zum Hauptinhalt
Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland.
© Thilo Rückeis

Aiman Mazyek vom Zentralrat der Muslime: "Europa wird Deutschland um seinen Umgang mit Flüchtlingen noch beneiden"

"Obergrenzen" ist ein Stichwort für Angsthasen, meint der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime. Aiman Mazyek über Lehren aus der Geschichte, Deutschlands Reichtum und muslimisches Engagement für Flüchtlinge.

Herr Mazyek, Sie sind als Muslim nahe dem tief katholischen Aachen aufgewachsen. Kommt man da als Andergläubiger am christlichen Weihnachtsfest vorbei? 

Niemals! In meinem Fall schon gar nicht, ich bin immer schon vom christlichen Teil meiner Familie beschenkt worden. Ich verbinde die Weihnachtszeit seit meiner Kindheit mit viel Ruhe, damit, dass die Familie näher zusammenrückt – was dieses Jahr allerdings nicht stimmte, ich musste auch über Weihnachten arbeiten, weil ich mein Buch fertig bekommen muss. Für Muslime in Europa ist Weihnachten aber generell eine besondere Zeit. 

Aber doch nicht aus religiösen Gründen? 

Nun ja, auch die Moscheen sind dann immer ein bisschen voller und in diesem Jahr fällt der Geburtstag Jesu zusammen mit dem des Propheten Muhammad. Ähnlich ist das am Karfreitag, dem hohen Feiertag der evangelischen Christen, zugleich ein muslimischer Sonntag. Wegen des offiziellen Feiertags müssen auch viele Muslime nicht arbeiten, sie haben mehr Zeit – übrigens auch ein Grund, warum etliche Jahresversammlungen in die Weihnachtszeit gelegt werden, Abschlusstreffen, Seminare.

Und dieses Jahr kam die Betreuung von Flüchtlingen in den Gemeinden dazu.

Das hat uns in der Tat enorm gefordert, vor allem die Gemeinden mit vielen arabischsprachigen Muslimen. Die sind seit Monaten hochbelastet, aber in der Weihnachtszeit noch einmal stärker, auch weil anderswo Personal fehlt. Da ruft dann der Oberbürgermeister an, weil er am nächsten Tag wieder mehrere hundert Neuankömmlinge aus Syrien erwartet und dringend Übersetzer braucht. Oder es gibt Anfragen, ob wir seelsorgerisch tätig werden können. 

Wie sind Sie als ZMD engagiert? 

Wir haben aktuell etwa 1100 Flüchtlingshelfer im Einsatz, darunter Seelsorger und Imame, die seit vier Monaten und länger, teils rund um die Uhr, in Flüchtlingsheimen aushelfen, Behördengänge, Arztbesuche und Übersetzungen übernehmen und unbegleitete jugendliche Flüchtlinge betreuen. Ein Pool von derzeit 500 Eltern oder Familien ist bereit, Flüchtlingskinder in Pflege zu nehmen oder die Vormundschaft zu übernehmen – etwa 250 wurden bereits von den Jugendämtern an sie vermittelt. In 40 Gemeinden sind Deutschkurse angelaufen für Flüchtlinge, wir informieren per Internet die Gemeinden, schulen die Ehrenamtlichen, und in etwa 35 Gemeinden werden pro Moschee bis zu 200 Schlafplätze auf Zeit oder auf Dauer vorgehalten, in 110 Moscheen gibt es Kleiderkammern. Außerdem ist unser Konzept von Integrationslotsen angelaufen, die Grundgesetz und hiesige Gepflogenheiten auf Arabisch vermitteln sollen und etwa 150 Ärzte aus ZMD-Gemeinden schieben nach Feierabend ehrenamtlich Dienst. Etwa 90 unserer Gemeinden haben sich zudem binnen kurzem verdoppelt und wissen kaum mehr, wie sie sich organisieren sollen.
Chapeau! Haben Sie deswegen kürzlich von Obergrenzen der Aufnahme gesprochen? 

Diese Diskussion um Obergrenzen ist doch verwegen. Sie lenkt von den tatsächlichen großen Möglichkeiten unseres Landes ab. Finanziell und wirtschaftlich geht es uns gut wie nie. Da sind manche Ängste schon sehr irrational. 

Aber Sie haben das Wort von den Obergrenzen in den Mund genommen. 

