Srebrenica 11. Juli 1995: "Hass ist anerzogen"
Die Frage nach der Schuld: Heute jährt sich das Massaker von Srebrenica zum 21. Mal. Boudewijn Kok war als Blauhelmsoldat dabei, er ließ sich das Datum in die Haut stechen.
Kein Mikrofon ließ er aus – schlaflos war er nach jedem Gespräch, traurig, nervös, Boudewijn Kok, geboren am 25. Juni 1974, Kriegsveteran: Doch nun ist genug geplappert, zumindest auf dem Boden des Landes, wo viele ihn einen Feigling nennen, warum, Boudewijn, hast du dich weggedreht, als die Serben kamen?
Ignoranten!, stöhnt er und legt die Rechte auf den linken Arm, darauf, tief in weiße Haut gestochen, sein Gebot: Never forget 11.7.1995.
Über Srebrenica zu reden, sagt er, fällt mir im Ausland leichter.
Seit einem halben Jahr, endlich, sagt er, sei er in Therapie.
Boudewijn Kok, vor einer Stunde aus den Niederlanden angereist, sitzt in der Kellerbar des Hotels Helvetia, nur Schritte neben dem Bahnhof Basel SBB, sein Handy auf dem Tisch, ein Paket Marlboro.
Srebrenica, sagt er mit klarer Stimme, ist eine Stadt in Bosnien.
Ich bin ihr Gefangener.
Und werde es immer sein.
Er schweigt und atmet, schaut zum Bild an der Wand, Sonnenblumen.
Erzähl.
Du weißt nicht, was küssen ist, bevor du es tust, du weißt nicht, was sterben ist, bevor du stirbst, und du weißt nicht, was Krieg bedeutet, bevor du darin steckst.
Boudewijn Kok, ausgemusterter Soldat Nummer 740625267 der Koninklijke Landmacht der Niederlande, legt seine Hände flach auf den schweren dunklen Tisch, spreizt die Finger.
Krieg ist –
Wenn du nicht weißt, ob man dich erschießt, nur weil du einer alten Frau Wasser gibst.
Wenn Männer sich aus Angst erhängen.
Wenn du plötzlich ein schreiendes Kind in den Armen hast und es der Frau reichst, von der du glaubst, sie sei die Mutter, und zwei Tage später in einer Mülltonne ein totes Baby entdeckt wird, ich hatte nicht den Mut, es anzuschauen, ich wollte nicht wissen, ob es das Kind war, das ich auf meinen Armen getragen hatte.
Wenn du gewusst hättest, was nun begann – hättest du dich anders verhalten?
Ich weiß es nicht, sagt er.
Vielleicht.
Vielleicht nicht, er schweigt.
Weshalb wurdest du Soldat?
Er lacht auf.
Aus Lust auf Abenteuer, aus Langeweile, ich war noch ein Kind, achtzehn.
Wieder spreizt er die bleichen Finger, drückt sie aufs Holz, grölt die eigenen Worte nach –
Lust auf Abenteuer!
Srebrenica!
Genozid!
Das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg!
Im Juli 1995 überrannten 5000 christliche Serben, ausgerüstet mit Panzern und Kanonen, den Ort Srebrenica, überfüllt mit muslimischen Flüchtlingen, beschützt von einer Truppe der Vereinten Nationen, 300 Blauhelmen aus den Niederlanden, Dutchbat III.
8000 tote Bosnier, zumeist Männer und Knaben zwischen 12 und 77, industriell hingerichtet, maschinell verscharrt.
Aber wären wir, sagt Boudewijn im Keller des Hotels Helvetia, Sonnenblumen an der Wand, Stühle auf den Tischen, wären wir nicht dort gewesen, wären nun Zehntausende tot.
Boudewijn, das ist deine Theorie.
Trotzdem, sagt er und verschränkt die Arme vor der Brust.
Mir bleibt nichts anderes übrig.
Ich lerne endlich, meinen Krieg zu ertragen.
Mich nicht zu schämen, dass ich in Srebrenica war.
Er holt Luft.
Ich, Boudewijn Kok, war einer von denen – ich war ein Dutchbatter.
Und habe getan, was mir möglich war.
Noch Schüler sei er gewesen, etwas faul und naiv, sagt Boudewijn, Sohn eines Fabrikarbeiters in Hardenberg, Provinz Overijssel, Freund von Kriegsfilmen, Mädchen und Bier, als er beschlossen habe, Soldat zu werden. Das hätte er nicht werden müssen, weil zwei seiner drei älteren Brüder es schon waren, und dennoch, bereits das gute Entlassungsgeld vor Augen, 25 000 Gulden, unterschrieb Boudewijn Kok für vier Jahre und wurde am 2. Oktober 1992 Soldat, grüne Uniform, drei Monate in Weert, Provinz Limburg, rennen, schießen, rennen, warten, rennen, warten, warten, rennen, dann drei Monate in Utrecht, Ausbildung zum Automechaniker, zwei Monate in Soesterberg, Panzermechaniker, ein Monat Veldhoven, Lastwagenmechaniker, schließlich Havelte, Korporal in der 43. Gemechaniseerde Brigade, nicht weit von Hardenberg, wo die Eltern wohnten, totale Spießer, mit denen ich kaum noch sprach.
"Hass gehöre nicht zum Menschen, Hass sei anerzogen"
Wann hast du zum letzten Mal geweint?
Am Tag der Befreiung, 5. Mai, vorgestern.
Erzähl.
Was soll ich erzählen? Man hatte mich, den Veteranen, gebeten, am Tag der Befreiung drei Minuten lang zu reden, vor 10 000 Leuten, vielleicht waren’s 15 000. In Assen, Hauptstadt der Provinz Drenthe, wo ich nun lebe.
Drei Minuten zum Thema Freiheit.
Van Dik Hout spielten auf, sie spielten ihr berühmtes Lied Stil in mij.
Het is zo stil in mij, es ist so still in mir.
Ik heb nergens woorden voor, ich habe keine Worte dafür.
Dann stand ich dort auf der Bühne, ein Mikrofon in der Hand –
Und?
Ich sagte, ich sei in Srebrenica gewesen, ich wüsste, was Friede bedeute, weil ich wüsste, was Krieg sei.
Hass gehöre nicht zum Menschen, Hass sei anerzogen.
Also könne man sich davon auch wieder befreien.
Denn nur Liebe bringe Menschen weiter.
Friede, sagte ich, ist ein rares Gut, geht sorgsam damit um.
Und als ich dann von der Bühne stieg und Van Dik Hout wieder zu spielen begannen –
Stil im mij
Zo stil in mij
Dann hab ich geheult.
Du warst ein braver Soldat?
Es war mein Beruf.
Er sei zwar, sagt Boudewijn Kok, nicht einer gewesen, der Befehle nie hinterfragt habe, militärischer Gehorsam, die ganze Disziplin habe ihm zu schaffen gemacht, immer wieder, aber schließlich, nicht auf den Kopf gefallen, habe er sich zu helfen gewusst, er sei Minimalist geworden, habe sich lieber hinter seinen Motoren versteckt als vorgedrängt, ich war wohl nicht brav, schon gar nicht stolz, aber brauchbar, geil auf mein Bier und das Austrittsgeld nach vier Jahren, 25 000 Gulden.
Worauf bist du stolz?
Worauf bin ich stolz?, sagt er und legt die Rechte auf den linken Arm, Never forget 11.7.1995, daneben, blau auf weiß, das Zeichen des Dutchbat III, eine große römische Drei.
Dass ich Hilfe annehmen kann, darauf bin ich stolz, seit einem halben Jahr bin ich in Therapie.
Wo?
Im Sinai Centrum Amersfoort, einer jüdischen Klinik, die sich einst um Menschen kümmerte, die den Holocaust überlebt hatten, heute um solche, die anderswie im Krieg waren – um Leute wie mich.
Mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung.
Boudewijn, wie zeigt sich das?
Er dreht am breiten Daumenring.
Die das haben, halten sich selbst nicht aus.
Die können nicht allein sein.
Sie rennen weg.
Sind ständig auf der Flucht vor irgendwas.
In Bosnien war Krieg, Serben gegen Bosnier, Christen gegen Muslime, ein Schlachten unter Nachbarn. Im März 1993 reiste General Philippe Morillon, Kommandant der United Nations Protection Force in Bosnien, UNPROFOR, eine internationale Schutztruppe der Vereinten Nationen zur Überwachung von Waffenstillständen in den Jugoslawienkriegen, ins ostbosnische Srebrenica, gebaut für 6000 Menschen. Dort drängten sich 50 000 Flüchtlinge aus den Dörfern der Umgebung, Bosniaken, Muslime, umzingelt und gejagt von serbischen Truppen, die immer näher kamen. Kaum Wasser, kaum Strom, wenig Nahrung, keine Medikamente. Morillon, als er das Elend nach zwei Tagen verließ, gelobte, die UNO werde Srebrenica und seine Bewohner nicht im Stich lassen.
Srebrenica war jenseits meiner Welt, sagt Boudewijn Kok, kurzes blondes Haar, schmales Gesicht.
Ich muss mal, sagt er, klopft sich eine Zigarette aus der Schachtel und steigt hinauf ins Straßenlicht, zieht den Rauch tief in seine Gestalt.
Drei Tage nach der Drohung der Serben, Srebrenica zu erobern, wenn es sich nicht innerhalb von 48 Stunden ergebe, am 16. April 1993 erließ der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 819, rief den Ort und seine Umgebung zur Schutzzone aus, verbot jeden Angriff oder unfreundlichen Akt. Und wieder zwei Tage später fuhren zum Schutz der Belagerten 170 Kanadier vor und schlugen ihr Lager auf, weiße Container, gesäumt von einem hohen Zaun.
Lustlos fuhr Korporal Boudewijn Kok ins deutsche Seedorf, Niedersachsen, Mechanisierte Brigade 41 des Heeres der Niederlande, kroch unter Lastwagen, reparierte, was zu reparieren war, legte nachts eine Matratze auf die Werkbank, trank sich warm, schlief schnell weg, Februar 1994, ein ganzes Jahr lang, hieß es, habe er in Deutschland zu bleiben. Im März rückten die ersten Niederländer in Srebrenica ein, versehen mit kugelsicheren Westen und blauen Helmen, das Dutchbat I, im Juni, 20 Jahre alt geworden, erhielt Boudewijn den Bescheid, er sei bestimmt, nach Bosnien zu fahren.
Wo ist denn das?, fragte er.
Hättest du dich weigern können?
Dann hätte ich meinen Job verloren.
Was sagten die Eltern dazu?
Ich weiß nicht mehr, ob ich es ihnen erzählt habe.
Und deine Freundin?
Komm gesund wieder.
Ein Arzt warnte vor Tripper, Syphilis, Aids, vor Chlamydien und Trichomonaden, ein Offizier redete über die Waffen der Serben, Panzer, Mörser, Haubitzen, ich kann mich nicht erinnern, was man uns noch erzählte, ich weiß nicht, ob jemand erklärte, um was es ging in diesem verdammten Krieg am Arsch der Welt.
Du weißt nicht, was küssen ist, bevor du küsst –
"Hast du in Srebrenica nie geweint?"
Im August hieß es, das Dutchbat III, dessen Mitglied Boudewijn bald sei, reise im Oktober, im Oktober sagten sie, im Januar. Sie bestellten Korporal B. Kok nach Assen, Provinz Drenthe, 13. Luchtmobiele Brigade. Am 6. Januar 1995 war Abschiedsfeier, die Eltern, nun doch, standen im Hof der Kaserne von Assen, drei Brüder, die Freundin, Musik spielte, dann hörte sie zu spielen auf, alles war ruhig, jemand schluchzte, meine Freundin.
