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Bank of China und Cheung Kong Tower hinter sich: Ein vermummter Teilnehmer bei einer Demonstration in Hongkong
© dpa/Gregor Fischer

Krise in Hongkong: Die Stadt, die nicht mehr sicher ist

„Hongkong ist nicht China“, skandieren die Demonstranten. Das klingt trotzig – und verzweifelt. Denn Chinas Einfluss ist immer spürbar. Ein Essay.

Nichts ging mehr am Flughafen in Hongkong. Das wichtige Drehkreuz, über das Flüge in alle Welt koordiniert werden, war lahmgelegt von tausenden Demonstranten, die aus der Stadt dorthin gekommen waren. Die Check-In-Hallen wurden belagert, der Betrieb musste eingestellt werden. Das war der vorläufige Höhepunkt der Konfrontation zwischen Stadtbevölkerung und der Regierung des autonomen Territoriums Hongkong.

Seit zehn Wochen reißen die Proteste nicht ab. Begonnen hatte alles mit dem so genannten Abschiebedekret, das es Peking ermöglicht hätte, jeden ihm Unliebsamen aus Hongkong in die Volksrepublik zu bringen.

Hongkong war und ist stolz auf seine eigene Gerichtsbarkeit. Als Großbritannien seine ehemalige Kronkolonie 1997 als Sonderverwaltungszone an China übergab, wurde vertraglich zugesichert, dass dieser Status bis zum Jahr 2047 erhalten bliebe. Das Auslieferungsdekret hätte dieses Versprochen gebrochen und Hongkong zu einer ganz normalen chinesischen Stadt gemacht. Genau das wollen die Bürger aber nicht.

Die Menschen in der Sieben-Millionen-Einwohner-Metropole gaben in Umfragen in den vergangenen Jahren immer häufiger an, sich als Hongkonger und nicht als Chinesen zu fühlen. Und so war der Slogan der Demonstranten besonders anschlussfähig, der lautete: „Hongkong ist nicht China“. Chinas Herrschaftsanspruch spüren die Hongkonger dennoch. Sei es im Großen, wenn Kandidaten für Wahlen von Peking vorsortiert werden, oder im Streit ums Kleingedruckte, wenn Peking sich in Schulbuchinhalte einmischt und für die Kapitel, die mit China zu tun haben, bestimmte Formulierungen einfordert.

Englisch sprechen, links fahren

Die gewünschte Distanz lebt man auch im Alltag. Viele Menschen in Hongkong sprechen Englisch – wenn auch weniger, als manche ausländische Besucher sich wünschen würden –, und den Linksverkehr der Briten hat man ebenfalls beibehalten.

In China herrscht Rechtsverkehr.

Aber viel entscheidender ist: In China gibt es, anders als in Hongkong, keine auf den Menschenrechten fußende Rechtsstaatlichkeit. Und so war nach Bekanntwerden des Abschiebedekrets ein Aufschrei überall auf der Welt zu hören, denn damit hätten sich zumindest theoretisch Geschäftsreisende und Touristen gleichermaßen ohne viel Aufhebens von einem Gericht in der Volksrepublik wiederfinden können. Aus dem latenten Dauerunbehagen gegenüber China wurde bei manchen konkrete Angst, denn ein Dekret in dieser Form würde die Rechte der Bevölkerung einschränken. Es würde darüber hinaus auch dem Finanzplatz Hongkong das Totenglöckchen läuten, also die wirtschaftliche Existenz unzähliger Einwohner gefährden.

[Alexander Görlach ist Senior Fellow am Carnegie Council for Ethics in International Affairs in New York. Von 2017 bis 2018 war er als Gastwissenschaftler in Hongkong und Taiwan]

Als weit über eine Million Hongkonger dagegen demonstrierten, hatten sie damit Erfolg. Die Regierungschefin Carrie Lam, in Hongkong Chief Executive genannt, erklärte, das Dekret sei „tot“. Weil sie es aber nicht ordentlich zurückzog, gingen die Proteste weiter, und es kamen neue Forderungen auf: Lam möge sich entschuldigen, lautete die eine. Hongkong möge demokratische Reformen durchführen, die andere. Lam, so heißt es, habe zunächst Peking gegenüber versichert, das Abschiebedekret ohne Probleme verabschieden zu können. Wenn das stimmt, hat sich die Chief Executive erheblich verkalkuliert. Peking hielt sich in den ersten Wochen der Proteste jedenfalls auffallend zurück und gab Lam zum Ausbuhen frei, auf die sich der Zorn der Hongkonger konzentrierte.

2014 ging es gegen Chinas Einfluss auf die Wahlen

Die Demonstrationen in diesem Sommer können ohne die vorangegangenen im Jahr 2014 nicht völlig eingeordnet werden. Schon vor fünf Jahren war es zu schweren Protesten gekommen. Damals begehrten Studierende dagegen auf, dass für die Wahlen zum Hongkonger Regierungschef nur Kandidaten zugelassen werden sollten, die von China vorsortiert würden.