Und das werde ich eben nicht mehr tun. Gegen „Obergrenzen der Aufnahme“ spricht unser Grundgesetz und unsere historische Erfahrung als Deutsche. Man sollte die Angstdebatten den Angsthasen und Zynikern überlassen und ihnen nicht weiter Futter liefern. Dass im Leben alles endlich ist, steht außer Zweifel und muss nicht eigens betont werden. Aber diese Polarisierung der Debatte, in der die einen als romantische Flüchtlingsfreunde ohne jede Ahnung gelten und die andern als Rassisten, die mit Pegida marschieren, die muss aufhören. Sie hindert uns nämlich, ganz praktisch und vernünftig zu überlegen, was zu tun ist. 

Soll heißen? 

Wir müssen organisatorisch besser werden. Wir müssen, auch wenn das ein Widerspruch in sich zu sein scheint, gute Verwaltung und Improvisation miteinander verknüpfen lernen. Vor 25 Jahren, in der Wendezeit, haben wir das schließlich schon mal gekonnt in Deutschland. Der Königsteiner Schlüssel... 

… mit dem die Verteilung von Flüchtlingen im Bundesgebiet errechnet wird… 

…ist nicht der Generalschlüssel der Flüchtlingsfrage. Die Menschen müssen dahin, wo sie leben können – zum Beispiel bei Familienangehörigen, die schon in Deutschland sind - und nicht per Königstein in die Pampa geschickt werden. Diese Verschickungen, das Warten auf den nächsten Schritt, auf Möglichkeiten, die Sprache zu lernen, das zermürbt Menschen, verschenkt kostbare Zeit. – wie ich aus den Erfahrungen in meiner eigenen Familie weiß. Deutschlernen sollte vom ersten Tag an möglich sein und nicht erst, wenn klar ist, welchem Ort die Leute zugewiesen sind.  Aber die Dinge verbessern sich ja auch. Der neue Ausweis für Flüchtlinge zum Beispiel ist eine gute Sache. 

„Wir schaffen das.“ Der berühmte und bei etlichen berüchtigte Satz der Kanzlerin stimmt also?

Materielle Möglichkeiten haben wir mehr als genug; vieles haben wir auch im Übermaß. Die Weihnachtszeit war eine gute Zeit dafür, sich wieder einmal vor Augen zu führen, dass das schöne Prinzip des Teilens auch zum kulturellen Erbe gehört – unser aller Erbe übrigens, ungeachtet der Religion. 

Angezweifelt werden ja oft nicht die materiellen Möglichkeiten, sondern die Grenzen der Integrierbarkeit von Hunderttausenden von Flüchtlingen. 

Wer das bezweifelt, sollte mal einen Blick auf die Tausenden von freiwilligen Helferinnen und Helfern werfen. Sie sind ein Grund, stolz auf ein Land zu sein, das einst Millionen in den Tod geschickt hat und jetzt Hunderttausende davor rettet. Sie verteidigen die Werte, die aus unserer historischen Erfahrung gewachsen sind, ein gutes Beispiel für praktische Lehren aus der deutschen Geschichte. Das hat gar nichts Naives, sondern es ist fundamental, real und zeigt, dass die Wertedebatte noch lebt. So habe ich auch die Kanzlerin verstanden.  Es gibt aber auch eine weniger lang zurückliegende Verantwortung Europas und Deutschlands. In Anlehnung an den Satz von Max Frisch könnte man sagen: Wir haben Kriege geführt – in Afghanistan, in Irak, in Libyen - und es sind Flüchtlinge gekommen. Wir können dem, was in der Welt geschieht und woran Europa Anteil hat, nicht immer nur zuschauen und meinen, es gehe uns nichts an. Solange die Leute in der Türkei oder im Libanon stecken bleiben, interessiert uns das nicht und wir werden erst wach, wenn sie hier ankommen. Wie schizophren das ist, wird, glaube ich, jetzt vielen klarer. 

Sie sprechen, zu Recht von Verantwortung, aber die Debatte dreht sich um die praktische Integrierbarkeit von so vielen.  

