Festnahme von Dogan Akhanli: Erdogans langer Arm nach Spanien
Der deutsche Autor Dogan Akhanli ist zwar frei, könnte aber dennoch an die Türkei ausgeliefert werden. Wie ist so etwas möglich? Fragen und Antworten.
Der im Spanienurlaub festgenommene Schriftsteller Dogan Akhanli ist wieder frei. Er darf Spanien aber vorerst nicht verlassen. Akhanli stammt aus der Türkei und ist seit Jahren deutscher Staatsbürger. Die Türkei verlangt weiter seine Auslieferung, Deutschland will das verhindern. Die Spannungen zwischen Ankara und Berlin haben damit einen neuen Höhepunkt erreicht. Am Sonntag kritisiert auch Bundeskanzlerin Angela Merkel die Türkei für ihr Vorgehen. Internationale Einrichtungen wie die grenzübergreifende Polizeibehörde Interpol dürften "nicht für so etwas missbraucht" werden, sagte Merkel im "Townhall-Meeting" des Senders RTL.
Wie konnte es zu der Festnahme kommen?
Gegen Akhanli liegt kein internationaler Haftbefehl vor. Interpol hat lediglich eine sogenannte Red Notice an seine 190 Mitgliedsstaaten weitergegeben, in der sie darüber informiert, dass die Türkei um die Festnahme und Auslieferung des Schriftstellers bittet. Die gegen den Gesuchten vorliegenden Vorwürfe werden in einem solchen Fall nicht unbedingt von Interpol geprüft.
Viele Interpol-Mitglieder überlegen daher genau, ob und wie sie auf ein solches Rundschreiben reagieren – vor allem, wenn in dem Land, in das ausgeliefert werden soll, fragwürdige Rechtsstandards herrschen. Deutschland verhalte sich in ähnlichen Fällen eher „zurückhaltend“, attestiert Ulrich Delius von der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV). Spanien offenbar nicht.
Was werfen die türkischen Behörden dem Schriftsteller genau vor?
Akhanli war 1991 nach Deutschland geflüchtet, weil ihm in der Türkei die Beteiligung an einem Raubüberfall vorgeworfen wurde. Das Verfahren gegen den linksgerichteten Schriftsteller galt als Rachefeldzug der türkischen Justiz gegen angebliche Staatsfeinde. Akhanli befasst sich in seinen Werken unter anderem mit der Verfolgung der Armenier durch die Türkei.
Als er 2010 in die Türkei einreiste, um seinen todkranken Vater zu besuchen, wurde er festgenommen. Nach einigen Monaten Haft wurde er aber wieder freigelassen und konnte nach Deutschland zurückkehren. 2011 wurde er in Abwesenheit freigesprochen. 2013 wurde der Freispruch jedoch wieder aufgehoben und der Fall neu aufgerollt.
Wie geht es jetzt weiter?
Ausgestanden ist die Sache für Dogan Akhanli noch nicht. Die Türkei verlangt weiter seine Auslieferung und hat jetzt 40 Tage Zeit, einen entsprechenden Antrag in Spanien zu stellen. Sobald dieser vorliegt, prüfen die Spanier die darin genannten Vorwürfe und Auslieferungsgründe, Akhanli kann sich in einer Anhörung dazu äußern. Erst dann entscheiden die spanischen Behörden über die Auslieferung.
Ein Veto gegen eine Auslieferung seines Staatsbürgers kann die Bundesrepublik aber nicht einlegen. „Wir haben in der EU kein gemeinsames Strafrecht“, erklärt Außenamtssprecher Martin Schäfer. Jedes Land entscheide unabhängig. Aber da am Ende Spaniens Regierung entscheidet, ist es ein politischer Fall. Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) geht daher davon aus, dass Akhanli nicht ausgeliefert wird. Dennoch ist es denkwürdig, dass eine Auslieferung zumindest möglich ist. Für Ulrich Delius sind einheitliche EU-Standards bei Fahndungsaufrufen überfällig. Er fordert eine Schwarze Liste für Staaten, an die EU-Mitglieder nicht ausliefern sollten.
