Antisemitismus und Nahost: „Wertschätzung ist in der Pädagogik unerlässlich“
Mirko Niehoff promoviert über die Wahrnehmung des Nahostkonflikts in Deutschland und ist seit Jahren in der "Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus" engagiert. Mit dem Tagesspiegel sprach er darüber, was Pädagogen gegen die nahostbezogene Variante von Antisemitismus tun können.
Herr Niehoff, „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein“: Dieser Satz wurde bei Demonstrationen in Berlin gebrüllt. Ist er antisemitisch?
Ja, und zwar sowohl dem Inhalt als auch dem Kontext nach. Die Grenze legitimer Empörung, wie sie in einer Demokratie gerade Minderheiten zugebilligt werden muss, die viel zu wenig gehört werden, wurde damit überschritten. Ich war sehr erschrocken über die Quantität und Qualität der Vorfälle, die sich jetzt – nicht nur in Deutschland – gezeigt haben. Zwar kenne ich antisemitische Äußerungen und Denkmuster aus meiner Arbeit in der Kiga, ich kenne aber auch Widerspruch.
Es waren auch arabisch- und türkischstämmige Jugendliche, die diese Slogans gebrüllt haben. Sind sie besonders anfällig für Antisemitismus?
Zunächst einmal ist zu beobachten, dass der offene und gewalttätige Antisemitismus nicht nur von Rechtsextremen ausgeht, sondern immer wieder auch von vor allem arabischstämmigen Jugendlichen.
Und was ist Ihre Erklärung?
Da gibt es viele Gründe: Einfluss ideologisierter Personen, Wahrnehmung eines weltweiten Kampfes gegen den Islam, einseitige Deutungen des Nahostkonflikts, Konkurrenzen um Anerkennung, Gerechtigkeitsbedürfnisse. Zudem sehen sich diese Jugendlichen durch die deutsche Geschichte weniger belastet. Aber wie gesagt: Das ist der Teil des offenen und gewalttätigen Antisemitismus. Der eher verdeckte Antisemitismus reicht bis in die Mitte der Gesellschaft. Zudem gilt: Unter Muslimen und arabisch- wie türkischstämmigen Migranten gibt es so viele Selbstbeschreibungen, eine enorme Vielfalt von Identitäten und gelebter Religiosität, dass man nicht von „den Muslimen“ reden kann. Das zeigt sich auch dann, wenn der Nahostkonflikt Thema wird. Da gibt es einerseits selbst palästinensische Migranten, die sich eines parteiischen Urteils enthalten oder sogar Israel als Schutzraum der Juden anerkennen. Es gibt andererseits aber auch eine weit verbreitete einseitige Wahrnehmung, die Israel als alleinigen Aggressor sieht und Palästinenser als alleinige Opfer. Je stärker schwarz-weiß gedacht wird, desto anschlussfähiger wird solches Denken für Antisemitismus.
Haben die Schulen versagt?
Nein. Aber natürlich braucht es auch von dieser Seite Mut, dem nahostkonfliktbezogenen Antisemitismus entgegenzutreten. Der fehlt wegen der Komplexität und Emotionalität des Themas manchmal. Und es fehlt Vorbereitung in der Lehreraus- und fortbildung.
Was lässt sich pädagogisch denn tun?
Zunächst einmal ist grundsätzliche Wertschätzung nötig. Eine Pädagogik auf Grundlage negativer Haltungen gegenüber Schülern kann nicht funktionieren. Dann bedarf es einer Emanzipation von blindem Nachreden durch Förderung reflektierter Urteilskraft. Hilfreich ist es auch, wenn man junge Erwachsene, die zur Community gehören und somit als Vorbilder glaubhaft sind, in die Pädagogik integriert. Und man braucht mehr perspektivische Wissensvermittlung zum Nahostkonflikt, die auch in Sachen Antisemitismus aufmerksam sein sollte.
Gibt es hoffnungslose Fälle?
Wer massiv ideologisiert wurde, der ist für Bildungsarbeit meist verloren. Aber das sind die allerwenigsten, eher gebraucht man antisemitische Versatzstücke. Um es klar zu sagen: Es gibt kein antisemitisches muslimisches Kollektiv. Allerdings sollte Islamismusprävention ausgebaut werden. Judenfeindschaft ist ein integraler Bestandteil der islamistischen Ideologie, und die dringt über das Internet immer stärker in die Lebenswelt der Jugendlichen ein. Aber auch hier darf nicht stigmatisiert und ethnisiert werden. Genau da setzt islamistische Propaganda in Deutschland immer wieder an – an der Ausgrenzung und Nichtanerkennung, die junge Muslime erfahren. Anerkennung, Orientierung, Halt und Sinn sind Grundbedürfnisse von Menschen, gerade von jungen.
Angenommen, der Nahostkonflikt wäre gelöst. Gäbe es dann keinen Antisemitismus mehr auf türkisch-arabischer Seite?
Das glaube ich nicht. Aber die Lage würde sich merklich entspannen. Der Nahost-Konflikt ist für den aktuellen Antisemitismus ein entscheidender Faktor. Wann immer die Gewalt in der Krisenregion eskaliert, erleben wir auch antisemitische Ausfälle. Das war 2006 zu sehen, nun passiert es wieder.
„Du Jude“ scheint aber auch unabhängig davon ein verbreitetes Schimpfwort auf Schulhöfen zu sein.
Und es sollte problematisiert werden. Man darf dabei aber auch nicht vergessen – ohne dadurch irgendetwas entschuldigen zu wollen – welches Provokationspotenzial eine solche als Beschimpfung gemeinte Aussage in einer Gesellschaft hat, die aufgrund ihrer Geschichte beim Thema Judenfeindlichkeit zu Recht besonders sensibel ist.
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität