Entscheidung über Leben und Tod: EKD-Chef facht Debatte über Sterbehilfe an
Der EKD-Chef Nikolaus Schneider will seine Frau im Ernstfall bei der Sterbehilfe unterstützen und bringt die Kirche damit in eine schwierige Lage. Welche Folgen hat das?
Vor drei Wochen kam die niederschmetternde Diagnose: Anne Schneider, 65, ist an Brustkrebs erkrankt. Kurze Zeit später erklärte ihr Mann, der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider, 66, dass er im November vorzeitig sein Amt aufgeben werde, um seine Frau in der schwierigen Phase der Chemotherapie zu begleiten und auch bei ihr zu sein, wenn es womöglich ans Sterben geht. Am Donnerstag veröffentlichten „Zeit“ und „Stern“ lange, sehr berührende Interviews mit Anne und Nikolaus Schneider, in denen es auch ums Sterben geht – und um die Frage, ob man dabei auf professionelle Sterbehilfe zurückgreifen sollte. Nikolaus Schneider bekennt sich dazu, dass er seine Frau aus Liebe notfalls auch in die Schweiz begleiten würde, um dort ein Angebot in Anspruch zu nehmen, das die Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) verboten haben will.
Was haben die Schneiders in den Interviews gesagt?
Anne Schneider sagt im Interview mit der „Zeit“: „Ich hoffe, wenn ich selber an den Punkt kommen sollte, sterben zu wollen, dass mein Mann mich dann in die Schweiz begleitet. Dass er neben mir sitzen und meine Hand halten würde, wenn ich das Gift trinke. Auch wenn es seiner theologisch-ethischen Überzeugung widerspricht. Ich hoffe, dass dann die Liebe stärker ist.“ Die Interviewer der „Zeit“ dazu: „Herr Schneider, Sie nicken. Darf ich fragen, ob Sie dem Wunsch entsprechen würden?“ Nikolaus Schneider: „Das wäre zwar völlig gegen meine Überzeugung, und ich würde es sicher noch mit Anne diskutieren. Aber am Ende würde ich sie wohl gegen meine Überzeugung aus Liebe begleiten.“ Anne Schneider: „Ja, das hast du mir zugesagt.“ Nikolaus Schneider: „Dazu stehe ich. Die Liebe ist entscheidend.“
Anne Schneider lehnt wie ihr Mann kommerzielle Sterbehilfe ab, möchte aber anders als Nikolaus Schneider organisierte Sterbehilfe zulassen. Sie ist Theologin und beruft sich auf die Bibel: Nach ihrem Verständnis gehört zur Gottesebenbildlichkeit des Menschen dazu, das Leben „von Anfang bis Ende“ selbst gestalten zu können. Dazu gehöre, selbst zu entscheiden: „Jetzt gebe ich mein von Gott geschenktes Leben dankbar an ihn zurück.“ Nikolaus Schneider sieht das anders: „Der letzte Punkt des Todes muss unverfügbar sein.“
Warum sind die Aussagen brisant?
Die evangelische und die katholische Kirche lehnen offiziell jegliche Form von Sterbehilfe ab, egal ob es sich um kommerzielle Angebote handelt oder um Sterbehilfe-Vereine ohne Profitabsicht. In diesem Sinne kämpfen sie seit Jahren dafür, dass organisierte Suizidbeihilfe in Deutschland gesetzlich verboten wird.
Die EKD hat aber immer betont, dass es bei aller Ablehnung der organisierten Sterbehilfe individuelle Notsituationen und Gewissensfragen gebe, in die sich der Staat und die Kirchen nicht mit Vorschriften einmischen dürften. 2012 betonte Schneider, auch Christen respektierten, wenn sich Menschen für ein selbstbestimmtes Sterben entscheiden – auch wenn es ihrer Überzeugung widerspreche. Wenn es „Spitz auf Knopf kommt, dann sind wir für die Menschen da und nicht für die Sauberkeit unserer Position“.
Viele dürften sich nach den Interviews der Schneiders fragen, was aus dieser Position konkret folgt. Was ist, wenn sich ein Mensch wie Anne Schneider professionelle Suizidbegleitung wünscht? Kann man als EKD etwas glaubhaft verbieten und Menschen vorenthalten, was man der eigenen Frau nicht verbieten würde? Wozu die EKD den Menschen ja auch den Freiraum lassen will? Die Einlassungen der Schneiders könnten die Argumentation und Glaubwürdigkeit der Kirchen in der breiten Öffentlichkeit beträchtlich schwächen.
Was ist in Deutschland erlaubt?
Das deutsche Strafrecht verbietet die aktive Sterbehilfe, die Tötung auf Verlangen. Die ist gegeben, wenn der Arzt eine Giftspritze verabreicht. Anne Schneider denkt im Interview mit der „Zeit“ über den hypothetischen Fall nach, dass sie ihrem Mann eine Überdosis Morphium geben würde, wenn sie sehen würde, dass er sich quält und die Schmerzmittel nicht wirken. Auch das wäre aktive Sterbehilfe – und verboten.
