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Blick auf eine Massendemonstration Ende Juli in Hongkong durch eine "Lennon Wall"
© REUTERS/Tyrone Siu

Fünf Anliegen und zwei Helden: So tickt die Demokratiebewegung in Hongkong

Treibende Kraft hinter den Protesten in Hongkong ist die Generation der Millennials. Was sie sich erhoffen und welche Rolle das Jahr 2047 spielt.

Erst Anfang Juli sprach sie, von chinesischen Diplomaten mehrfach unterbrochen, vor dem Menschenrechtsrat der UN in Genf und warf der Regierung in Peking vor, sie wolle Demokratie in Hongkong um jeden Preis verhindern.

Denise Ho, Königin des Canto-Pop und LGBT-Aktivistin, stand schon 2014 an der Seite der Regenschirm-Demonstranten.

Mit „Raise the Umbrella“ hatte sie die Hymne der Bewegung geschrieben, die für die direkte Wahl der Regierung eintrat. Die Folgen blieben nicht aus. Ho durfte in China nicht mehr auftreten. Pekings Propagandisten bezeichneten die zuvor in der Volksrepublik überaus erfolgreiche Sängerin als „Gift aus Hongkong“. Ihre Plattenverträge wurden annulliert und ihre Lieder nicht mehr gestreamt.

Ein anderer Protagonist der damaligen Proteste, der moderate, demokratisch gesinnte Benny Tai, Professor für Recht an der Hong Kong University, saß bis zu seiner überraschenden Freilassung am gestrigen Donnerstag im Gefängnis. Es handelte sich offenbar um ein Zugeständnis wie bei Joshua Wong, der Mitte Juni gleichfalls gegen Kaution vorzeitig aus einer zweimonatigen Haftstrafe entlassen wurde. 2014 wurde er mit gerade einmal 18 Jahren zum weltweit prominenten Wortführer des zivilen Ungehorsams.

Mit zahllosen Altersgenossen und Hunderttausenden von Gleichgesinnten kämpft er nun gegen das bis auf Weiteres suspendierte Auslieferungsgesetz, das den Anlass für die derzeitigen Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten lieferte.

„Wenn es nur eine Botschaft für die Welt gibt: Bei Veranstaltungen in Hongkong geht es um so viel mehr als das Gesetz, um mehr als Lam (die Regierungschefin), sogar um mehr als Demokratie“, twitterte Wong, „das alles ist selbstverständlich. Aber am Ende geht es um die Zukunft Hongkongs nach 2047, eine Zukunft, die unserer Generation gehört.“

Peking hatte schon 1990, sieben Jahre vor der Übergabe Hongkongs von Großbritannien an die Volksrepublik China ein Grundgesetz für Hongkong verkündet, in dessen Paragraf 68 es heißt: „Das ultimative Ziel ist die Wahl aller Mitglieder des Parlaments durch allgemeines Wahlrecht.“ In der gemeinsamen Erklärung Großbritanniens und Chinas vom Jahre 1984, unterschrieben von Margret Thatcher und Zhao Ziyang, der das Massaker im Peking des Jahres 1989 nicht verhindern konnte, garantierten beide Seiten die Übergabe ab 1997 und die Gültigkeit der von Deng Xiaoping erfundenen Regel „Ein Land, zwei Systeme“.

Danach darf Hongkong kapitalistisch bleiben. Presse-, Versammlungs-, Meinungs-, Religionsfreiheit werden nicht abgeschafft und die Gerichte bleiben unabhängig – bis 2047. Joshua Wong wäre dann 51 Jahre alt.

Er und seine Generation würden aber auch gerne danach die genannten demokratischen Freiheiten in Hongkong genießen. So sind die Millennials die treibende Kraft der Proteste. Am 16. Juni 2019 versammelten sich laut Veranstalter zwei Millionen Menschen – von 7,4 Millionen Einwohnern – zum Protest gegen das Auslieferungsgesetz. Die Demonstration war angemeldet und genehmigt.

Fünf Menschen haben sich in den Tod gestürzt

Die Untersuchung eines Forschungsverbundes der Hongkonger Universitäten zeigt: 57 Prozent der Teilnehmer war unter 30, 31 Prozent unter 22. Am nächsten Tag der Proteste waren 81 Prozent unter 30. Sie nutzen den Messenger-Service Telegram, um sich zu verabreden, und weichen nach Pekings Blockade auf die Dating-Software Tinder aus. Sie nutzen Handzeichen, um sich zu verständigen. Auch ohne Anführer sind sie hervorragend organisiert.

Die zunehmende Brutalität der Polizei, auch mit neuen Waffen wie Pfefferbällen und Bleischrotsäcken, hat nicht zu einem Einlenken geführt. Auch ist ein harter Kern der Demonstranten in den letzten Wochen alles andere als zimperlich. Noch hat es durch Polizeigewalt keine Toten gegeben, aber einige Hundert Verhaftete, auf die bis zu zehn Jahre Gefängnis warten. Jedoch haben sich fünf Menschen in den Tod gestürzt, aus Protest gegen die massiven Versuche Pekings, die Bürgerrechte einzuschränken.

Fünf Anliegen haben die Demonstranten, die nunmehr im dritten Monat aktiv sind: vollständige Rücknahme des Auslieferungsgesetzes; keine strafrechtliche Verfolgung der Protestierer; Demonstrationen dürfen nicht als Riots bezeichnet werden; keine durch Peking manipulierten Wahlen; Untersuchung der Polizeibrutalitäten. Das Verlangen nach einem allgemeinen und gleichen Wahlrecht der Hongkonger ist die alles überwölbende zentrale Forderung.