Die Proteste wurden unter dem Namen „Umbrella-Movement“ bekannt, weil sich zuletzt zehntausende Demonstranten mit aufgespannten Regenschirmen gegen das von der Polizei eingesetzte Tränengas schützten. Schon damals schmeckte das Versprechen „Ein Land, zwei Systeme“, das China Hongkong 1997 gegeben hatte, schal. Die Formel sollte zum Ausdruck bringen, das Hongkong zu China gehört und gleichzeitig etwas Eigenes ist. Der Finanzplatz an der chinesischen Küste sollte so seine Attraktivität als internationaler Handelsplatz behalten. Was ursprünglich einmal partnerschaftlich gemeint gewesen sein kann, hat sich unter der Führung des aktuellen Präsidenten Xi Jinping komplett verändert. Seit der sein Amt im Jahr 2012 antrat, hat er die Gangart Pekings gegenüber der Peripherie erheblich verschärft.

Mit voller Montur gegen Demonstranten: Sicherheitskräfte vor einer Polizeistation in Hongkong
Mit voller Montur gegen Demonstranten: Sicherheitskräfte vor einer Polizeistation in Hongkong
© REUTERS/Kim Hong-Ji

„Ein Land, zwei Systeme“ war auch die Formel, unter der das benachbarte Taiwan bewegt werden sollte, sich wieder mit der Volksrepublik China zu vereinigen. In diesem Fall ist der geschichtliche Hintergrund aber ein anderer: Den chinesischen Bürgerkrieg entschieden 1949 die kommunistischen Rebellen unter Mao Tse-Dong für sich. Sie unterwarfen die Republik China, die 1912 gegründet worden war, und machten daraus die Volksrepublik China. Politik und Militär der Republik China zog sich auf die Insel Taiwan zurück, um dort Kräfte zu sammeln und das Festland von den Maoisten zurückzuerobern. Daraus wurde nie etwas. Taiwan hat sich in den vergangenen 70 Jahren zu einem asiatischen „Power-House“ entwickelt, dass Chip-Technologie auf höchstem Niveau für die ganze Welt fertigt. Die Volksrepublik ihrerseits hat sich vom Armenhaus der Welt in ein Land mit einer bedeutenden Mittelschicht weiterentwickelt.

Hongkong und Taipeh sind zusammengerückt

Taiwan wird heute auf internationalem Parkett wie ein eigenes Land behandelt. De jure und mit Rücksicht auf die Volksrepublik unterhalten aber die wenigsten Länder volle diplomatische Beziehungen mit dem Eiland. China betrachtet Taiwan als sein Territorium. Taiwan hat allerdings seine eigene Armee, seine eigene Währung, sein eigenes Parlament und eine freie Presse. Das Land macht nicht den Eindruck, als ob es von der Volksrepublik einverleibt werden möchte.

Präsident Xi, der sein Land vom auf Entspannung bedachten Politikstil seiner Vorgänger entfernt, hat im Januar 2019 Taiwan unter dem zum Schlachtruf mutierten „Ein Land, zwei Systeme“ die militärische Annexion angedroht. Seitdem passt zwischen Taipeh und Hongkong, die beiden von Peking Drangsalierten, kein Blatt Papier mehr. So wurden unter anderem politische Flüchtlinge aus Hongkong auf der Insel aufgenommen.

Truppen wurden zusammengezogen, es wurde gedroht - und nun?

Trotz offener Drohungen aus Peking mit militärischer Gewalt gehen die Demonstrationen in Hongkong weiter
Trotz offener Drohungen aus Peking mit militärischer Gewalt gehen die Demonstrationen in Hongkong weiter
© dpa/Vincent Yu/AP

Der Hongkonger Politikwissenschaftler Brian Fong erklärt den Hongkonger und Taiwaner Widerstand mit seiner „Zentrum-Peripherie“-Theorie, die besagt: Wenn das Zentrum, in diesem Falle Peking, härter zugreift, entstehen an der Peripherie Unabhängigkeitsbestrebungen. In dem Maße, in dem Präsident Xi versucht, seine Idee des einen Chinas, ein China der Han-Chinesen, ihrer Kultur, Sprache und Geschichte, durchzusetzen, desto mehr erinnern sich die Menschen in Hongkong und Taiwan an ihre eigene Identität.

Zu den News aus Hongkong und Taiwan gehören die Enthüllungen über Konzentrationslager im Nordwesten des Landes, in der von muslimischen Uiguren bewohnten Provinz Xinjiang. Dort sollen bis zu einer Million Menschen einsitzen. Die chinesische Führung, die zuerst die Existenz der Lager bestritten hatte, gab die später zu und nannte sie „Umerziehungsstätten“. Der britische Sender BBC hat jüngst eine Dokumentation vorgelegt. Ähnlich wie in Tibet geht es Peking darum, die eigene Kultur der ansässigen Bevölkerung zugunsten einer Ideologie, die die Ethnie der Han-Chinesen bevorzugt, zurückzudrängen. Präsident Xi liegt hier in einem gefährlichen globalen Trend.

