Drohender Chaos-Brexit: EU will Großbritannien Notfall-Haushalt vorschlagen
Um die schlimmsten finanziellen Auswirkungen abzufedern, bringt Brüssel "ein kleines Austrittsabkommen" ins Spiel. Zudem soll es weitere Gespräche geben.
Die EU will Großbritannien bei einem harten Brexit ohne Austrittsabkommen einen Notfall-Haushaltsplan für 2019 vorschlagen, um die schlimmsten finanziellen Auswirkungen für beide Seiten abzufedern. Großbritannien würde dabei ab April weiter in den europäischen Haushalt einzahlen und die EU ihrerseits weiter Zahlungen etwa für Forscher oder Landwirte leisten, sagte EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger. "Praktisch" sie dieses Angebot der EU "ein kleines Austrittsabkommen".
Oettinger betonte, dass Großbritannien als bisheriger Nettozahler im Rahmen des Notfallbudgets weiter mehr in den EU-Haushalt einzahlen würde als es zurückbekäme. "Aber dafür würden sie für ihre Forschungsinstitute, für ihre Wissenschaftler, für ihre Landwirte, für ihre jungen Menschen ein Chaos vermeiden", sagte er im Haushaltsausschuss des Europaparlaments. Hier müsse dann die britische Politik "entscheiden, was ihr wichtig ist".
Oettinger schloss nicht aus, dass die Briten das EU-Angebot nach einem chaotischen Austritt zurückweisen könnten. "Sicher kommt es auch darauf an, wie dann die Atmosphäre zwischen London und Brüssel ist", sagte er. "Wenn die vergiftet sein sollte, werden die Hardliner in London unser Angebot ablehnen."
Der Haushaltskommissar bekräftigte gleichzeitig die Position, dass Großbritannien auf jeden Fall verpflichtet wäre, bis Ende 2020 weiter in den EU-Haushalt einzuzahlen. Dann endet der aktuelle siebenjährige EU-Finanzrahmen, den London mitbeschlossen hat.
Die Frage, was passiere, wenn die Briten weitere Zahlungen nach einem harten Brexit einfach verweigerten, sei "sehr spannend", sagte Oettinger vor den Abgeordneten. "Da bleiben nur internationale Gerichte, wo man die Verpflichtung zu bezahlen bis Ende 2020 auf dem Klagewege voranbringen kann - vielleicht bleibt auch nur das Jüngste Gericht."
May und Juncker mit gemeinsamer Erklärung nach "robustem" Gespräch
Bei einem Treffen in Brüssel vereinbarten Premierministerin Theresa May und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker neue Gespräche, um noch vor Ende Februar Bilanz zu ziehen. Vorerst beharrten aber beide Seiten auf ihren unvereinbaren Positionen.
May und Juncker hielten jedoch in einer gemeinsamen Erklärung fest, dass sie weiter für einen geregelten Brexit zusammenarbeiten wollen. Dies gelte vor allem mit Blick auf die beidseits gewünschte enge Partnerschaft nach dem Brexit. Trotz aller Schwierigkeiten sollten die Unterhändler beraten, „ob ein Weg gefunden werden kann, der die breitestmögliche Unterstützung im britischen Parlament findet und die Richtlinien des Europäischen Rats respektiert“. May und Juncker wollten sich vor Ende Februar wieder treffen.
Das Gespräch der beiden beschrieb die gemeinsame Erklärung recht undiplomatisch als „robust“. Am Mittwoch hatte EU-Ratspräsident Donald Tusk mit einer Verbalattacke für Empörung in London gesorgt. Er sagte, auf die ursprünglichen Brexit-Verfechter warte womöglich ein „besonderer Platz in der Hölle“, weil sie keinen Plan für den EU-Austritt gehabt hätten.
Als hohe Hürde für die britische Ratifizierung des Austrittsvertrags gilt der sogenannte Backstop, die vereinbarte Garantie für eine offene Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland. Die EU beharrt darauf, weil eine Teilung der Insel neue politische Gewalt in der früheren Bürgerkriegsregion entfachen könnte. Eine Mehrheit im Unterhaus hatte zuletzt für „alternative Regelungen“ gestimmt.
May habe Juncker erläutert, warum das Parlament eine rechtlich verbindliche Änderung des Backstops wolle, hieß es in der Erklärung. Die Premierministerin habe verschiedene Optionen dargelegt, mit diesen Bedenken umzugehen. Juncker habe jedoch bekräftigt, dass die übrigen 27 EU-Staaten das Austrittsabkommen nicht mehr aufmachen würden.
Die EU dringt auf eine andere Lösung: May soll ihren Widerstand gegen eine dauerhafte Zollunion und eine Anbindung an den EU-Binnenmarkt nach dem Brexit aufgeben. Unter diesen Umständen könnte die irische Grenze offen bleiben, und der Backstop würde nie gebraucht. Dies könnte ohne Änderung des eigentlichen Abkommens in einer politischen Erklärung festgeschrieben werden. Diese Linie verfolgte Juncker der Erklärung zufolge auch im Gespräch mit May.
Merkel glaubt an Einigung
Bundeskanzlerin Merkel bekräftigte in Bratislava, dass aus ihrer Sicht eine Einigung ohne Öffnung des Austrittsabkommens möglich sei. Man wolle alles tun, was möglich sei, um einen geordneten Brexit zu erreichen. Dabei müsse die EU auf die Integrität ihres Binnenmarktes achten und ihr Mitglied Irland schützen.
May will sich auf Zollunion und Anbindung an den Binnenmarkt bisher nicht einlassen. Der britische Oppositionsführer Jeremy Corbyn sprach sich jedoch genau für eine solche Lösung aus und stellte in dem Fall die Unterstützung seiner Labour-Partei für Mays Brexit in Aussicht. Damit dürfte der Druck auf May wachsen, ihre Position zu überdenken.
„Wir glauben, dass eine Zollunion notwendig ist, um den reibungslosen Handel zu gewährleisten, den unsere Unternehmen, Arbeitnehmer und Verbraucher benötigen“, erklärte Corbyn in einem Brief an May. „Sie ist der einzige gangbare Weg, um sicherzustellen, dass es auf der irischen Insel keine harte Grenze gibt.“
Das Brexit-Abkommen regelt die Bedingungen der Trennung. Vor allem aber verspricht es eine Übergangsfrist bis mindestens Ende 2020, in der sich praktisch nichts ändern soll. Ohne Vertrag entfiele dies. Befürchtet werden wirtschaftliche Verwerfungen und Unsicherheit für Millionen Bürger. (dpa)