Bundesverfassungsgericht kippt Betreuungsgeld: Es braucht jetzt eine Diskussion ohne Ideologie
Die einen jubeln, die anderen ereifern sich - das umstrittene Betreuungsgeld ist vom Tisch. Dabei war es nie so schlecht, wie es gemacht wurde. Eine neue Diskussion sollte sich von Eitelkeiten unterschiedlicher Weltbilder befreien. Ein Kommentar.
Politik wäre einfach, wäre die Welt so, wie Horst Seehofer sie sich macht. In der Vergangenheit habe das Verfassungsgericht Familien mit Kindern doch immer besonders unterstützt. Nun habe es mit dieser Tradition gebrochen, klagt Bayerns Ministerpräsident über das Karlsruher Urteil zum Betreuungsgeld. Als ließe sich alles, was geschieht, mit Traditionen oder ihrem Bruch erklären.
Doch die Sache mit dem Betreuungsgeld geht tiefer, die Prämissen des Richterspruchs sind andere, und Seehofer hat alles zusammen unterschätzt. Ein Eindruck, den seine trotzige Reaktion, die umkämpfte Prämie als Landesleistung beizubehalten, noch vertieft. War es vielleicht doch falsch, das Anliegen der Bundespolitik überzustülpen?
Die Antwort darauf mag Seehofer alleine finden, während außerhalb Bayerns eine andere Frage zu erörtern wäre: War es richtig, dem Vorstoß mit einem solchen Widerstand zu begegnen? Es mag viele geben, die sich nach der Entscheidung der Verfassungsrichter in ihrer Kritik bestätigt sehen.
Alte Debatte erscheint recht bizarr
Aber erweist sich gesellschaftlicher Fortschritt wirklich darin, dass eine halbe Million Eltern in Deutschland – auch in Berlin soll es einige tausend geben – künftig mit 150 Euro weniger im Monat auskommen sollen? Selbst in schlichteren Weltbildern kann sich Wahrheit zeigen. Im Fall der Seehoferschen Traditionsbeschwörung ist es die, dass Familien mit Kleinkindern Geld gut brauchen können, weil Kosten wachsen und Einkommen schrumpfen.
Derart von Ideologie entkleidet, erscheinen zurückliegende Debatten einigermaßen bizarr. So notwendig es war und ist, in den Kita-Ausbau Milliarden zu stecken, so folgerichtig war und ist es auch, über Unterstützung für diejenigen nachzudenken, die ihre Kinder woanders, durch andere oder lieber selbst betreuen möchten.
„Wahlfreiheit“ heißt das im konservativen Politsprech, ein allzu kühnes Wort für einen Abschnitt im Leben, der vorrangig von Zwängen regiert wird. Doch wie ihnen begegnet oder ausgewichen wird, da mag jede Familie ihre eigene Strategie entwickeln und dennoch auf staatliche Hilfe rechnen dürfen.
Es war deshalb ein verkrampftes Ansinnen, das Betreuungsgeld vor Gericht zu bringen, weil es angeblich Frauen an den Herd kettet oder Migrantenkinder an den Fernseher. So schön sich die Summe auf dem Konto macht, für solche Effekte hätte es eine Null am Ende mehr sein müssen.
Ohnehin erscheint es angeraten, die politische Verhandlung von Geschlechterrollen nur in Maßen auf das Zuteilen von Familienleistungen zu übertragen. Wie Kinder aufwachsen, sollte zunächst eine Angelegenheit der Eltern sein. Familienhilfe in Optimierungsprogramme umzudeuten, um erwünschte Milieus zu erzeugen, würde diese Priorität verfehlen.
Symbol für wachsende Richtermacht
Alles in allem zu unbedeutend, so lautet, zusammengefasst, auch das Urteil aus Karlsruhe über das Betreuungsgeld. Deshalb hat es, anders als das Elterngeld, nicht die Erforderlichkeitshürde für eine Bundesregelung überspringen können. Darin liegt keinTraditionsbruch, im Gegenteil.
Seit das Grundgesetz den Ländern im Gesetzgebungsringen mit dem Bund durch die entsprechenden Klausel den Rücken gestärkt hat, sehen die Verfassungsrichter mit Adlerblicken auf den Zugriff aus Berlin. So viel öffentlichen Zuspruch diese Justizkontrolle auch erfährt, hier haben sich ein paar Formeln herangebildet, die nun den Verfassungsrichtern überantworten, was früher einmal der (Bundes-)Gesetzgeber zu beurteilen hatte. Das juristische Nein zum Betreuungsgeld darf deshalb auch als Symbol für wachsende Richtermacht gelten.
Macht und Symbole – das war es wohl auch, worum es in der Diskussion ging. Ein Seehofer wollte zeigen, dass Deutschland noch tickt wie er, und eine Front der Aufgeklärten ihm beweisen, wie falsch er damit lag. Sollte die Diskussion nun von Neuem beginnen, wäre zu hoffen, sie könnte sich von diesen Eitelkeiten befreien. Das Betreuungsgeld nutzt wenig – doch immerhin jenen, die es bekommen. Und allen anderen schadet es nicht.
Jost Müller-Neuhof