Außenpolitische Schwäche der EU: Europa wird immer noch von Washington aus verteidigt
Der Nahe Osten steht am Rande eines Krieges und Europa kann dagegen wenig tun. Die EU muss ihr auswärtiges Handeln schnellstens neu denken. Ein Gastbeitrag.
Europa ist ein wirtschaftlicher Riese, ein politischer Zwerg und ein militärischer Wurm – fast jeder, der regelmäßig an Debatten über die europäische Außen- und Sicherheitspolitik teilnimmt, hat dieses Zitat schon einmal gehört.
Es geht zurück auf den ehemaligen belgischen Außenminister Mark Eysken, der mit diesen Worten das schwache Profil der Europäischen Gemeinschaft während des Golfkrieges 1991 beschrieb. Inzwischen ist daraus ein rhetorischer Klassiker zur Zustandsbeschreibung europäischer Außenpolitik geworden – nicht zuletzt, weil die Analyse im Kern unverändert zutrifft.
Zugegeben, in den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich auf europäischer Ebene einiges getan: In Brüssel gibt es heute ein dichtes Netz an außenpolitischen Konsultationen und institutionalisierter Zusammenarbeit. Der Europäische Auswärtige Dienst und der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik haben den Auftrag, die europäische Außenpolitik kohärenter zu machen und die Europäer dazu zu bringen, häufiger mit einer Stimme zu sprechen.
Verteidigungsinitiativen wie die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Pesco) und der Europäische Verteidigungsfonds sollen die Europäer militärisch handlungsfähiger zu machen. Doch unterm Strich ist der politische Einfluss der EU auf das internationale System nicht größer geworden – im Gegenteil. Das zeigt nicht zuletzt die Eskalation des Konflikts zwischen den USA und dem Iran in den vergangenen Tagen.
Heute sind die Europäer erweiterungsmüde
Vor zehn Jahren herrschte noch allenthalben die Hoffnung, dass die EU durch den europäischen Erweiterungsprozess und die Nachbarschaftspolitik Stück für Stück ihre Peripherie nach ihrem eigenen Vorbild transformieren würde. Heute sind die Europäer erweiterungsmüde und haben Sorge, dass die Krisen, Konflikte und autokratische Tendenzen der Nachbarschaft in die EU geschwemmt werden.
Auch gelingt es ihnen selten, eine schnelle und entschlossene gemeinsame Antwort auf internationale Herausforderungen zu finden – man denke nur an den Konflikt in Libyen, wo eine einheitliche EU-Politik dadurch konterkariert wird, dass Frankreich und Italien unterschiedliche Seiten unterstützen, oder an die völlige Hilflosigkeit der EU in Syrien.
Europas Verteidigung hängt noch immer von den USA ab
Militärisch haben auch die neuen europäischen Verteidigungsinitiativen bislang nichts daran geändert, dass Europas Verteidigung noch immer maßgeblich von den Vereinigten Staaten abhängt. Die EU agiert in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik in der Tat noch immer weit unter ihren Möglichkeiten. Allerdings ist es auch um ihre wirtschaftspolitische Gestaltungskraft auf globaler Ebene weniger gut bestellt, als den Europäern bislang bewusst war.
Der Rückzug der US-Regierung unter Führung von Donald Trump aus dem Atom-Deal mit dem Iran im Mai 2018 und die erneute Verhängung von amerikanischen Sanktionen haben ihnen schmerzlich aufgezeigt, wie schwierig eine eigenständige europäische Iranpolitik durchsetzbar ist, wenn diese nicht im US-Interesse liegt. Die Europäer wollten den Deal aus Angst vor einem nuklearen Wettrüsten im Nahen Osten aufrechterhalten.
Europäer haben amerikanischer Politik wenig entgegenzusetzen
Die Tötung des iranischen Generals Qassem Soleimani in dieser Woche, eines Vertrauten des höchsten iranischen Führers, hat die Chancen der Europäer darauf weiter verringert. Der Iran dürfte sich noch weniger als bislang an die Einschränkungen, die das Abkommen dem Land auferlegt, gebunden fühlen.
Doch auch schon vor der Tötung Soleimanis hatten die Europäer der amerikanischen Politik des „maximalen Drucks“ wenig entgegenzusetzen. Denn auch europäische Banken und Firmen können zur Zielscheibe von US-Sekundärsanktionen werden, wenn sie Geschäftsverbindungen mit dem Iran beibehalten oder aufnehmen.
Iran vom Welthandel abgeschnitten
Darüber hinaus hatte das in Belgien ansässige internationale Zahlungsverkehrssystem Swift im November 2018 dem Druck der USA nachgegeben und von den Amerikanern sanktionierte iranische Banken, einschließlich der iranischen Zentralbank, aus den Swift-Systemen ausgeschlossen. Trotz europäischer Proteste ist der Iran seitdem praktisch vom Welthandel abgeschnitten.