Und du?
Was?
Hast du geweint?
Nein.
Hast du in Srebrenica nie geweint?
Einmal – als die Bosniaken Raviv van Renssen umbrachten, einen von uns.
Weshalb?
Weil die wollten, dass wir mit ihnen gegen die Serben kämpften.
Also erschossen sie einen von euch?
Der Krieg – und das begreift keiner, der nie im Krieg war – hat keine zivile Logik, kein Krieg hat nur unschuldige Opfer, nur schuldhafte Täter, Krieg ist Verrohung, Krieg ist das Menschenmögliche.
Der 9. Januar 1995 war ein Montag, Schnee lag in den Straßen von Assen, als die Soldaten, die nach Srebrenica sollten, in die Busse stiegen, vorbei an denen, die zurückblieben, aufgestellt in Reihen, die Hand an der Schläfe.
Wie fühltest du dich?
Vergessen!
Von wem?
Ich habe vergessen, wie ich mich fühlte, sagt Boudewijn am schweren hölzernen Tisch, blickt hinüber zum Klavier an der Wand, bedeckt mit einem weißen Tuch, zwei Rosen darauf, Plastik.
Sie reisten zum Flughafen Schiphol, stiegen ein, landeten gegen drei Uhr in Zagreb, Kroatien, und hatten zwei Stunden Zeit, sich umzusehen auf dem Gelände der UNPROFOR, Burger King, Duty Free, Boudewijn Kok kaufte ein After Shave der Marke Davidoff.
Dann die Fahrt durch die Nacht.
Srebrenica.
Ein Leben in Containern, drei Betten, zwei Fenster, eine Tür.
Zwei Dosen Bier pro Mann pro Tag.
Bruce Springsteen auf CD, Garth Brooks.
Und ab und zu eine Gewehrsalve in den Wäldern.
Du wusstest, wo die Front war?
Auch das habe er vergessen, sagt Boudewijn, er sei Mechaniker gewesen, zuständig für alles, was Diesel verbrauchte, vom Lastwagen bis zur Kettensäge, Teil der Kompanie Charly, 5000 Gulden Sold im Monat, keine Angst, eher Routine, Davidoff nach der Rasur, nachts ein Anruf nach Hause, gratis, weil er den Telefonisten kannte.
Manchmal stand ein Mädchen am Zaun, zwölf Jahre alt, langes schwarzes Haar, Boudewijn schenkte ihr Schokolade, eine Tube Zahnpaste, er gab ihr Geld, damit sie im Dorf Zigaretten für ihn kaufte, ein paar Eier.
What’s your name?
Kok.
And your name?
Samira.
Nach zwei Monaten gab es kaum noch Diesel im Lager des Dutchbat III, keine Ersatzteile mehr, kein Gemüse, die Serben fingen den Nachschub ab, März 1995, Hunger in der Schutzzone Srebrenica.
Boudewijn Kok, seine neue Aufgabe, zog von Wachposten zu Wachposten, notierte stündlich die Zahl der Salven, die zu hören waren, ständig mehr, April, Mai, Juni 1995. Abends stand er hinter der Theke in der Bar, schenkte Bier aus, zwei Dosen pro Mann pro Nacht.
Manchmal kam Post aus Hardenberg, Provinz Overijssel, das Lokalblatt „De Toren“, und Boudewijn, obwohl jede Kamera verboten war, holte aus der Unterhose seine Kamera, fotografierte sich lesend und schickte das Bild der Zeitung.
Weshalb?
Ich war noch ein Kind, sagt Boudewijn.
Einem Knaben, der stumm am Zaun stand, schenkte er seine Adidas Torsion.
Am Morgen des 25. Juni 1995 weckte mich ein Kamerad, Kok, steh auf, am Zaun sind Kinder, die rufen nach dir! Ich ging zum Zaun, Samira war dort und andere Mädchen, dann sangen sie mir zum Geburtstag ein Lied – seine Stimme stockt: Nicht heulen jetzt!
