Koalition mit Nationalisten: Erdogan wird zur Geisel seiner Helfer
Um sich von den Nationalisten in seiner Regierung unabhängiger zu machen, sucht der türkische Präsident neue Partner - die verlangen eine neue Demokratisierung.
Bald sei es so weit, sagte Recep Tayyip Erdogan vor einigen Tagen wieder. Das neue Reformprogramm seiner Regierung sei weit gediehen und werde in Kürze der Öffentlichkeit vorgestellt, versprach der türkische Staatspräsident. Seit November redet der 66-jährige Staatschef von Neuerungen, mit denen er den Rechtsstaat stärken und die Wirtschaft ankurbeln will. Bessere Beziehungen zur EU und zur USA nach jahrelangen Streitereien sollen auch zum großen Neuanfang gehören. Doch geschehen ist bisher so gut wie nichts. Oppositionspolitiker und Experten glauben, den Grund für das Zögern zu kennen: Erdogan sei zur „Geisel“ seines rechtsnationalistischen und reformfeindlichen Koalitionspartners geworden, sagen sie.
Erdogan ist längst nicht so mächtig, wie im Westen angenommen wird. Seine Partei AKP hat im Parlament keine eigene Mehrheit und ist auf Unterstützung der rechtsgerichteten MHP unter deren Vorsitzenden Devlet Bahceli angewiesen. Der Chef der Nationalisten nutze seine Position, um Erdogan ideologisch in die rechte Ecke zu drängen, sagt der Journalist Can Dündar in seinem Berliner Exilsender „Özgürüz“: „Bahceli hat mit seiner kleinen Partei den mächtigsten Mann der Türkei als Geisel genommen.“
Weitgehend unbekannt, aber mächtig: MHP-Chef Bahceli
Devlet Bahceli ist außerhalb der Türkei nicht sehr bekannt, obwohl er schon viel länger in der Politik ist als Erdogan. Der 73-Jährige reist nie ins Ausland, wenn man vom türkischen Teil von Zypern absieht, und legt auch keinen Wert auf Rampenlicht. Das erschwere es dem Ausland manchmal, die wahren Machtverhältnisse in der Türkei zu erkennen, sagt der Politikwissenschaftler Halil Karaveli, Autor des Buches „Warum die Türkei autoritär ist“. Die Vorstellung von Erdogan als allmächtigem Sultan sei falsch, sagte Karaveli dem Tagesspiegel: „Die Leute im Westen, die Erdogan für das Problem halten, sollten wirklich näher hinsehen.“
Die MHP sichert Erdogan das Präsidentenamt - und er hilft der Partei ins Parlament
Erdogan ist auf Bahceli angewiesen, weil er seine früheren Partner verprellt hat. Zuletzt überwarf sich Erdogan mit den Gülenisten – den Anhängern des Predigers Fethullah Gülen, der Erdogan jahrelang an der Macht unterstützte, bis die beiden sich 2013 zerstritten. Seither sind Bahceli und seine Nationalisten in diese Lücke gestoßen. Mit Bahcelis Hilfe konnte Erdogan die Volksabstimmung über die Einführung des Präsidialsystems von 2017 knapp für sich entscheiden und sich 2018 zum Präsidenten wiederwählen lassen.
Die MHP selbst schafft es bei den Parlamentswahlen zwar stets nur mit Ach und Krach über die türkische Zehn-Prozent- Hürde. Seit der letzten Wahl muss sie aber nicht mehr um den Einzug ins Parlament zittern – denn Erdogans Regierung ließ das Wahlrecht ändern, sodass die MHP nun durch eine Verbindung der Listen von der AKP in die Volksvertretung gehievt werden kann.