Wir werden natürlich als Land und als Gesellschaft gefordert. Ich bin aber sicher, dass wir am Ende gestärkt aus dieser Herausforderung hervorgehen werden. Die Bereitschaft, sie anzunehmen, sich darauf einzulassen und sich selbst dabei zu verändern, ist wie ein riesiges gesellschaftliches Konjunkturprogramm. Einmal ganz abgesehen davon, dass uns der Zustrom vieler junger Leute – und die Mehrzahl ist jung – auch wirtschaftliche Vorteile bringt. Ich meine damit nicht nur Facharbeiter; Steuereinnahmen und Einnahmen für die Sozialkassen. Dass Migranten auf mittlere Frist mehr einzahlen als sie herausbekommen, ist bekannt. Aber auch unsere Infrastruktur erhält sich durch sie. Wachsende Schulen, mehr Lehrer, damit verbessert sich die Lage auch für einheimische Kinder. Ich habe keine Angst vor Veränderung. Sie wird uns am Ende nur stärker machen, das Land bleibt flexibel. Denken Sie an die Agenda 21: Die war sehr unpopulär seinerzeit, inzwischen gilt sie als wichtige Säule der aktuellen wirtschaftlichen Kraft Deutschlands. Europa wird in den nächsten Jahren auch deswegen auf Deutschland schauen. Man wird uns darum beneiden, dass wir unsere Hausaufgaben gemacht haben. Auch in der Flüchtlingspolitik.   

Ist die Sache denn in Ihren muslimischen Gemeinden konfliktfrei? Die gemeinsame Religion ist das eine, die Sozialisation einer deutschen Muslima und eines irakischen Muslims sind aber doch recht verschieden? 

Die gemeinsame Religion spielt eine Rolle, aber natürlich macht es einen Unterschied, ob ich in einer freiheitlichen Gesellschaft aufgewachsen bin oder in einer Diktatur sozialisiert wurde und ganz andere Erfahrungen mit Staat, Polizei, Geheimdiensten gemacht habe. Oder ob man womöglich ein anderes Verhältnis zu Familie und Geschlechterverhältnissen beigebracht bekam. Das wird auch für uns in den muslimischen Gemeinden nicht nur ein Zuckerschlecken. 

Gibt es schon Konflikte? 

Ich kenne noch keine. Im Augenblick sind wir aber auch alle noch im Notfallmodus. Wer hier ankommt, ist glücklich und dankbar, in einem Land zu sein, in dem keine Bomben fallen, und bereit, selbst seinen Beitrag zu leisten, sich einzubringen. Konflikte, Reibungen erwarte Ich für die Zeit, wenn der richtige Alltag beginnt. 

Sie sprachen von Veränderungen und Flexibilität, auch Deutschlands als Aufnahmegesellschaft. Vor dem Flüchtlingsschock gab es den NSU-Schock… 

… und davor den Griechenlandschock. Wir stehen ständig unter Schockwellen, aber sie werden nicht mehr besprochen, leider. Griechenland ist ebenso wenig gelöst wie das Rechtsextremismus-Problem. Jeden Tag werden Flüchtlingsunterkünfte angegriffen, die Übergriffe auf Muslime und Moscheen nehmen extrem zu. Das ist ein Grund zu großer Sorge. 

Wie die Behörden im Fall NSU versagt haben, das hat vor allem der Abschlussbericht des Bundestags minutiös aufgelistet – und Konsequenzen angemahnt. Thüringen hat jetzt den früheren Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, zum Landes-Verfassungsschutzchef gemacht. Kramer und Sie standen oft Seite an Seite gegen antisemitischen und antimuslimischen Rassismus und Gewalt. Passt er an die Spitze einer Behörde?  

Stephan Kramer ist ein kluger politischer Kopf. Ich finde die Entscheidung mutig und gut, sie bietet die Chance, anderes Denken in diese Behörde zu bringen, die sie auch braucht. Seine Berufung ist aber auch ein Statement, dass alte Seilschaften nicht mehr gewollt sind. Klar wird das viel Arbeit für ihn, nach allem, was dort gerade im Hinblick auf den NSU passiert ist. Er wird vermutlich einige Heckenschützen ausfindig machen müssen. 

Draußen allerdings verfestigt sich im Zuge der Flüchtlingszustroms gerade wieder der Eindruck, dass Menschen anderen Glaubens und anderer ethnischer Herkunft nicht Opfer sind, sondern Täter.   