Die sangen mir ein Lied und warfen dann eine kleine Geige über den Zaun, grobes Holz, vier Saiten, ein Geschenk, darauf, mit Bleistift, die Worte: UNPROFOR, DUTCHBAT III, SREBRENICA.
Anfang Juli 1995.
In Srebrenica verhungerten Menschen.
Dann ging alles sehr schnell, sagt er.
Der Kommandant des Dutchbat III bat die UNPROFOR, die Stellungen der Serben, die immer näher kamen, aus Flugzeugen zu beschießen, die Flieger kamen nicht, einzig zwei niederländische Maschinen zerstörten einen Panzer. Die Serben drohten, einige Blauhelme, die sie gefangen hielten, beim nächsten Angriff zu töten.
Angst?
Noch nicht.
Boudewijn atmet laut.
Dann ging alles sehr schnell, sagt er.
Am 6. Juli 1995, einem heißen stickigen Donnerstag, strömten Flüchtlinge ins Lager der Niederländer, vielleicht 25 000 Menschen, vielleicht 30 000, und wir waren 300, du weißt nicht, was jetzt passiert, du weißt nichts mehr, es gibt nichts mehr, worauf du dich verlassen kannst, nur Chaos, nur Panik, du siehst in den Gesichtern der Menschen Angst, Angst, Angst, das ist es, was ich nie vergessen werde, die Angst in den Gesichtern dieser Menschen, was ich nie löschen kann.
Eigentlich, sagt jetzt Boudewijn Kok, die Hände zu Fäusten geballt, eigentlich kann man darüber nicht reden.
Immer häufiger schlugen die Granaten ein, immer näher, Häuser brannten, Felder, schließlich fuhren die Serben mit Lastwagen vor, mit Bussen, 5000 Serben, und drängten die Bosniaken in alte Fabriken, kein Wasser, keine Luft, kein Entkommen, manche erhängten sich.
Ich sah alte Menschen, verdurstend, sterbend, irgendwo, am Straßenrand, von keinem beachtet, und in den Gesichtern der Serben der Tod, der Hass.
Und wir waren 300, sagt Boudewijn Kok und schnäuzt.
Man kann darüber nicht reden –
Zu Hause nennen sie uns Feiglinge!
Sie riefen uns Nazis!
Zwanzig Schuss Munition besaß ich.
Wer nicht dort war, versteht nicht –
Die Serben, gut bewaffnet, begannen, die Flüchtlinge in Busse zu treiben, getrennt nach Geschlechtern, die Niederländer stellten sich daneben, manche halfen den Menschen ins Fahrzeug, am Abend des 13. Juli 1995 war Srebrenica geräumt, kein Muslim mehr im Ort.
8000 tote Bosniaken, zumeist Männer und Knaben zwischen 12 und 77, hingerichtet zwischen dem 13. und 17. Juli, sofort verscharrt.
Jetzt brauche ich eine Zigarette –
Er erinnere sich nicht, wie lange sie noch in Srebrenica geblieben seien, sagt Boudewijn, er erinnere sich daran, dass er alle dienstlichen Schriften, Ordner und Handbücher, verbrannt habe, dass er, um den Serben nichts zu hinterlassen, die Matratze aufschlitzte und den ganzen Wohnraum verpisste, ich war, sagt er, als ich Srebrenica verließ, 15 Kilo leichter als ein halbes Jahr zuvor, aber um 15 Albträume schwerer.
Der Ministerpräsident kam nach Zagreb geflogen, um seine Soldaten abzuholen, man trank wie seit Monaten nicht mehr, manche weinten, andere tanzten, auch Kronprinz Willem Alexander war da und reichte jedem die Hand.
Ich verweigerte sie ihm.
Weshalb?
Ich kam mir betrogen vor, im Stich gelassen.
Von wem?
Von der ganzen Welt.
Du kamst als anderer Mensch zurück?