Ist Akhanli ein Einzelfall?
Nein. Vor rund zehn Tagen war spanischen Medienberichten zufolge bereits der schwedische Schriftsteller Hamza Yalcin auf Ersuchen der Türkei in Barcelona festgenommen worden. Nach einem Bericht von „El Periodico“ wird ihm Beleidigung Erdogans vorgeworfen. Zudem soll er Mitglied einer linksradikalen, terroristischen Vereinigung sein. Über seine Auslieferung muss die spanische Justiz ebenfalls noch entscheiden.
Menschenrechtsexperte Delius wirft auch China vor, unliebsame Aktivisten über Interpol zu verfolgen. So sei in Italien Ende Juli der uigurische Menschenrechtsverteidiger Dolkum Isa auf Grundlage einer „Red Notice“ festgenommen worden. Auch er ist deutscher Staatsbürger. Interpol müsse dieses Verfahren dringend reformieren, wenn es nicht zum „Büttel der Feinde des Rechts“ werden wolle, sagt Delius. „Wenn man sich als deutscher Staatsbürger selbst in der Europäischen Union nicht mehr frei bewegen kann, weil ein Verhaftung droht, dann gibt es einen gravierenden Fehler im System.“
Interpol kann die Veröffentlichung einer „Red Notice“ allerdings auch ablehnen. Vor einigen Jahren weigerte sich die Polizeiorganisation etwa, einen Fahndungsaufruf von Ägypten weiterzugeben, der 15 Mitarbeitern von amerikanischen und anderen in Ägypten aktiven NGOs galt.
Warum geht die Türkei gerade jetzt gegen Akhanli vor?
Mit der Festnahme in Spanien will der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan offenbar ein weiteres Mal an der Eskalationsschraube im angespannten deutschtürkischen Verhältnis drehen. Nach willkürlichen Verhaftungen deutscher Staatsbürger in der Türkei demonstriert Erdogan, dass er seine Gegner auch außerhalb der eigenen Landesgrenzen verfolgen kann. Den Betroffenen signalisiert er damit: „Ihr könnt euch nirgendwo sicher fühlen.“ Deutschland will er wohl demonstrieren, wie groß sein Einfluss selbst in der EU ist. Ein besonderer Affront ist die Festnahme Akhanlis auch, weil sie erfolgte, als sich der deutsche Außenminister in Spanien aufhielt – und von den spanischen Behörden über den Vorgang offenbar nicht ins Bild gesetzt wurde.
Die deutsch-türkischen Beziehungen sind bereits seit über einem Jahr sehr angespannt. Die Armenier-Resolution im Bundestag, die sehr zurückhaltende Reaktion der Deutschen auf den Putschversuch vom Juli 2016, die deutsche Kritik an der anschließenden Festnahmewelle in der Türkei und nicht zuletzt die Inhaftierung von Bundesbürgern durch Erdogans Justiz haben das Klima vergiftet. Berlin wirft Ankara vor, festgenommene Bundesbürger als Geiseln einzusetzen, um von Deutschland die Auslieferung von Anhängern des Predigers Fethullah Gülen und türkischen Regimegegnern zu erreichen.
In den vergangenen Tagen ist der Streit beträchtlich eskaliert. Nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Ausweitung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei ablehnte, rief Erdogan die türkischstämmigen Wähler offen auf, bei der Bundestagswahl im September gegen die Regierungschefin, gegen die SPD und gegen die Grünen zu stimmen. Auf Sigmar Gabriel hat sich Erdogan regelrecht eingeschossen: „Wer bist du denn, dass du mit dem türkischen Präsidenten redest?“ fragte Erdogan den deutschen Minister bei einer Rede am Wochenende. „Spiel dich nicht auf. Wie alt bist du denn?“ Erdogan will damit wohl klarstellen: Er selbst ist oben, Gabriel ziemlich weit unten.