Die EU als Ganzes und Bündnisse von Einzelstaaten versuchten, die Blockade zu umgehen. In Reaktion auf die US-Politik aktualisierte die EU ihre sogenannte „Blocking-Verordnung“, wodurch europäische Unternehmen Schadensersatz geltend machen können, wenn sie von extraterritorialen US-Sanktionen getroffen sind.
Großteil der europäischen Unternehmen nimmt Abstand vom Irangeschäft
Außerdem gründeten die drei an der Aushandlung des Atomabkommens beteiligten europäischen Staaten Frankreich, Deutschland und Großbritannien im Januar 2019 mit dem „Instrument in Support of Trade Exchanges“ (Instex) ein alternatives Zahlungsvehikel, das Transaktionen – zunächst beschränkt auf solche mit humanitären Gütern – zwischen dem Iran und europäischen Partnern in Form von Tauschgeschäften möglich machen soll.
Doch auch der Ende November erfolgte Beitritt von sechs weiteren EU-Staaten zu Instex konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Jahr 2019 noch keine einzige Transaktion erfolgt ist. Insgesamt haben die Bemühungen der Europäer bislang nicht verhindern können, dass ein Großteil der europäischen Unternehmen und Banken von ihrem Irangeschäft Abstand nimmt und der US-Politik vorauseilend Folge leistet.
Die Furcht dominiert
Letztlich dominierte die Furcht, durch einen Verstoß gegen das amerikanische Iran-Embargo den wichtigen US-Markt zu verlieren, einschließlich der Möglichkeit, Zahlungen in US-Dollar abzuwickeln. Der wirtschaftliche Riese EU erscheint aus dieser Perspektive wie ein Scheinriese. Von „strategischer Autonomie“ oder „europäischer Souveränität“ auf globaler Ebene sind die Europäer jedenfalls weit entfernt.
Und das eben nicht nur mit Blick auf die militärische oder diplomatische Handlungsfähigkeit, sondern auch dort, wo die EU als Weltmacht gilt: in der Wirtschafts- und Handelspolitik. Und tatsächlich auch dann, wenn die Europäer sich – was selten genug vorkommt – in der Sache einig sind.
EU muss auswärtiges Handeln neu denken
Vor allem zeigt die Bedrohung durch Sekundärsanktionen, dass die EU eine wesentliche Prämisse ihres auswärtigen Handelns neu denken muss. Die Europäer betrachten das globalisierte internationale System als ein Netz von Abhängigkeiten, durch die staatliche und nichtstaatliche Akteure auf vielfache Weise miteinander verflochten sind: Diese gegenseitigen Abhängigkeiten erzeugen gemeinsame Interessen, machen Länder zu gleichgesinnten Partnern und verhindern Konflikte.
Dies ist auch der Hintergrund für die „strategischen Partnerschaften“ der EU zu Drittstaaten wie China oder Russland, die in der Erwartung aufgebaut wurden, dass verflochtene Wirtschaftsbeziehungen letztlich zu einer Annäherung an das europäische Modell und zur Öffnung gen Westen führen würden.
"Strategische Partner" können sich als Gegner entpuppen
In jüngster Vergangenheit haben die Europäer allerdings mehrfach lernen müssen, dass „strategische Partner“ sich auch als Systemrivalen oder gar Gegner entpuppen können – und Abhängigkeiten nicht nur stabilisierend und deeskalierend wirken, sondern sie gleichzeitig auch verletzlich und erpressbar machen.
Wirtschaftliche Netzwerke und grenzüberschreitende Finanz-, Daten- und Energieströme können sich eben auch in Waffen verwandeln. Vor allem dann, wenn die Abhängigkeiten nicht reziprok sind und Akteure versuchen, die Asymmetrien in den Beziehungen zur Durchsetzung der eigenen Interessen auszunutzen.
Wirtschaftliche Verflechtungen als Hebel
Die Vereinigten Staaten haben unter der Trump-Administration beispiellose Schritte unternommen, um Wirtschafts- und Sicherheitspolitik strategisch miteinander zu verbinden. So begründete die Regierung beispielsweise die Zölle auf Stahl und Aluminium aus der EU mit nationalen Sicherheitsbedenken.
Auch die chinesische Führung versucht massiv, wirtschaftliche Verflechtungen als Hebel einzusetzen, um politische Ziele zu erreichen – beispielsweise durch Initiativen wie das 17+1-Format, durch Rohstoffabkommen und den Erwerb kritischer Infrastrukturen in den EU-Mitgliedsstaaten. Bei mehreren Gelegenheiten hat Peking bereits erfolgreich eine Strategie des „Teile und herrsche“ angewandt, durch die es die Europäer gespalten und eine einheitliche europäische Position verhindert hat.
USA und China setzen EU-Staaten gezielt unter Druck
Für die EU verschärft sich diese Situation noch einmal durch den sino-amerikanischen immer heißer werdenden Konflikt beider Großmächte. Die USA und China sehen die Beziehungen zu den Europäern zunehmend durch das Prisma ihrer Großmachtrivalität und setzen einzelne EU-Staaten gezielt unter Druck, damit diese in Fragen wie des 5G-Netzes ihre jeweilige Partei ergreifen.