Ich war nicht mehr ich.
Wieder unter einen Motor gekrümmt, erschrak Soldat Nummer 740625267 der Koninklijke Landmacht bei jedem Hammerschlag, beim Geschrei eines Babys. Er roch, wo es nach Schweinen roch, den Gestank der Flüchtlinge, die tagelang in alten Fabriken ausharrten, ohne Wasser, ohne Luft. Kollegen fragten, wie viele Leichen hast du gesehen?, erzähl!, und das Lokalblatt „De Toren“, dem er einst sein Foto geschickt hatte – ein Hardenberger in Srebrenica –, schrieb über Boudewijns Rückkehr ins Dorf.
Ach, du bist das, du Feigling, du Nazi, sagte jemand auf der Straße.
Ende Oktober 1995 stellte der niederländische Verteidigungsminister eine Untersuchung vor, 106 Seiten. Um Exzesse zu vermeiden, habe der Bataillonskommandant damals beschlossen, bei der Evakuierung der Flüchtlinge mitzuarbeiten, was aber nicht bedeute, man habe mit den Serben kooperiert.
Es wird immer an uns haften bleiben, dass wir diese Katastrophe nicht verhindern konnten, sprach der Politiker.
Weiße Autos machten mir Angst, weiß wie die Fahrzeuge der UNO, sagt Boudewijn Kok im Keller des Helvetia.
Ende Februar 1996 verließ er die Armee, zog zu den Eltern, dann in ein Bauernhaus, abends fuhr er nach Amsterdam oder Utrecht und trank durch die Nacht, die Freundin gab auf, kam zurück, gab auf, Boudewijn schlief kaum noch, versuchte sich als Mechaniker, aha, du warst in Srebrenica!
Im April brannte das Haus ab, das er gemietet hatte, übrig blieb der Helm, nun grau statt blau, und Samiras kleine Geige aus rohem Holz, UNPROFOR, DUTCHBAT III, SREBRENICA.
SREBRENICA! hieß das Theaterstück, das man in Amsterdam spielte, eine Abrechnung mit dem Dutchbat III, die Zeitungen berichteten, Radio, Fernsehen, Mai 1996, Roberto, ein Blauhelm, lärmt freudig von der Bühne, ich hörte die Knochen der Muslime krachen unter den Rädern, und ich dachte, gut, krepiert nur, ihre Schweinehunde.
Nichts ging mehr, sagt Boudewijn Kok.
Eines Nachts setzte er sich auf die Gleise der Bahn, die nach Zwolle fährt, er saß und wartete, ich weiß nicht wie lange, dann stand er auf, ich weiß nicht, wie ich weg kam von dort, irgendwann saß ich wieder im Auto, benommen, bewusstlos, und fuhr nach Hause.
Schluss mit der Freundin.
Schulden.
Boudewijn Kok war nun Vertreter für Reklame im Internet, er lernte eine andere Frau kennen, heiratete, 27. Februar 1999, geschieden ein Jahr später, saß eines Nachts wieder auf den Gleisen der Bahn.
Nichts!
Du weißt nicht, was Krieg mit dir macht, bevor du ihn selber erlebst.
Im Jahr 2000 verliebte sich Boudewijn in Silvia, er begann zu erzählen, Nacht für Nacht, immer wieder dachte er an Samira und schrieb dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, ob man wisse, wo sie sei, er schrieb der UNICEF, den Ärzten ohne Grenzen, ihr Name war auf keiner Liste, nicht auf der der Lebenden, nicht auf der der Toten.
2005 gebar Silvia einen Sohn, Denzel, 2006 schickte der Verteidigungsminister, in Ausführung des ministeriellen Beschlusses vom 18.06.2006, ein Ehrenabzeichen, 2007 reiste Boudewijn Kok, getrieben von irgendwas, nach Srebrenica, bosnische Polizisten an der Seite, einer sagte, du bist doch Kok, bist du nicht Kok?, es war der Mensch, dem ich zwölf Jahre zuvor meine Adidas geschenkt hatte.