Wie geht es den deutschen Häftlingen in der Türkei?
Zu den deutschen Häftlingen, die derzeit in türkischen Gefängnissen sitzen, gehören unter anderen der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel und der Menschenrechtler Peter Steudtner, die in den nächsten Tagen Besuch vom deutschen Botschafter in Ankara, Martin Erdmann, erhalten sollen. Auch die türkischstämmige Journalistin und Übersetzerin Mesalo Tolu wartet weiter auf ihren Prozess. In all diesen Fällen sind die Einwirkungsmöglichkeiten der Bundesregierung begrenzt. Einen Austausch der inhaftierten Bundesbürger gegen Gülen-Anhänger in Deutschland lehnt Berlin strikt ab.
Weshalb forciert die Türkei den Streit mit der Bundesrepublik?
Ankara macht den deutschen Wahlkampf und einen angeblichen Stimmenfang deutscher Politiker auf dem Rücken der Türken dafür verantwortlich, dass die Beziehungen am „Bruchpunkt“ angelangt sind, wie die regierungstreue Zeitung „Daily Sabah“ formulierte. Diese Vermutung ignoriert allerdings die Tatsache, dass die Türkei ihrerseits die Spannungen anheizt, vor allem mit der Inhaftierung deutscher Staatsbürger und mit dem öffentlichen Vorwurf, die Bundesrepublik gewähre türkischen Staatsfeinden Unterschlupf. Erdogan könnte diese Probleme auch diskret mit der Bundesregierung besprechen. Aber er zieht Marktplatz-Reden vor.
Was treibt Erdogan an?
Der Grund dafür liegt in der türkischen Innenpolitik. Auch für Erdogan hat der Wahlkampf begonnen. Mit einem personellen Umbau seiner Regierungspartei AKP will er sich auf das in 16 Monaten anstehende Superwahljahr 2019 mit Kommunal-, Parlaments- und Präsidentenwahlen vorbereiten. Bei der Präsidentenwahl braucht Erdogan mehr als 50 Prozent der Stimmen zur Wiederwahl – ein Ziel, dass spätestens nach dem knappen Ausgang des umstrittenen Verfassungsreferendums sehr unsicher geworden ist.
Hinzu kommt ein neuer Faktor, der Erdogan dazu animiert, mit Hilfe markiger Worte gegen Deutschland und andere westliche Staaten seine rechte Flanke zu schützen: Die nationalistische Politikerin Meral Aksener will in den kommenden Wochen eine neue Partei gründen, die rechtsgerichtete und konservative Wähler ansprechen soll. Die neue Formation könnte Erdogans Chancen bei der Präsidentenwahl schmälern.
Wie groß ist die Unterstützung für Erdogan in der Türkei und bei Türken in Deutschland?
Nach wie vor ist Erdogan in der Türkei beliebter als andere Politiker. Allerdings lehnt etwa die Hälfte der Wählerschaft seine Politik ab. Bei Türken in Deutschland erhielt Erdogans neue Verfassung im April dagegen eine größere Mehrheit als in der Türkei selbst. Allerdings ging nur knapp die Hälfte der etwa 1,5 Millionen türkischen Bürger in Deutschland überhaupt wählen. Im April nicht wahlberechtigt waren die weiteren 1,5 Millionen Bundesbürger türkischer Abstammung, die ausschließlich die deutsche Staatsangehörigkeit haben. Laut Medienberichten wollen einige Deutschtürken nach dem Aufruf des Präsidenten, bei der Bundestagswahl nicht für CDU, SPD oder Grüne zu votieren, ihre Wahlzettel demonstrativ um einen Namen erweitern: Sie wollen ihre Kreuzchen bei „Erdogan“ machen. (mit AFP)
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