Ja, ich weiß, gegen alle Evidenz hält sich dieses Vorurteil. Es ist völlig irrational: Da fliehen Menschen vor Diktatur und Terror und man hält sie für potenzielle Terroristen. Sie sind hier auf engstem Raum zusammengepfercht und wenn es Konflikte oder Schlägereien gibt, wird das als Beweis für ihre Gewalttätigkeit genommen – dabei grenzt es an ein Wunder, dass nur so wenig passiert unter diesen Umständen. Der Kampf gegen Vorurteile ist einer gegen Windmühlenflügel. 

Warum führen Sie ihn? 

Da hilft mir mein Glaube und die Gewissheit, dass es, erst recht in unserer Zeit, keine Alternative zu einer pluralen Gesellschaft gibt. Wer, wenn nicht wir, sollte es schaffen? 

Sind wir beim Aufbau einer pluralen Gesellschaft in den letzten Jahren vorangekommen? 

Das Glas ist halb voll, würde ich sagen. 

Nur halb? Im Verhältnis Staat-Muslime gab es doch Verbesserungen, die mehr Pluralität anerkennen, womöglich über den Islam hinaus: Die Integration islamischer Theologie an den Universitäten, jetzt das Ja zu muslimischer Wohlfahrt auf Ebene der Deutschen Islamkonferenz.

 Es gibt Veränderungen und Verbesserungen, aber – in der praktischen Umsetzung - erst sehr allmählich, zaghaft und nicht in dem Maße, wie sie nötig wären. Es fehlt noch viel Zutrauen auf staatlicher und gesellschaftlicher Seite, manch ein Ministerialer denkt immer noch, dass der Islam für ihn Teil der Probleme ist, nicht Teil der Lösung. Der Extremismusvorbehalt gegenüber Muslimen hält sich halt hartnäckig nach all den Jahren seit 9/11 und verschwindet nicht einfach so über Nacht, wenn die Flüchtlinge nach Deutschland kommen.

Das sagt man Ihnen offen? 

Nein. Aber es tritt nicht selten offen zutage. 

Wodurch? 

Nehmen wir mal das Thema Sicherheit. Die Angst vor Terror-Rekrutierern steht in einem absoluten Missverhältnis zu dem, was an konkreter Zusammenarbeit des Staats mit den muslimischen Gemeinden und Hilfe für sie läuft. Da wird die Forderung nach einer Allianz gegen den Terror oft zum Lippenbekenntnis. Wir sind nicht mehr ganz am Anfang, aber wie in der Vergangenheit bleibt ganz viel an den einzelnen Gemeinden hängen.  Ähnlich bei der Versorgung der Flüchtlinge: Da spüren wir aktuell auch die verdeckten Widerstände der großen etablierten Wohlfahrtsverbände, deren Repräsentanten die Arbeit der Muslime zwar loben, aber nicht in gleichem Maße bereit sind, mit ihnen zu kooperieren. 

Warum ist das so? 

Die Frontstellung ist noch immer klar: Wir und ihr. Nichtmuslime sind die Guten, die geübten und geprüften Demokraten, die andern müssen das alles erst lernen, die müssen erst geformt und gebacken werden. Es gibt aber immense Demokratiedefizite in der Gesellschaft insgesamt, die Zahl der Nichhtwähler zum Beispiel ist erschreckend hoch und zeigt, dass wir uns inmitten eine Systemkrise befinden. Dies drückt sich auch im Aufstieg von AfD und Pegida aus. Es gibt da einen nichtintegrierten Teil Deutschlands, der längst aus der demokratischen Gesellschaft ausgestiegen ist und sich hinter Parolen verschanzt wie „Die da oben machen sowieso, was sie wollen“. Und die Scharlatane an der Spitze dieser Bewegungen bündeln und instrumentalisieren das. Diese Leute sind es, die eben keine unabhängige Justiz, keine unabhängigen Medien dulden, die die freie Gesellschaft, wie wie wir sie bisher kennen, bekämpfen. Sie sind es, die eine andere Gesellschaft und ein anderes Land wollen – nicht nur bei uns, das sehen wir auch in Ungarn oder Polen, wo Pressefreiheit und Justiz schwer unter die Rädetr kommen.  Und bei alledem führen wir diese bigotte Debatte darüber, dass wir den Flüchtlingen erst einmal Demokratie beibringen müssten! Die Trennlinie verläuft aber nicht zwischen Einheimischen und Flüchtlingen, sondern zwischen Demokraten und Antidemokraten.

Zur Startseite