Boudewijn schiebt die Schultern hoch und schweigt.
Ich weiß nicht, ob ich etwas fühlte.
Trauer?
Ich weiß es nicht.
Wut?
Keine Ahnung.
Ja, vielleicht Wut. Und Trauer.
Die Wahrheit ist, dass jeder überleben will.
Im März 2008 übernahm Boudewijn, nun 34, Kriegsveteran, das Café de Buren in Witharen, 70 Einwohner, er stellte künstliche Blumen auf die Simse, weiße Orchideen, an die Wände hängte er Reklame, Heineken, unter die Decke ein Bild, Öl auf Leinwand, weinende Frauen, schreiende Soldaten, der Völkermord von Srebrenica, daneben das T-Shirt der Vergangenheit, DUTCHBAT-III, und den Artikel aus einer Zeitung, 4. Dezember 2006: Srebrenica was zelfmoordmissie – manchmal lud er zu einer Runde Billard, Poker, Dart, brachte sich über die Runden.
Irgendwie so, sagt er.
Ab und zu stand ein Reporter vor der Tür, Boudewijn ließ kein Mikrofon aus.
Weil ich will, dass die Wahrheit gewinnt.
Die Wahrheit ist, dass wir nicht anders konnten.
Ohne getötet zu werden.
Die Wahrheit ist, dass jeder überleben will.
Krieg macht Egoisten.
Boudewijn Kok fuhr nach Den Haag, Ende Mai 2011, um dabei zu sein, als Polizisten General Ratko Mladic, dessen Truppen die Männer von Srebrenica ermordet, viele Mädchen und Frauen vergewaltigt hatten, in eine Zelle des Tribunals für das ehemalige Jugoslawien brachten.
Denn ich hatte nicht vergessen, wie er da stand im Juli vor 20 Jahren, als wir Srebrenica verließen, die Daumen im Gürtel, sein Grinsen im Gesicht – nun wollte ich ihn sehen.
Und?
Nichts.
Im Juni 2012, eingeladen vom niederländischen Fernsehsender NTR, reiste Boudewijn wieder nach Srebrenica, ging über das Gelände von einst, sprach in die Kamera, strich an dem hohen Zaun entlang, der immer noch stand, und entdeckte, vom Fernsehen erwirkt, in der Ferne eine Frau, Samira, langes schwarzes Haar, sie fielen sich in die Arme, Samira und Boudewijn, hielten sich fest und weinten.
Sie ist nun 32, längst Mutter eines Sohnes, sagt Boudewijn.
Sie sagte, sie sei mir dankbar, dass ich ihr damals in den Bus geholfen hätte.
Vermutlich deswegen, sagte sie, sei sie nicht vergewaltigt worden.
Vielleicht war mein Krieg nicht ganz sinnlos, sagt Boudewijn.
Er beschloss, den Rest seines Lebens in Srebrenica zu verbringen, flog schnell in die Niederlande, dann wieder nach Bosnien, blieb nur eine Woche.
Zurück in meinem Café de Buren ging nichts mehr.
Boudewijn Kok stand erst mittags auf, stritt mit seiner Frau, setzte sich ins Auto, fuhr nach Amsterdam, anderthalb Stunden weit, einfach so, ich fuhr zurück, ständig auf der Flucht, bezahlte meine Rechnungen nicht mehr, verliebte mich in eine andere, Scheiße, Scheidung, Scheiße.
Und heute?
Bin ich in Therapie. Bin arbeitslos, krankgeschrieben, ohne Frau.
Ein Schlusswort, Boudewijn?
Er lacht laut.
Noch dieses Jahr, sobald ich das Geld beisammen habe, lasse ich mir ein weiteres Tattoo stechen, einen knienden Soldaten, einen Dämon in seinem Rücken, den Dolch gezückt.
Wer ist der Dämon?
Die Politik.
Nur Samira schickt ab und zu ein Smiley.
Erwin Koch
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