Sowohl die USA als auch China sind zudem weit führend im Bereich neuer Schlüsseltechnologien wie künstlicher Intelligenz. Sie verfügen beide über die wichtigsten Ressourcen und Strukturen, die für die Entwicklung und den Ausbau von KI erforderlich sind.
Spielball rivalisierender Großmächte
Europa hinkt hinterher und muss erst noch die Grundlagen für seine Unternehmen und Forscher schaffen, um auf höchstem Niveau wettbewerbsfähig zu sein. Die Zeit drängt, und es besteht die große Gefahr, dass Europa in eine neue, dauerhafte asymmetrische Abhängigkeit von den digitalen Großmächten gerät, die diese zu ihrem Vorteil nutzen können.
Wollen die Europäer nicht zum Spielball rivalisierender Großmächte werden, müssen sie ihre Macht zukünftig besser ausspielen, ihre Interessen robuster verteidigen und sich weniger angreifbar machen. Angesichts der massiven Zunahme der außenpolitischen Herausforderungen und des begrenzten Einflusses, den selbst die größten europäischen Länder im Vergleich zu Großmächten wie den USA oder China haben, ist die EU das wirkungsvollste Instrument, durch das die europäischen Staaten in der Lage sind, diese Ziele voranzubringen. Aber die EU muss lernen, sich als geopolitische Macht zu verstehen.
Kommission unter von der Leyen verfolgt richtigen Ansatz
Die neue „geopolitische“ Kommission unter Führung von Ursula von der Leyen verfolgt den richtigen Ansatz, indem sie den globalen Fußabdruck Europas in den Bereichen stärken will, in denen die EU am stärksten ist und einen echten Wettbewerbsvorteil hat: Handel, Wettbewerb und Regulierung.
In einem kompetitiven internationalen Umfeld will von der Leyen dafür sorgen, dass die EU ihre Macht international gezielter und strategischer einsetzt, um Verbündete und Herausforderer auf EU-Linie zu bringen. Die Staaten der europäischen Union sind auf ein offenes Wirtschaftsmodell, Exportmärkte und ausländische Direktinvestitionen angewiesen.
Europäer können nicht weiter militärisch Trittbrett fahren
Eine EU, die stärker auf Abschottung und Protektionismus setzt, ist weder in ihrem wirtschaftlichen noch in ihrem politischen Interesse. Allerdings sollte die EU versuchen, ihre Abhängigkeit von nichteuropäischen Partnern in kritischen Bereichen zu verringern, zum Beispiel beim Ausbau des 5G-Netzes – und Schlüsseltechnologien selbst bereitzustellen. Auch sollte sie lernen, asymmetrische Abhängigkeiten, bei denen die EU die Oberhand hat, als Verhandlungsmasse einzusetzen und ihre Stärken besser auszuspielen.
Die Europäer müssen sich zudem klarmachen, dass sie sich die bequeme Auslagerung ihrer Sicherheits- und Verteidigungspolitik an die USA nicht mehr länger leisten können. Gerade weil in einer von Großmächten und Geoökonomie geprägten Welt alle Politikfelder vermischt werden, können die Europäer nicht weiter militärisch Trittbrett fahren und politisch und wirtschaftlich von Souveränität träumen.
Europäer müssen mehr in Verteidigung investieren
Dies zeigen auch die extraterritorialen Sanktionen, die die USA im Dezember 2019 gegen europäische Firmen, die am Bau von Nord Stream 2 beteiligt sind, verhängt haben. Republikaner wie Demokraten im Kongress sind nicht länger bereit, hinzunehmen, dass insbesondere Deutschland seine energiepolitische Abhängigkeit von ebenjenem Regime vergrößert, vor dem die USA die Europäer schützen sollen. Die Europäer müssen auf jeden Fall mehr in ihre Verteidigung investieren, sowohl im Rahmen der EU als auch in der Nato, und sie müssen sich an die eingegangenen Verpflichtungen halten.
Den aktuellen transatlantischen Spannungen zum Trotz sollten die Europäer außerdem nicht vergessen, dass sie in Bezug auf Interessen und Werte noch immer viel mehr mit den USA als mit China gemeinsam haben. China mag sich zwar öffentlich als Verteidiger der internationalen Ordnung und des Multilateralismus präsentieren, aber es will sich von der liberalen Basis dieser Ordnung befreien: Demokratie, Menschenrechte und Marktkapitalismus.
Ungeachtet ihrer unterschiedlichen Herangehensweisen sollten die EU und die USA diese Herausforderung zum Anlass nehmen, ihre Strategien aufeinander abzustimmen. Die Europäer sollten dabei deutlich machen, dass sie keine erweiterten Instrumente der amerikanischen Außenpolitik sind. Aber in einer G2-Welt brauchen auch die Amerikaner starke Partner. Und je mehr die Europäer nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch und militärisch an Größe und Handlungsfähigkeit gewinnen, desto attraktiver werden sie auch in dieser Hinsicht.
Jana Puglierin