Was ist das Putin-Erdogan-Abkommen wert?: Europa muss auf eine Schutzzone pochen
Erdogan und Putin vereinbaren eine Waffenruhe für Idlib. Doch die Feuerpause wird nicht von Dauer sein. Die Menschen sind die Leidtragenden. Ein Kommentar.
Die Geschichte der vereinbarten Feuerpausen in Syrien ist lang. Sehr lang – und sehr trostlos.
Noch jede Waffenruhe wurde gebrochen, bevor sie richtig in Kraft getreten war. In der Regel nutzen die Kontrahenten derartige Ankündigungen lediglich, um neue Offensiven vorzubereiten und schließlich noch brutaler als zuvor zuzuschlagen. Für die leidgeplagten Menschen zwischen den Fronten bedeutete das in der Regel bestenfalls eine kurze Atempause von ein paar Tagen. Immerhin, aber eben auch nicht mehr.
Und es gibt keinen Grund zur Hoffnung, dass die jüngste Übereinkunft zwischen Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan Substanz besitzt. Dieser Waffenruhe wird es ergehen, wie den vielen anderen: Sie ist erst „brüchig“, dann wird sie gebrochen. Die Gewalt wird wiederaufleben, die Konfrontation der Konfliktparteien mit ihren so unterschiedlichen Interessen Bestand haben. Klar ist auch, dass Putin nach wie vor in Syrien die Marschrichtung vorgibt.
Das wurde vor allem dem Machtmenschen Erdogan in Moskau unmissverständlich klar gemacht. Gegen Putin und dessen Macht vermag der türkische Präsident nichts auszurichten. Die Kraftprobe der Kriegsherren endete wieder zu Gunsten des Kremlchefs.
Putin gewährt Erdogan eine Audienz
Schon an vermeintlichen Kleinigkeiten ließ sich das ablesen. So musste Erdogan zu Putin kommen. Der türkische Autokrat hätte lieber mit seinem Amtskollegen auf heimischem Boden verhandelt. Er war also der Bittsteller, sein Gegenüber gewährte gewissermaßen Audienz.
Herausgekommen ist eine Einigung, die auf Erdogans Kosten geht – auch wenn er das anders darstellt. Der Plan, nördlich und südlich der strategisch wichtigen Autobahn M4 jeweils einen sechs Kilometer breiten Sicherheitskorridor einzurichten, in dem russische und türkische Soldaten patrouillieren sollen, zementiert im Grunde Moskaus Einfluss und seines Schützlings in Damaskus.
Von Erdogans Forderung, Baschar al Assads Kämpfer müssten sich zurückziehen, ist so gut wie nichts geblieben. Die Türkei und die mit ihnen verbündeten Islamisten verlieren sogar einen Teil des Gebiets, dass sie noch Anfang des Jahres kontrollierten.
Kampf gegen „Terroristen“ hat in Moskau und Damaskus Priorität
Dass die Regimetruppen jetzt vorerst ihren Vormarsch in Idlib stoppen, dürfte kaum mehr als politische Kosmetik sein. An seinem Ziel, Idlib von „Terroristen“ zurückzuerobern, halten Putin und Assad ohne Wenn und Aber fest.
Mit dem türkischen Präsidenten hat Putin ohnehin eine prinzipielle Meinungsverschiedenheit: Erdogans Kuschelkurs mit den Islamisten hält der Kremlchef für völlig abwegig und gefährlich. Russland wünscht sich vielmehr ein entschiedenes Vorgehen gegen die „Gotteskrieger“.
Und was ist mit Idlibs Elenden, den hilflosen Flüchtlingen, die zu Hunderttausenden unter unfassbaren Verhältnissen in überfüllten Lagern oder gar im Freien hausen? Vor ihnen die hermetisch abgeriegelte Grenze zur Türkei, hinter ihnen die heranrückenden Schergen Assads und russische Kampfjets. Für sie bleibt die Lage so verzweifelt wie aussichtlos.
Nur eines könnte sie vor Not und Tod – eine UN-Schutzzone, ein Gebiet, das den Menschen Sicherheit und damit das Überleben garantiert. Darauf muss Europa, muss der Westen drängen. Ohne Unterlass und mit der größtmöglichen Verve. Bei Putin wird das zwar auf taube Ohren stoßen. Aber das darf keine Ausrede sein zu schweigen. Und sei es allein, um aller Welt vor Augen zu führen, wer Idlibs Tragödie mitverantwortet.