Erlaubt ist der Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen, wenn es der Kranke zum Beispiel in einer Patientenverfügung ausdrücklich wünscht. Auch der Abbruch einer medizinischen Behandlung ist straflos, wenn der Patient klar gemacht hat, dass er es möchte. Erlaubt sind auch Formen der Schmerzlinderung, die als Nebenfolge die Verkürzung des Lebens beinhalten können. So darf ein Arzt dem Patienten so viel Morphium geben wie dieser braucht, damit er keine Schmerzen mehr spürt. Er darf ihm aber keine Überdosis verabreichen mit dem Ziel, dem Leben ein Ende zu setzen.
Auch die Beihilfe zum Suizid ist derzeit noch erlaubt: Der Betroffene tötet sich selbst, indem er etwa einen Giftcocktail einnimmt. Wer ihm als Angehöriger oder Arzt dabei hilft, das Medikament beschafft und bereitstellt, macht sich nicht strafbar. Die Ärztekammer hat sich in ihren Standesregeln aber klar dagegen ausgesprochen.
Wie ist es in den Niederlanden, Belgien und der Schweiz geregelt?
In diesen Ländern sind alle Formen von Sterbehilfe erlaubt, auch die Tötung auf Verlangen. Selbst wenn der Patient den Tötungswunsch nicht aktiv kund tut, können Ärzte dem Leben ein Ende setzen. Es reicht, wenn sie mutmaßlich davon ausgehen, dass dies dem Willen des Patienten entspricht. In den Niederlanden ist aktive Sterbehilfe auch bei Jugendlichen ab zwölf Jahren erlaubt, in Belgien neuerdings auch bei Kindern. In der Schweiz bieten die Organisationen Dignitas und Exit an, sterbewillige Menschen beim Beenden ihres Lebens zu helfen, in dem sie ihnen etwa einen Giftcocktail verabreichen. In den Niederlanden und Belgien wird die Sterbehilfe auch in regulären Krankenhäusern angeboten, oder mobile Ärzte-Teams verabreichen den Patienten zu Hause die tödlichen Medikamente.
Was will die Politik ändern und warum?
In Deutschland wird verstärkt über ein Verbot der Beihilfe zum Suizid diskutiert. Denn auch hierzulande bieten zunehmend Vereine und Einzelpersonen als Dienstleistung an, Menschen schnell und effizient beim Selbstmord zu assistieren. Diese Organisationen oder Einzelpersonen bieten ihre Dienste nicht nur unheilbar kranken Menschen an oder jenen, die kurz vor dem Sterben stehen, sondern auch solchen, die an einer behandelbaren psychischen Erkrankung leiden. Einige verlangen dafür bis zu 7000 Euro. In der vergangenen Legislaturperiode wollte die damalige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) kommerziellen Sterbehelfern das Handwerk legen. Die große Koalition geht noch weiter und will alle Formen organisierter Suizidbeihilfe gesetzlich verbieten. Da es sich um ein so sensibles Thema handelt, will die Bundesregierung keinen Gesetzesentwurf vorgeben. Im Herbst soll es vielmehr zu Gruppenanträgen kommen, ausgehend von Fraktionen oder von Politikern, die sich fraktionsübergreifend zusammenschließen. In allen Fraktionen gibt es sowohl Zustimmung als auch Ablehnung für die Pläne.
Was wollen die Kirchen?
Die Kirchen setzen sich für ein Verbot aller organisierter Formen von Sterbehilfe ein. Sie fürchten, dass sich alte und kranke Menschen zunehmend überflüssig fühlen könnten und unter Druck geraten, solche Angebote zu nutzen, je selbstverständlicher und einfacher zugänglich Dienstleistungen von Sterbehilfe-Vereinen sind. Sie fordern auch einen Ausbau der Palliativmedizin, um Menschen die Angst vor dem Sterben zu nehmen. „Der Staat muss aus seiner Schutzpflicht für das Leben einer solchen Kommerzialisierung und Normalisierung der Beihilfe zur Selbsttötung entgegenwirken“, heißt es bei der Bischofskonferenz.
Wie kommen die Einlassungen der Schneiders in den Kirchen an?
An der Spitze der evangelischen und der katholischen Kirche rumort es gewaltig. Einige fürchten, dass die Interviews die Glaubwürdigkeit der Kirchen schmälern und die Verhandlungsposition gegenüber der Politik schwächen. Aber es gibt auch Zustimmung. In den Gesprächen zeigen sich das „Dilemma eines Menschen, der seine Frau liebt, und aus Liebe eine Gewissensentscheidung treffen muss“, sagt etwa Heinrich Bedford-Strohm, der bayerische Landesbischof, der auch Mitglied im Rat der EKD ist. Gerade in dieser Spannung komme die „Menschengemäßheit evangelischer Ethik“ zum Ausdruck. An der Position der EKD, an der Ablehnung der organisierten Sterbehilfe, ändere sich dadurch nichts. Nikolaus Schneider habe in den Interviews ja auch betont, dass er organisierte Sterbehilfe ablehne und seine Frau gegen seine Überzeugung begleiten wolle – aus Liebe. „Ein Skandal wäre es, wenn er zu seiner Frau sagen würde: Wenn ich dich nicht von deinem Vorhaben abbringen kann, musst Du alleine in die Schweiz fahren.“