Nahost und Antisemitismus: Explosion der Judenfeindschaft? Das geht an der Realität vorbei
Antisemitismus hat viele Gesichter und er ist keineswegs zu Ende. Er hat in Deutschland aber abnehmende Tendenz, schreibt der Historiker Wolfgang Benz im Gastkommentar. Von einem neuen Antisemitismus zu reden, hält er für falsch.
Im Nahen Osten herrscht Krieg mit allem Schrecken, der Krieg kennzeichnet, nicht zuletzt für die zivile Bevölkerung in der betroffenen Region. Das setzt Emotionen frei bei den Sympathisanten beider Seiten, dem Staat Israel und den Palästinensern, deren Leid von den Ideologen und der Militanz der Hamas kalkuliert ist. Diese Emotionen machen sich in Demonstrationen Luft. Die Kritik richtet sich wegen des drakonischen militärischen Vorgehens gegen Israel. Und das ist so lange legitim, als sie sachlich vorgetragen wird, auf politische und militärische Handlungen zielt und Israel nicht anders wahrnimmt als etwa die USA, die Schweiz oder jeden anderen Staat und dessen Politik. Wenn bei einer Demonstration von muslimischen Aktivisten über Juden gegrölt wird, sie seien feige oder Kindermörder, dann ist die Grenze zwischen Israelkritik und Judenfeindschaft jedoch überschritten. Gegenüber Manifestationen des Antisemitismus gibt es keine Toleranz – das ist ein zentrales Element der politischen Kultur dieses Landes. Auch dann, wenn die Polizei in Berlin ermahnt werden muss, ihre Pflicht gegenüber pöbelhaften Demonstranten zu erfüllen, die antisemitische Parolen skandieren.
Die Fälle Hohmann und Möllemann
Von explosionsartiger Verbreitung des Antisemitismus in Deutschland zu sprechen, einen „neuen Antisemitismus“ oder die lawinenartige Ausbreitung der Judenfeindschaft in Deutschland zu diagnostizieren, geht aber an der Realität vorbei. Diese besteht doch darin, dass Regierung, Medien und die Eliten dieses Landes an der Seite Israels stehen und immer wieder betonen, dass Antisemitismus geächtet und kriminalisiert ist wie in keinem anderen Land; dass regierungsamtlich Expertengremien eingesetzt werden, um die Regungen von Judenfeindschaft, die es ja tatsächlich gibt, zu studieren und Methoden der Abwehr zu entwickeln. Seit Jahrzehnten ist die Kontrolle und Eindämmung von Antisemitismus in der politischen Bildung und in der Schule verankert, Verstöße gegen den politischen Konsens des Philosemitismus werden deutlich geahndet. Das hat zum Beispiel der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann zu spüren bekommen, als er vor zehn Jahren den Versuch unternahm, uralte antisemitische Klischees in einer patriotischen Rede neu zu beleben. Das hat auch den FDP-Politiker Jürgen Möllemann ins Abseits gebracht.
Nazi-Deutschland 1938 taugt nicht zum Vergleich mit 2014
Die Vorfälle am Rande von Demonstrationen gegen den Krieg in Gaza sind so beklagenswert wie die Hasspredigt, in der laut Presseberichten ein Imam in einer Neuköllner Moschee zur Vernichtung Israels aufgerufen hat. Solche Entgleisungen sind rasch aufzuklären und zu sühnen. Der Wille dazu wird von der Bundesregierung, von den Außenministern der Europäischen Union wie vom Regierenden Bürgermeister betont, und das wird von den Bürgern gewünscht. Doch die bisherigen Vorfälle rechtfertigen weder das Etikett „antisemitische Ausschreitungen“ noch den Vergleich mit 1938.
Im November jenes Jahres hatte es judenfeindliche Exzesse gegeben, derer wir uns heute noch schämen. Sie waren vom NS-Regime angezettelt worden, und der Pöbel folgte den Goebbels-Parolen nur zu willig, zerstörte jüdische Kultstätten, marodierte und plünderte jüdisches Eigentum, demütigte und misshandelte jüdische Bürger. Die „Reichskristallnacht“ war ein Ausbruch der Judenfeindschaft, begangen von zahlreichen Fanatikern unter den Augen der Deutschen, die dazu schwiegen, gepriesen von den damaligen Eliten als befreiende Tat, als „gerechte Aufwallung des Volkszorns“. Das ist ein Schandfleck in der deutschen Geschichte, der aber nicht zum Vergleich mit Demonstrationen gegen Israel im Sommer 2014 taugt. Denn damit wäre alle Anstrengung, aus der Geschichte zu lernen, weggewischt, wäre alle bisherige Mühe umsonst gewesen, jede weitere Mühe nutzlos.
Bis zum ein Fünftel der Bundesbürger sind judenfeindlich
Ein "neuer" Antisemitismus wird alle paar Jahre prognostiziert und die Zunahme der Judenfeindschaft in Deutschland zu konstatieren werden die Auguren nicht müde. Heinz Galinski seligen Angedenkens hatte den Anstieg nicht nur des Antisemitismus, sondern auch die zunehmende Dreistigkeit der Judenfeinde regelmäßig gegeißelt und damit Bundeskanzler Konrad Adenauers Beschwörungsritual („die Lage war noch nie so ernst“) adaptiert. Das sah er als seine Aufgabe, das erwartete man schließlich auch von ihm. Aber es entsprach nicht den Tatsachen.
