig, groß, versiegelt. Andächtig spricht er über diesen Wodka. Es ist der erste persönliche, fast emotionale Moment seiner Aussage. Ungläubig sehen die Zuhörer im Gerichtssaal einander an, wo sich der 93-Jährige seit Dienstag vor dem Landgericht Lüneburg verantworten muss. Das Verbrechen, das die Anklage ihm zur Last legt, übersteigt wie der Tatort Auschwitz die Grenzen des Vorstellbaren. Beihilfe zum Mord an mindestens 300 000 Menschen.

Der Staatsanwalt beschreibt vor Gericht die Mordmaschinerie von Auschwitz und fasst das Unvorstellbare in knappe, klare Worte. Er erklärt die Wirkungsweise des Giftgases Zyklon B, die Selektionen an der Rampe, den langsamen Tod in den Gaskammern. Die Schreie.

Oskar Gröning hat kein Zyklon B in die Gaskammern geworfen, er hat die Menschen nicht durch das Lager getrieben. Und doch hat er nach Auffassung der Staatsanwaltschaft Hannover seinen Beitrag zum „Tötungsgeschehen“ in Auschwitz geleistet. Gröning verwaltete das Geld, das die in den Tod geschickten Menschen in ihrer Kleidung oder ihrem Gepäck verwahrt hatten. Er sortierte die Währungen aus vielen Ländern Europas, zählte und verbuchte das Geld und packte dann die Banknoten in einen großen Stahlschrank. Manchmal brachte der Mann, der ein halbes Jahrhundert später als „Buchhalter von Auschwitz“ bekannt wurde, das Geld selbst nach Berlin.

Im Sommer 1944 ist Gröning nachweislich im Dienst

Als im Sommer 1944 innerhalb von zwei Monaten mindestens 137 Züge mit ungarischen Juden in Auschwitz ankommen, ist Gröning nachweislich im Dienst. Er steht auch einmal, vielleicht öfter, selbst auf der Rampe, um das Gepäck zu bewachen. Mindestens 300 000 Menschen werden in diesen diesen Wochen in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau ermordet.

14 von ihnen nennt der Staatsanwalt am Ende beim Namen, stellvertretend für alle anderen Opfer.

„Irma Fahidi, geborene Weisz, geboren am 10.3.1905.

Dezsö Fahidi, geboren am 16.1.1895, der Ehemann der Irma Fahidi.

Terezia Agnes Gili Fahidi, geboren am 24.4. 1933, die Tochter der Irma Fahidi und des Dezsö Fahidi.

Irma, Dezsö und Terezia Fahidi wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in Auschwitz-Birkenau am 1. 7.1944 in den Gaskammern getötet.“

Als der Staatsanwalt die Namen mit ruhiger Stimme vorliest, schließt Eva Pusztai kurz die Augen, ihre Enkelin hält ihre Hand. Das ist der Moment, auf den die 89-Jährige Jahrzehnte gewartet hat. Denn es ist der Mord an ihrer eigenen Familie, der jetzt, endlich, fast 70 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus, vor einem deutschen Gericht angeklagt wird. Eva Pusztai, geborene Fahidi, eine schmale Frau mit geradem Rücken, silbergrauem Haar und graublauen Augen, ist aus Budapest nach Lüneburg gekommen, um Oskar Gröning vor Gericht zu sehen. In ihrer ungarisch-jüdischen Großfamilie hat sie fast als Einzige den Holocaust überlebt. „Ich kann 49 Namen aufzählen, von denen, die ermordet wurden.“

Das Sprichwort, dass die Zeit alle Wunden heile, sei eine große Lüge, sagt Eva. „Die Zeit vertieft nur das Mangelgefühl.“ Man könne lernen, mit den Traumata zu leben. Aber sie lassen sich nicht vergessen und nicht wegreden. „Sie kommen immer zurück.“

Was Eva Pusztai in Auschwitz erlebte

In Uniform. Ein undatiertes Jugendbild von Oskar Gröning.
In Uniform. Ein undatiertes Jugendbild von Oskar Gröning.
© dpa

In dem Prozess gegen Oskar Gröning ist Eva Pusztai nun Nebenklägerin, wie 66 andere Angehörige auch. Die Entscheidung dafür sei ihr nicht schwer gefallen, sagt sie, die ein altmodisches Deutsch mit einem ganz leichten ungarischen Akzent spricht: „Es ist mir sehr, sehr wichtig, dass fast alle Welt sehen und hören soll, dass ich einmal eine Mutter gehabt habe, die Irma hieß und die 39 Jahre alt war. Und dass ich eine kleine Schwester gehabt habe, die Gilike hieß. Und dass sie elf Jahre alt war.“

