Verfassungsschutz alarmiert: „Flügel“ treibt Radikalisierung der AfD weiter voran
Verfassungsschutzchef Haldenwang ist besorgt über neue demokratiefeindliche Tendenzen. Um rechte Terrortaten zu verhindern, sollen virtuelle Agenten helfen.
Trotz der formalen Auflösung der rechtsextremen Parteiströmung "Der Flügel" sieht der Verfassungsschutz einen immer größeren Einfluss und dadurch eine zunehmende Radikalisierung der AfD.
"Das Bundesamt für Verfassungsschutz nimmt wahr, dass viele Anhänger des rechtsextremen "Flügels" um mehr Einfluss in der Partei kämpfen, obwohl sich der "Flügel" angeblich selbst aufgelöst hat", sagte Präsident Thomas Haldenwang, in einem Interview mit dem "Tagesspiegel".
Bei parteiinternen Wahlen kämen Anhänger des "Flügels" in Schlüsselpositionen. "Der Einfluss des "Flügels" wird größer, auch wenn in der AfD versucht wird, klar erkennbare Rechtsextremisten wie den früheren "Flügel"-Wortführer Andreas Kalbitz aus der Partei zu entfernen." Es gebe Innerhalb des ehemaligen "Flügels" weiterhin einen großen Zusammenhalt und einen Austausch.
"Die prägende Persönlichkeit des "Flügels" ist Björn Höcke. Er bedient einen unterschwelligen Antisemitismus. Er nennt etwa George Soros in einem Atemzug mit der Weltverschwörung und der Corona-Entwicklung", so Haldenwang.
Er schließt nicht aus, dass die rechte QAnon-Bewegung, die US-Präsident Donald Trump als Heilsbringer verehrt und auch auf den Demonstrationen gegen die staatlichen Coronamaßnahmen in Deutschland an Zulauf gewinnt, zu einem neuen Beobachtungsobjekt werden könnte. „Unter dem Dach des Grundgesetzes ist vieles an Verschwörungstheorie erlaubt. Bei QAnon prüfen wir noch, wohin sich das entwickelt und wie sich die Anhängerschaft zusammensetzt“, sagte der oberste Verfassungsschützer und betonte: „Jeder Deutsche hat erstmal auch das Recht, sich ein Aluhütchen aufzusetzen.“
Einsatz virtueller Agenten
Als Lehre aus rechtsextremen Anschlägen wie in Hanau und Halle setzt der Verfassungsschutz auf mehr virtuelle Agenten, um radikalisierten Einzeltätern frühzeitiger auf die Spur zu kommen. "Wir sind mit virtuellen Agenten auf einschlägigen Plattformen unterwegs und beobachten dort, ob Akteure mit extremistischen Äußerungen auffallen", sagte Haldenwang.
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"Mitarbeiter des Verfassungsschutzes agieren mit einer Legende, als seien sie Teil der Szene. In der Erwartung, dass sich Szenemitglieder öffnen und wir dann Erkenntnisse gewinnen." Personen wie der Attentäter von Halle, Stephan Balliet, lebten oft isoliert. "Balliet hatte viel Zeit, sich im stillen Kämmerlein vor den Computer zu setzen und in einer Parallelwelt zu leben. Er war intensiv in der Gaming-Szene unterwegs, hat sich aber auch mit rechtsextremistischem Gedankengut befasst", so Haldenwang. Der Verfassungsschutz mache daher auch gezielt Personalwerbung auf der "Gamescom" in Köln, der weltweit größten Messe für Computer- und Videospiele. "Nach der letzten Gamescom haben wir über 200 Bewerbungen bekommen", sagte Haldenwang.
Wunsch nach Online-Durchsuchung
Vom Gesetzgeber würde er sich insgesamt mehr Spionagemöglichkeiten wünschen. „In unserem Werkzeugkasten fehlt es an geeigneten Instrumenten. Wir müssen Möglichkeiten haben, in besonders extremen Fällen Online-Durchsuchungen machen zu können oder einen Trojaner zum Einsatz zu bringen“, betonte Haldenwang. „Ohne die erforderlichen Werkzeuge sind unsere Handlungsmöglichkeiten in einer schwieriger werdenden Zeit begrenzt. Das ist eine Entscheidung des Gesetzgebers. Er erinnerte an den Fall des Rizinbombenattentäters, der einen islamistischen Anschlag in Köln verüben wollte, was nur dank Hinweisen eines anderen Geheimdienstes vereitelt werden konnte. "Hätten wir frühzeitig eine Online-Durchsuchung machen können oder auf deren Geräten mit Hilfe eines Trojaners die Ereignisse mitverfolgen können, dann hätten wir gewusst, dass man sich eine Bombenbau-Anleitung besorgt hat", betonte Haldenwang. "Dann hätten wir gesehen, dass bei Amazon bestimmte Zutaten bestellt werden. Dass man beim IS nachfragt, wie jetzt diese Bombenbauanleitung zu verstehen ist. Dann hätte man deutlich früher eingreifen können."
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Neue Gewalt-Qualität auch im linksextremen Milieu
Angesichts der nur mit massivem Polizeieinsatz erreichten Räumung des Hausprojekts „Liebig 34“ warnt der Präsident des Verfassungsschutzes, Thomas Haldenwang, vor einer neuen Gewalt-Qualität auch im linksextremen Milieu. "Die Gewalt im Linksextremismus wird zunehmend brutaler und personenbezogener", sagte Haldenwang. "Es war nach Auflösung der RAF in der Szene lange Konsens, auf Gewalt gegen Personen, die auch tödlich sein kann, zu verzichten. Da ist jetzt ein Sinneswandel da." Polizisten würden wie in Berlin oder Leipzig in Hinterhalte gelockt, um sie dann anzugreifen. "Denken Sie auch an die Baukräne, die man in Leipzig in Brand gesetzt hat, die dann auf Wohnhäuser umzustürzen drohten. Das nimmt die Szene in Kauf, und das ist die neue Qualität im gewaltorientierten Linksextremismus, über die man reden muss."
Es komme beim Kampf um autonome Freiräume, wie zum Beispiel in der "Liebig 34", vermehrt zu schweren Gewaltstraftaten. "Ich bin mir einigermaßen sicher, dass das noch nicht das Ende war." Haldenwang kritisierte, dass manche Politiker die linksextreme Gewalt nicht ausreichend verurteilten. Für den Verfassungsschutz gelte, auf keinem Auge blind zu sein: "Ich hab‘ schon wieder eine neue Brille und rechts die Sehschärfe nochmal intensiviert. Aber ich kann Ihnen sagen: auch links sehe ich gut", betonte Haldenwang, der Nachfolger des umstrittenen Hans-Georg Maaßen ist.