Grundsteuer abschaffen?: Finanzexperte Paul Kirchhof mit radikalem Vorschlag
Der Ex-Verfassungsrichter schaltet sich in die Grundsteuer-Debatte ein. Das Reformmodell von Finanzminister Scholz sei „wohnungspolitisch der falsche Ansatz“.
Den Städten und Kommunen könnten 14 Milliarden Euro an Einnahmen wegbrechen – mit Folgen für Schwimmbäder, Bibliotheken, Schulen und andere öffentliche Einrichtungen: Im Streit um eine vom Verfassungsgericht bis Ende des Jahres geforderte Reform der Grundsteuer plädiert der frühere Verfassungsrichter Paul Kirchhof nun für eine radikale Regelung. Er hält sie für fragwürdig und empfiehlt, sie abzuschaffen. „Eigentlich passt die Grundsteuer nicht mehr in unsere Zeit“, sagte Kirchhof im Sonntags-Interview dem Tagesspiegel.
„Ein Blick auf die Erträge in Höhe von etwa 14 Milliarden Euro zeigt, dass bei einem Verzicht auf die Grundsteuer das System nicht zusammenbrechen würde. Der Gesetzgeber könnte stattdessen einen Zuschlag der Gemeinden auf die Einkommensteuer einführen“, sagte Kirchhof weiter. Also statt der hochkomplizierten, bürokratischen Grundsteuer den Städten und Kommunen einen höheren Anteil am Aufkommen durch die Einkommensteuer zuweisen. Der Steuerrechtler war 2005 der Kandidat von Kanzlerkandidatin Angela Merkel (CDU) für das Amt des Finanzministers, nicht aber in einer großen Koalition, zu der es am Ende dann kam.
Ein von Finanzminister Olaf Scholz (SPD) vorgelegtes Grundsteuer-Reformmodell, dass auch den Wert der Grundstücke und Gebäude sowie die regionale Miethöhe berücksichtigt, stößt vor allem in Bayern auf Widerstand. Das Bundesverfassungsgericht hat wegen völlig veralteter Bemessungsgrundsätze eine Reform bis Ende des Jahres verlangt, sonst droht der Steuer das Aus.
Kirchhof betonte, kommunale Leistungen, die zur Rechtfertigung der Grundsteuer dienten, wie Straßen, Nahverkehr, Wasser, Abwasser, Energie, würden heute meist schon über Gebühren abgegolten oder direkt bezahlt. „Damit wird die Rechtfertigung der Grundsteuer fragwürdig“, sagte der Jurist, der 2005 als Finanzfachmann im Wahlkampfteam von Angela Merkel war und seit Jahren für ein einfacheres Steuersystem wirbt. Der SPD-Kanzler Gerhard Schröder attackierte die Ideen des Finanzminister-Kandidaten Kirchhof als sozial ungerecht und diffamierte ihn als „Professor aus Heidelberg“.
Scholz' Modell würde Mieten in Innenstädten nach oben treiben
Das von Bundesfinanzminister Scholz vorgelegte Reformmodell ist laut Kirchhof „wohnungspolitisch der falsche Ansatz“, da es auch auf den Mietzins einbeziehe. Eine Grundsteuer nach dem Mietzins würde in den Innenstädten die Mieten weiter nach oben treiben. Zudem hält Kirchhof eine Zuständigkeit der Länder für die bessere Lösung, wenn man die Steuer beibehält.
„Dann könnten Flächenländer eine andere Regelung finden als die Stadtstaaten, sie auch besser ihren unterschiedlichen Bedingungen anpassen. Die Stadtstaaten werden das Flächenmodell favorisieren. In Bayern oder Baden-Württemberg könnten teure Ballungsräume anders behandelt werden als ländliche Gegenden.“ Falls diese Zuständigkeitsverlagerung nicht gelinge, könne ein Öffnungsklausel in einem Bundesgesetz zugunsten der Länder „hilfreich“ sein.
„Damit würden die Landesparlamente an Bedeutung gewinnen, der Föderalismus gestärkt. Bei der Grundsteuer geht es um regionale und sogar um lokale Fragen. Damit wären die Landtage der Gesetzgeber, der diese Verhältnisse besser kennt und situationsnah regeln kann. Man muss das Grundgesetz dafür nicht ändern.“ Zur Lösung des Konflikts in der schwarz-roten Koalition wird derzeit auch über die Einführung einer solchen Öffnungsklausel gestritten, die vor allem von Bayern gefordert wird.
Der 76-jährige Kirchhof ist immer noch ein gefragter Ratgeber – er hält eine grundlegende Reform im Steuerrecht mit einfachen Steuersätzen und nur noch wenigen Steuerarten für geboten. Vor allem bei der Einkommensteuer. „Der Gesetzgeber könnte dem Steuerzahler, so wie in meinem vor einigen Jahren vorgestellten Modell, ganz einfach erklären, dass etwa die ersten zehntausend Euro Einkommen steuerfrei sind, die nächsten zehntausend mit 15 Cent je Euro belastet werden, die darauffolgenden zehntausend dann mit 20 Cent und das weitere Einkommen mit 25 Cent. Das kann in einfacher deutscher Sprache geregelt werden.“ Er wies den Vorwurf zurück, das könnte sozial ungerecht seien und untere Einkommensschichten überproportional belasten. Was besonders ungerecht heute geregelt sei, sei die Erbschaftssteuer. „Ein Erbschaftssteuerrecht, das ausgerechnet die größten Vermögen verschont, erfüllt seinen Zweck nicht.
Zudem kritisiert Kirchhof zum Beispiel auch das Dickicht bei der Mehrwertsteuer. „Jetzt haben wir viele Ausnahmevorschriften und drei Steuersätze: null, sieben und 19 Prozent“, sagte Kirchhof. „Wenn wir über einen Markt gehen, kommen Sie aus dem Staunen nichtmehr heraus. Schnittblumen werden anders besteuert als Naturblumen, Hundefutter anders als Babynahrung, Hörbücher anders als E-Books. Wenn Sie mich nun fragen, wie sich diese Unterschiede erklären, müsste ich die Aussage verweigern.“
Kanzler Gerhard Schröder (SPD) hatte Kirchhof im Wahlkampf 2005 massiv für seine Vorschläge kritisiert und ihn als „Professor aus Heidelberg“ verspottet. Auf die Frage, ob er es weiterhin bedauere, nicht als Finanzminister die Chance gehabt zu haben, seine Ideen umzusetzen, sagte Kirchhof: „Wenn man als Steuerrechtler sieht, das Schiff fährt in die Irre, könnte aber umgesteuert werden, muss man die Ärmel aufkrempeln und Abhilfe leisten.“ Aber als Mensch und als ein „Professor aus Heidelberg“ genieße er persönlich die Freiheit, die ihm die Wissenschaft und Lehre bieten.
Albert Funk, Georg Ismar
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