Doch Peking zögert trotz Zusage dessen Einführung hinaus, wohl wissend, dass keine Mehrheit pro Peking zustande käme. Bei allen vergangenen Wahlen, bei denen nur die Hälfte der Sitze im Parlament direkt gewählt werden konnte, hatten demokratische Parteien die Mehrheit. Dennoch ist immer eine Mehrheit pro Peking gesichert. Alle Hongkonger wissen, wie wenig gerecht das chinesische Justizsystem ist.

Schwarze Gefängnisse, durch Folter erpresste Geständnisse, Richter, die keine Richter sind, sondern den Anordnungen von Parteisekretären unterstehen. Niemand will sich dem ausliefern. Jeder Hongkonger erinnert sich an die Entführung fünf Hongkonger Buchhändler im Jahre 2015 durch die chinesische Geheimpolizei, die in Hongkong eigentlich nicht tätig werden darf. Die winzige Buchhandlung veröffentlichte kritische, wenngleich in ihren persönlichen Attacken auf den Lebenswandel der Pekinger Führungsmannschaft wohl nicht besonders solide Bücher.

Einer der Händler, Gui Minhui, schwedischer Staatsbürger, wurde im Januar 2018 erneut verhaftet, diesmal in China aus einem Zug heraus und im Beisein von zwei schwedischen Diplomaten. Seitdem ist er spurlos verschwunden. Peking will zeigen, dass es jederzeit auftrumpfen kann. „Den Affen töten, um den Tiger zu erschrecken“ heißt ein Sprichwort.

Auch Angriffe auf die Pressefreiheit sind allen Hongkongern geläufig: So wurde der stellvertretende Chefredakteur der Zeitschrift „Ming Pao“ vor einigen Jahren entlassen, weil er die Panama Papers ins Heft hob, worin sich auch Berichte über Schwarzgelder von Führungskadern aus Peking finden ließen. Mehrfach bedrohte man Jimmy Lai, den Eigentümer der Zeitung „Apple Daily“, einer wichtigen Stimme der Demokraten.

Ihr Motto: Sei wie Wasser

An zwei vor langer Zeit verstorbenen Helden orientieren sich aktuell die jungen Demonstranten in Hongkong: an Bruce Lee, gestorben 1973 in Hongkong, und an John Lennon, erschossen 1980 von einem Attentäter in New York. Bruce Lees Filme brachen in den 1970er Jahren alle Kassenrekorde, besonders in Hongkong. Auch im Westen Deutschlands waren sie beliebt. Als eine andere Form von Klassikern goutierten junge Studierende in Nachtvorstellungen Filme wie „Todesgrüße aus Shanghai“. 1963 hatte Bruce Lee „Chinese Gung Fu: The Philosophical Art of Self-Defense“ veröffentlicht.

Die Wiederentdeckung der alten Kampftechnik und des Shaolin-Klosters begann damals. In einem berühmten Interview aus dem Jahre 1971 meinte Bruce Lee, nach seiner Kung-Fu-Technik befragt: Sei ohne Form, ohne Schatten, sei wie Wasser. Als er 1973 starb, trug Steve McQueen seinen Sarg. 2005 widmete man Bruce Lee in Hongkong ein riesiges Denkmal.

Wie Wasser fließen die jungen Protestierer derzeit durch Hongkong, verabreden sich an Orten, wo keine Polizei mit Gummigeschossen auf sie wartet. Mit Regenschirmen schützen sie sich gegen Gummiknüppel, Pfefferspray und Tränengas. Ein Ende ist nicht abzusehen. Peking lässt martialische Videos der Volksbefreiungsarmee senden, allein 10 000 Soldaten sind in Hongkong stationiert. Doch vor dem Einsatz von Panzern und Soldaten schreckt Peking, so scheint es, noch zurück.

Die Feiern auf dem Tiananmen zum 70. Jahrestag der Ausrufung der Volksrepublik China am 1. Oktober sollen nicht beeinträchtigt werden. 1989 bot die Regierung in Peking 300 000 Soldaten und Hunderte Panzer auf, um die Demonstrationen in der Stadt und auf dem Tiananmen in der Nacht des 4. Juni endgültig niederzuschlagen. An diesem 4. Juni 1989 wurde in Polen erstmals frei gewählt. „Polish Disease“ nannten das die Herrscher in Peking.

Über 200 Lennon Walls gibt es derzeit in Hongkong. Und täglich werden es mehr. Es gibt sie, um an die aktuellen Ereignisse zu erinnern, mittlerweile auch in Tokio, London, Melbourne und Toronto. Jeder kann dort seine freie Meinung hinterlassen, einen Glückwunsch, eine Botschaft, Hinweise, wie man sich gegen Tränengas schützt. Als 2014 die erste Lennon Wall in Hongkong aufkam, war die Polizei schnell zur Stelle. Heute entstehen diese Pinnwände des Protestes in so rascher Folge, dass die Polizei nicht mehr nachkommt mit dem Abräumen.

Schon die tschechoslowakische Geheimpolizei musste sich im Prag der 1980er Jahre mit dem Beatle auseinandersetzen. Kurz nachdem John Lennon 1980 in New York erschossen wurde, wollten junge Leute in Prag an diesen großen Künstler erinnern und zeichneten sein Porträt und Zeilen aus Songs wie „Give Peace a Chance“ auf die Mauer. 1988 kam es wegen der Graffiti auf dieser Mauer sogar zu einer Straßenschlacht zwischen Polizei und Studenten auf der Karlsbrücke, nur wenige Monate vor dem Ende der Diktatur.

Während der Regenschirm-Proteste 2014 war John Lennons Song „Imagine“ eine der Hymnen. „Democracy now, free Hongkong“, rufen heute die Millennials auf den Straßen von Hongkong.

Gereon Sievernich

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