Eva und Gilike wachsen behütet im Osten Ungarns auf, in Debrecen. Sie träumt davon, Pianistin zu werden. „Die Deutschen kamen am 19. März 1944, und dann war alles zu Ende.“ Wenig später wird die ganze Familie nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Der Zug kommt am 1. Juli 1944 im KZ an. Die 18-jährige Eva ist froh, endlich aus dem entsetzlichen Viehwaggon herausgekommen zu sein, wieder Boden unter den Füßen zu haben. Dann geht alles sehr schnell. Die Männer werden von den Frauen getrennt. Evas Vater geht zur einen Seite, die Mutter und die Mädchen zur anderen. „Nie im Leben werde ich wissen – und ich hatte 70 Jahre Zeit, darüber nachzudenken: Was hab ich ihm zuletzt gesagt? Oder was hat er mir zuletzt gesagt?“

Eva sieht den Vater nie wieder.

Überall stehen SS-Leute, Männer und Frauen. Die kleine Gilike freut sich über die vielen Schäferhunde und will einen von ihnen streicheln. Zu Hause hat sie auch so einen Hund, mit dem sie immer im Garten gespielt hat. Doch die Mutter warnt sie, diese Hunde seien anders.

"Seid ihr Zwillinge?", fragt der SS-Mann

Plötzlich spricht ein SS-Offizier Eva und ihre Cousine an, die einander sehr ähnlich sehen. „Seid ihr Zwillinge?“ Die Mädchen verneinen, „nichts ahnend, was die Frage bedeutet“, sagt Eva Pusztai. Heute weiß sie, dass der Mann der SS-Arzt Josef Mengele war, der in Auschwitz entsetzliche Versuche mit Zwillingen durchführte. Mengele ist es auch, der Eva zur einen Seite und die Mutter und Gilike zur anderen Seite schickt.

In die Gaskammer.

War auch Oskar Gröning an jenem 1. Juli 1944 auf der Rampe von Auschwitz-Birkenau? „Dann hat er da gestanden und zugesehen, wie meine Familienmitglieder in die Gaskammern marschieren.“

Als der letzte Name im Gerichtssaal verlesen ist, kommt Gröning an die Reihe. „Ich möchte aussagen“, sagt er. „Zu den Vorfällen kann ich nichts sagen, weil ich nicht dabei war.“ Mit „Vorfällen“ meint er die Morde an Gilike, Irma und Dezsö Fahidi und all den anderen. Er kenne die Fälle nicht, auch nicht von den Erzählungen anderer. „Das betraf nicht meinen Arbeitsbereich.“ Das Wort Mord benutzt er nicht.

Ausführlich erzählt Gröning vor Gericht seine Lebensgeschichte. Den Saal der Ritterakademie, wo der Prozess stattfindet, hat er mit einem Rollator betreten, ein gebeugter Greis. Doch sein Blick durch die Brillengläser ist wach, er beobachtet das Geschehen genau und liest einen mitgebrachten Text vor. Manchmal schweift er ab und redet frei, dann bemüht sich sein Anwalt, ihn an den Text zu erinnern. Damit er nicht er zu lange vom Wodka in Auschwitz schwärmt.

"Der Zahlmeister der SS": Oskar Grönings Kriegs-Karriere

Die Auschwitz-Überlebende Eva Pusztai-Fahidi und ihre Enkelin Luca Hartai im Gerichtssaal in Lüneburg.
Die Auschwitz-Überlebende Eva Pusztai-Fahidi und ihre Enkelin Luca Hartai im Gerichtssaal in Lüneburg.
© Julian Stratenschulte/dpa

Oskar Gröning ist nur wenig älter als Eva Pusztai. Er wird 1921 im niedersächsischen Nienburg geboren, in seiner Familie denkt man deutschnational. Zur NS-Ideologie war der Weg von dort aus nicht weit. Er selbst sei „adolftreu“ gewesen, sagt er vor Gericht. Schon 1933 tritt Oskar in die Hitler-Jugend und in die Jugendorganisation des „Stahlhelm“ ein. Nach der Schule beginnt der Musterschüler eine Lehre bei der Sparkasse in seiner Heimatstadt. Bereits mit 18 Jahren wird er Mitglied der NSDAP, ein Jahr später meldet er sich zur Waffen-SS. Er will Karriere in der SS-Verwaltung machen, bei der Musterung sagt er, er wolle „Zahlmeister der Waffen-SS“ werden. Doch im Herbst 1942 wird Oskar Gröning für eine „kriegswichtige Sonderaufgabe“ abkommandiert. Mehr erfährt er erst einmal nicht. Der Zug fährt nach Auschwitz. Am ersten Abend berichten ihm die anderen SS-Männer bei ihrem Wodka-Gelage, dass in diesem Lager arbeitsunfähige Juden „entsorgt“ würden.