Von dem Bündnis profitieren beide Seiten, sagt der frühere Parlamentsabgeordnete Aykan Erdemir, der heute für die Denkfabrik FDD in Washington arbeitet. Mit Rückendeckung durch die MHP könne Erdogan die Versuche der Opposition abwehren, Korruptionsermittlungen gegen seine Regierung einzuleiten. „Die MHP ist Erdogan wiederum verbunden, weil er ihr den Zugang zu staatlichen Ressourcen und Ämtern verschafft, die Bahceli an seine Anhänger verteilen kann“, sagte Erdemir dem Tagesspiegel.
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Anhänger der MHP sind in den vergangenen Jahren in Schlüsselstellungen von Militär, Justiz und Bürokratie aufgestiegen. Verteidigungsminister Hulusi Akar sei auf Vorschlag von Bahceli im Kabinett, sagt Karaveli.
Inhaltlich steht die MHP, die in den 70er Jahren mit ihrem Jugendverband, den berüchtigten „Grauen Wölfen“, Linke, Gewerkschafter und Studenten terrorisierte, heute für einen harten Kurs in der Kurdenfrage – und sie fordert eine Abkoppelung der Türkei vom Westen. So verlangt Bahceli ein Verbot der HDP. Erdogan ist dagegen, weil ein Parteiverbot seinen Neuanfang in den Beziehungen zur EU gefährden würde.
Erdogan sucht jetzt die Nähe zu Oppositionsparteien
Die Interessen der Partner Erdogan und Bahceli gehen also durchaus auseinander. Auffällig häufig besuchte Erdogan in den letzten Wochen die Vorstände mehrerer kleinerer Oppositionsparteien von der konservativen Seite des politischen Spektrums – offenbar, um die Bereitschaft zur Zusammenarbeit zu sondieren und zu demonstrieren.
Da sei es etwas in Bewegung, sagte der Journalist Rusen Cakir im Internet-Fernsehkanal „Medyascope“: „Meine Quellen in der Opposition halten Erdogans Reformankündigungen für einen Versuch, sich von Bahceli zu befreien – nur schaffe er es nicht allein, weil er zu stark von Bahceli abhängig ist. Diese Oppositionskreise wollen Erdogan aus der Sackgasse heraushelfen, damit er wieder auf demokratischen Boden kommt.“
Droht dem Präsidenten Gefahr aus dem Sicherheitsapparat?
MHP-Kritiker halten es für möglich, dass die Nationalisten zu drastischen Mitteln greifen werden, um das zu verhindern. „Ich rechne damit, dass in nächster Zeit etwas passiert in der Türkei, vielleicht Attentate oder Ähnliches – irgendetwas, das Erdogan im Westen schlecht aussehen lässt“, warnt Karaveli.
Eine Warnung kam auch von Ahmet Davutoglu, der Erdogan lange als Berater, Außenminister und Ministerpräsident diente; inzwischen führt Davutoglu eine eigene Partei, die gegen den Präsidenten opponiert. „Erdogan steht unter dem Diktat von Kräften aus dem Sicherheitsapparat, sie haben ihn in der Zange“, sagte Davutoglu kürzlich in einem Fernsehinterview: „Sie werden versuchen, Erdogan zu liquidieren und das Land selbst zu übernehmen.“
Sollte es Erdogan gelingen, ein neues Bündnis ohne die MHP zu schmieden, müsste er dafür wahrscheinlich einen hohen Preis zahlen: Er müsste sich damit abfinden, dass sein Präsidialsystem wieder abgeschafft wird und die Türkei zum parlamentarischen System zurückkehrt. „Wir können ein Bündnis mit der AKP eingehen, wenn sie von ihrer falschen Politik ablässt – aber nicht im Präsidialsystem“, sagte etwa Temel Karamollaoglu, Chef der kleinen islamistischen Saadet-Partei. Karamollaoglu formulierte damit die zentrale, gemeinsame Bedingung der Opposition an Erdogan, wenn sie ihm aus der Klemme helfen soll. Erdogan lehnt die Forderung nach Abschaffung des Präsidialsystems ab – jedenfalls bisher.