Dann kamen die Schlägertrupps

Angesichts dieser und anderer Entwicklungen evaluieren viele Länder ihre China-Strategie neu. US-Präsident Donald Trump, der mit China vor allem einen neuen Handelsdeal erreichen will, nannte die Proteste zunächst eine innere Angelegenheit Chinas, bevor er Xi vorschlug, sich mit den Demonstranten zu treffen. Das liegt schon eher auf einer Linie mit dem US-Kongress, der jüngst eine Petition verabschiedet hat, der die Demokratie-Demonstranten unterstützten soll. Dasselbe hat das Europäische Parlament getan.

Als Carrie Lam sich von dem Abschiebedekret distanzierte, sah es für einen kurzen Moment so aus, als ob in Hongkong ein Sieg errungen worden sei, und die bange Frage war: Wie würde Peking auf diesen kompletten Gesichtsverlust seiner Stadthalterin reagieren? Die lähmende Sorge wurde weggerissen von den enthemmten Schlägern in ihren weißen T-Shirts, die Jagd auf Demonstranten (die schwarze T-Shirts tragen) in der U-Bahn machten, sie verdroschen und auf Unbeteiligte einprügelten. Die Polizei schaute weg. Ein Youtube-Video, in dem sich ein Pro-China-Politiker mit den Schlägern abklatschte und sie lobte, ließ die Proteste wieder aufflammen. Nach dieser Eskalation kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei auf den Straßen – und der von aller Welt bemerkten Besetzung des Flughafens.

Peking nimmt Stellung zu Hongkong - zum ersten Mal seit 22 Jahren

Zum ersten Mal seit der Übergabe vor 22 Jahren gab es danach in Peking eine Pressekonferenz mit dem Tagesordnungspunkt Hongkong. Die Medien des Festlandes hatten sich bis dahin über die Proteste ausgeschwiegen oder pekingtreu – Peking sieht in den Demonstranten Gewalttäter – berichtet. Inzwischen aber ist Hongkong im ganzen Land Thema. Und da von oft auch privatem Interesse, denn gerade Geschäftsreisende wechseln täglich die Seiten, und eine Million Chinesen sind seit 1997 nach Hongkong umgezogen.

Ein Szenario, wie Peking reagieren könnte, könnte so aussehen: Die so genannte Volksbefreiungsarmee, die eine Kaserne auf Hongkong unterhält, könnte herangezogen werden, um für Peking in der Stadt die Ordnung wiederherzustellen. Müsste dazu Kriegsrecht verhängt und die Verfassung suspendiert werden? In einem solchen Falle hätte Peking über Umwege das erreicht, was das Abschiebedekret, in viel diskreterer Weise, hätte erreichen sollen.

Regenschirm-Proteste reloaded: Am Samstag wurde im strömenden Regen demonstriert. Eier gingen auch zu Bruch.
Regenschirm-Proteste reloaded: Am Samstag wurde im strömenden Regen demonstriert. Eier gingen auch zu Bruch.
© REUTERS

Noch ist nichts dergleichen geschehen und auch nicht abzusehen. Doch es gibt eben auch die Berichte und Bilder, die inzwischen belegen, das chinesische Truppen in der Nähe zusammengezogen wurden. Und Drohungen werden von Peking angesichts der anhaltenden Proteste, die am Samstag auch im strömenden Regen - also inklusive der von 2014 bekannten Regenschirmbilder - stattfanden, unverhohlen geäußert.

Nicht wenige erinnern sich darum an Tiananmen, das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking, im Juni 1989, als die Panzer die Revolte niederschlugen. In Festland-China darf darüber nicht gesprochen werden, das Internet ist entsprechend zensiert. Die Volksrepublik dürfte an einer Wiederholung solcher Bilder kein Interesse haben.

Greater China - wäre das ein Weg?

Auf der anderen Seite hat Präsident Xi häufig genug betont, dass es unter ihm keine Abspaltung von China geben werde. Was wäre die Lösung? Ein Mittelweg?

Peking würde eine Menge Vertrauen wiederaufbauen müssen, um die Menschen in Hongkong und Taiwan für Varianten eines „Ein Land, zwei Systeme“ gewinnen zu können. Vielleicht könnte die Idee eines „Greater China“ wiederbelebt werden. Dies war eine Idee, die Länder und Regionen, die maßgeblich von der chinesischen Kultur beeinflusst wurden, in eine Art ökonomisch-kulturellen Verband zu integrieren. Unter der aktuellen Führung in Peking ist das derzeit nicht denkbar, aber in einer besseren Zukunft womöglich schon.

Für den demokratischen Teil der Welt sollten Hongkong und Taiwan Ermutigung und Mahnung sein. Dort gehen die Menschen für ihre Freiheit und für die Demokratie – auf die hier manchmal anscheinend nicht mehr viel gegeben wird – auf die Straße. Und sind bereit, Opfer zu bringen.

Alexander Görlach

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