Er ist für Devisen zuständig und wird bald befördert

Weil Oskar Gröning sich mit Zahlen auskennt, wird er in der „Häftlingsgeldverwaltung“ eingesetzt. Er ist nun für Devisen zuständig und wird bald befördert. Zwei lange Jahre ist er in Auschwitz, zwischendurch heiratet er die Verlobte seines in Stalingrad gefallenen Bruders und wird Vater. Am Ende ist er SS-Unterscharführer.

Schon im Jahr seiner Ankunft in Auschwitz beobachtet er zufällig, wie in einem umgebauten Bauernhaus Menschen vergast werden. Die Schreie der Opfer bleiben ihm in Erinnerung. Später sieht er sich an, wie die Gaskammern funktionieren, sieht zu, wie Menschen darin ermordet werden, „aus Neugier“, wie der Staatsanwalt sagt.

Vor Gericht schildert Gröning auch seinen ersten Tag auf der Rampe von Auschwitz. Ein Baby, von der Mutter beim Gepäck zurückgelassen, schreit und schreit. Ein SS-Mann packt das Kind und schleudert es gegen einen Lkw, bis das Schreien aufhört. „Mein Herz blieb stehen, ich war erschüttert.“ Er habe darüber mit seinem Vorgesetzten gesprochen. „Wenn das hier immer so ist, will ich damit nichts zu tun haben.“

Das Morden in den Gaskammern dagegen beschrieb er einmal in einem Interview als „Mittel der Kriegführung“. Das wiederholt er nun vor Gericht nicht mehr.

In seiner Aussage stellt Gröning immer wieder seine Bitten um einen Arbeitsplatzwechsel heraus. „Es kam zu Szenen, die mich so bedrückt haben, dass ich meine Versetzung beantragt habe.“ Er habe nicht an der Tötung der Menschen beteiligen wollen, betont er auch.

Im Herbst 1944 wird er versetzt und kommt an die Front

Im Herbst 1944 wird sich der SS-Unterscharführer tatsächlich versetzt und kommt später an die Front. Fast drei Jahre verbringt er in britischer Kriegsgefangenschaft, kehrt dann in seine Heimatstadt zurück und wird Buchhalter in einer Glasfabrik. Wieder zählt er Geld, diesmal den Lohn der Arbeiter. Er macht bald Karriere in der Fabrik , wird am Ende Personalchef. Am Arbeitsgericht Nienburg ist der ehemalige SS-Mann sogar 12 Jahre lang als ehrenamtlicher Richter tätig.

„Meine Erfahrungen mit der Nazi-Zeit haben mich mein ganzes Leben lang beschäftigt“, sagt Gröning vor Gericht. Mit seiner Vergangenheit setzt er sich öffentlich auseinander, als er über einen Briefmarkenhändler Kontakt zu Holocaust-Leugnern erhält. Er beteuert, dass er selbst in Auschwitz war und alles gesehen habe. Für seine beiden Söhne schreibt er seine Lebensgeschichte auf, will erklären, wie er an diesen Ort gelangen konnte. Was er dort getan hat und was nicht.

Ist auch der, der nur Geld zählt und zusieht, ein Täter? Kann man in Auschwitz gewesen sein und sich nicht mitschuldig gemacht haben am Massenmord? Wie lebt man jahrzehntelang mit dieser Geschichte, mit diesen Bildern? Auch um diese Fragen wird es in den kommenden drei Monaten vor Gericht gehen.

Dass Gröning ins Gefängnis kommt mit seinen 93 Jahren, glaubt Nebenklägerin Eva Pusztai nicht. Aber um die Strafe geht es ihr auch nicht. Ihr ist wichtig, dass die deutsche Justiz Grönings Taten klar verurteilt. Der Prozess komme sehr spät, sagt sie, aber noch nicht zu spät. Sie hofft auf Einsicht beim Angeklagten. „Aber wenn er nicht zur Einsicht kommt, wenn er sagt, ich habe nur meine Pflicht getan und bin nur da gestanden, dann werden wir, die Überlebenden, doch darüber reden, wie es war.“ In der kommenden Woche wird die 89-Jährige selbst  als Zeugin aussagen.

Und wenn sie dem Angeklagten eine Frage stellen dürfte, nur eine einzige?

„Ein Mensch, wenn er sich einen Menschen nennen will, wie hat er es dort ausgehalten? Wie konnte er dort stehen und zuschauen, als meine Familie in die Gaskammern marschiert ist?“

Darüber spricht Gröning am ersten Prozesstag nicht. „Es steht außer Frage, dass ich mich durch meine Tätigkeit moralisch mitschuldig gemacht habe“, sagt er. „Zu dieser moralischen Mitschuld bekenne ich mich mit Reue und Demut vor den Opfern.“ Diese letzten beiden Sätze seiner Aussage liest er vom Blatt.

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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