Massendemonstrationen in Hongkong: Elf Wochen Tränengas
Anfangs ging es um das Auslieferungsgesetz. Inzwischen geht es um mehr. Warum die Proteste in Hongkong eskaliert sind. Eine Analyse.
Es hat in Hongkong einmal eine Zeit gegeben, in der es noch eine Nachricht war, wenn die Polizei Tränengas gegen Demonstranten eingesetzt hatte. Fast drei Monate später hat sich die Lage grundlegend geändert. Am Montag, nachdem 1,7 Millionen Menschen für mehr Demokratie friedlich auf die Straßen gegangen waren, meldete die „South China Morning Post“ auf Twitter: „Zum ersten Mal seit elf Wochen endeten die Wochenend-Demonstrationen ohne Tränengas.“
Nicht nur die mehr als 1800 Tränengaskartuschen, die die Hongkonger Polizei in der Zwischenzeit auf Demonstranten abgefeuert hat, haben die Sieben-Millionen-Einwohner-Stadt im Süden Chinas verändert. Auch die Unwilligkeit der Hongkonger Regierung, auf die Forderungen der Demonstranten einzugehen, und die Drohungen Chinas, notfalls militärische Gewalt anzuwenden, haben die Situation dramatisch verschärft.
Die andauernden Auseinandersetzungen mit der Polizei sowie deren Taktik, Polizisten in Zivil unter die Demonstranten zu mischen, haben einige Demonstranten weiter radikalisiert. So kam es am 13. August am Flughafen zu Handgemenge mit Fluggästen, zwei China-Unterstützer, darunter ein Journalist, wurden misshandelt und kurzzeitig gefangen genommen.
Weltweite Zeitungsannoncen
Die Proteste hatten am 9. Juni begonnen und hatten sich an dem geplanten Auslieferungsgesetz entzündet, das die Auslieferung von Kriminellen auch an China ermöglicht hätte. Die Sorge der Demonstranten ist, dass das autoritäre China auf diese Weise auch politisch Andersdenkende unter Kontrolle bringen will und kann.
Inzwischen hat Hongkongs umstrittene Regierungschefin Carrie Lam das Gesetz auf Eis gelegt, formell zurückgezogen aber hat sie es nicht. Weshalb die Menschen weiterhin auf die Straße gehen. Inzwischen haben sich ihre Anliegen erweitert, sie fordern nun auch eine unabhängige Untersuchung der zum Teil exzessiven Polizeigewalt gegen Demonstranten. Und das allgemeine Wahlrecht. Das ist den Hongkongern nach Artikel 45 des Grundgesetzes „als höchstes Ziel“ in Aussicht gestellt worden.
Seit die einstige britische Kronkolonie 1997 an China zurückgegeben wurde, gilt für die Sonderverwaltungszone das Grundgesetz mit dem verfassungsrechtlichen Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“. Es bedeutet, dass Hongkong zwar zum sozialistischen China gehört, die Stadt aber demokratische Rechte wie etwa Versammlungs- und Redefreiheit sowie Pressefreiheit behalten darf.
Allerdings beklagen viele, dass diese Rechte in den letzten Jahren durch Peking zunehmend aufgeweicht worden sind. Die Protestbewegung schaltet in diesen Tagen weltweit eine Zeitungsannonce, in der sie unter dem Titel „Hongkong fällt“ um Hilfe bittet. Darin heißt es: „Die Wahrheit, die Hongkongs Regierung verschweigt, ist: Hongkong steht kurz davor, ein Polizeistaat zu werden.“
Die Aktivisten lassen sich nicht einschüchtern
Die zumeist sehr jungen Demonstranten kämpfen auch deshalb einen verzweifelten Kampf um Autonomie, weil das verfassungsrechtliche Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ 2047 ausläuft. Wie es danach weitergeht, ist völlig unklar. Viele wollen es China bis dahin so schwer wie möglich machen, Hongkong in das politische System einzugliedern. Einige wenige fordern sogar die Unabhängigkeit.
Das aber kann China nicht zulassen, weshalb auch ein Einmarsch der Volksbefreiungsarmee in Hongkong befürchtet wird. Doch das ist gar nicht nötig. Seit 1997 befinden sich bis zu 7000 chinesische Soldaten in den Hongkonger Kasernen. Sie könnten sofort eingesetzt werden, falls die Hongkonger Regierung sie anfordert. Dafür gebe es gegenwärtig keinen Grund, sagen deren Vertreter.
Medienwirksam hat China an der Grenze in Shenzhen Einheiten der paramilitärischen Peoples Armed Police stationiert. Ihr Einsatz in Hongkong könnte nicht nur Erinnerungen an das Tiananmen-Massaker in Peking 1989 wecken, es würde auch „Ein Land, zwei Systeme“ hinfällig machen. Auch befindet sich China gegenwärtig in einem Handelskrieg mit den USA, ein Einmarsch in Hongkong würde die eigene Wirtschaft weiter schwächen.
Wohl auch deshalb lassen sich Hongkongs Aktivisten bislang nicht einschüchtern. Sie demonstrieren weiter. Am Freitag wollen sie die längste Menschenkette der Welt bilden.