Die Realität, soweit sie sich mit wissenschaftlichen Methoden erfassen lässt, zeigt ein anderes Bild. Der von der Bundesregierung berufene „Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus“ schätzt die Dimension der Judenfeindschaft anhand von Einstellungsmustern über Jahre hinweg auf konstante 15 bis 20 Prozent. Das heißt, im Weltbild dieser Bundesbürger gibt es Ressentiments gegen Juden. Das bedeutet nicht, das diese Menschen samt und sonders fanatische oder gar gewaltbereite Judenhasser sind. Aber sie haben offenkundig Vorbehalte, die sie öffentlich nicht artikulieren würden. Gegenüber anderen Nationen sind das übrigens sogar günstige Werte, was freilich angesichts historischer Schuld nichts wiegt.
Objektive Kriterien sind nötig
Antisemitismus hat – nach wissenschaftlicher Erkenntnis, die oft im Gegensatz zur gefühlten Situation steht – in Deutschland eher eine abnehmende Tendenz. Zu den Ergebnissen der Langzeitstudie des Wissenschaftlerteams um Wilhelm Heitmeyer an der Universität Bielefeld über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit mit dem assoziativen Titel „Deutsche Zustände“ gehört, dass fast die Hälfte der befragten deutschen Bürger glaubt, dass zu viele Ausländer in Deutschland leben, jeder Fünfte ist dafür, die Zuwanderung von Muslimen zu unterbinden, ein Drittel glaubt an „natürliche Unterschiede“ zwischen Menschen schwarzer und weißer Hautfarbe und vertritt damit die Überzeugung unterschiedlicher Wertigkeit von Menschen (was ein wesentliches Definitionsmerkmal von Rassismus ist). Optimistisch an der Diagnose der deutschen Gesellschaft im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts stimmt lediglich der Rückgang von Homophobie und Antisemitismus.
Auch das zuständige amtliche Organ entdeckte keine zunehmende Tendenz des Antisemitismus, wenn man dem jüngsten Verfassungsschutzbericht glauben darf. Gegenüber emotioneller Befindlichkeit, gegenüber gefühlter Bedrohung von Juden, die in Deutschland leben und die ihre Ängste gerne veröffentlicht sehen, mag die nüchterne Bilanz der Wissenschaft unerheblich sein. Objektive Kriterien, was Antisemitismus ist, in welchen Formen er bei uns vorkommt, wie Judenfeindschaft von Israelkritik abzugrenzen ist, sind für eine differenzierte Betrachtung hilfreich, ja unentbehrlich.
Man weiß nicht, wie viel Zustimmung Günter Grass fand
Während religiös argumentierender Antijudaismus hierzulande allenfalls eine marginale Rolle spielt, ist Antisemitismus als politisches, soziales, ökonomisches und kulturelles Vorurteil mit seiner rassistischen Tradition spürbar. Ebenso der „sekundäre Antisemitismus“, der nicht trotz, sondern wegen Auschwitz Ressentiments gegen Juden nährt, weil sie sich angeblich mithilfe der Erinnerung an den Holocaust bereichern, durch Entschädigung oder Wiedergutmachung, darüber hinaus durch Erpressung mit der Erinnerung an den Judenmord. In letzter Konsequenz mündet dieser sekundäre Antisemitismus in die Leugnung des Holocaust.
Antizionismus ist eine weitere Version von Judenfeindschaft. Ihr Kern ist die Verweigerung des Existenzrechts Israels. Hier treffen sich die arabischen Feinde Israels mit Gesinnungsgenossen in aller Welt. Und hier docken die Antisemiten an, die etwas gegen „die Juden“ haben, dies aber so nicht äußern dürfen, weil das dem politischen Comment unserer Gesellschaft fundamental widerspricht.
Unter dem Deckmantel der Israelkritik finden sie sich; weil sie aber nicht (oder nicht nur) den Staat Israel und dessen Handlungen meinen, sondern „die Juden“ generell, erkennt man sie. Ihr Feindbild sind die Juden als solche, und das charakterisiert den Antisemitismus. Nicht nur die Judenhasser und die Israelfeinde bieten Anlass zur Sorge. Aktivisten versuchen, den Begriff Antisemitismus auf die Haltung gegenüber Israel zu verengen und beziehen in ihr Verdikt jede kritische Haltung zur israelischen Politik mit ein.
Günter Grass hat das zu spüren bekommen für ein nicht besonders geglücktes Gedicht. Mit schrillem Geschrei wurde er dafür als Antisemit stigmatisiert. Die Verurteilung des Dichters vollzog sich rasch. Wie viel Zustimmung er aber bei allen jenen fand, die Angst haben, Tabus zu verletzen und deshalb schweigen, weiß man nicht. Fest steht leider, dass die Stimmung gegenüber Israel erodiert. Das ist aber nicht gleichbedeutend mit altem oder neuem Antisemitismus.
Wolfgang Benz (73) ist Historiker und hat das Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin geleitet.
Wolfgang Benz
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