Ruthenium-106: Einer radioaktiven Wolke auf der Spur
Vor einem Jahr verzeichneten Messstationen erhöhte Ruthenium-Werte. Die Suche nach den Ursachen stockt. Die Grünen fordern ein besseres Frühwarnsystem.
Ein Jahr ist es her, da bemerkten Wissenschaftler auch in Deutschland erhöhte Radioaktivität. Mehrere europäische Messstationen verzeichneten ungewöhnliche Werte des chemischen Elements Ruthenium-106. Die Quelle, darauf weisen Indizien hin, könnte in Russland liegen. Doch bis heute hat eine eingerichtete Untersuchungskommission den Ursprung nicht ermitteln können. Und mit Antworten wird kaum noch gerechnet. Die Grünen fordern nun einen stärkeren Einsatz bei der Spurensuche.
Sylvia Kotting-Uhl, Vorsitzende des Umweltausschusses im Bundestag, beklagt „jede Menge offener Fragen und eine feststeckende Untersuchungskommission”. Die russische Atomaufsicht und die Regierung in Moskau sind in ihren Augen „an Aufklärung wenig interessiert”, sagte Kotting-Uhl dem Tagesspiegel.
Vor wenigen Wochen warnte bereits die Bundesregierung, es sei „unmöglich, angemessene Maßnahmen zur Vermeidung vergleichbarer Zwischenfälle zu ziehen, solange Ursprung und Ursachen des Unfalls vom September 2017 unklar sind”, hieß es auf eine kleine Anfrage der Grünen.
Was war geschehen? Im September 2017 hatten Messstationen leicht erhöhte Radioaktivitätswerte festgestellt. In Deutschland wurden nach Angaben des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS) etwa im sächsischen Görlitz Ruthenium-Spuren registriert. Eine Gesundheitsgefahr habe dabei nicht bestanden, hieß es. Ruthenium-106 wird unter anderem in der Krebstherapie oder in der Stromversorgung von Satelliten eingesetzt.
Die Spur führt in den russischen Ural
Der Ursprung für die erhöhte Strahlendosis ist bislang ungeklärt. Indizien weisen allerdings in den russischen Südural, wo die Plutonium-Fabrik und Wiederaufbereitungsanlage Majak steht. In einem benachbarten Ort hatte der russische Wetterdienst eine Dosis gemessen, die 986 Mal höher lag als der Normalwert. Überdies ist die Majak-Anlage berüchtigt: In den vergangenen Jahrzehnten hatte es mehrere Pannen und Unfälle gegeben, darunter 1957 den ersten schweren Unfall in der Geschichte der Atomenergie. Bis heute sind Menschen rund um die Anlage von den Folgen betroffen. Die Sowjetunion verschwieg die Vorfälle lange Zeit.
Auch nach dem Ruthenium-Leck im vergangenen Jahr trugen offizielle russische Stellen nicht zur Vertrauensbildung bei. Der Kreml und die föderale Atomagentur Rosatom, die auch das Majak betreibt, gaben sich zunächst unwissend und erklärten dann, alle Anlagen arbeiteten routinemäßig, alles sei sicher. Russische Experten nannten einen beim Eintritt in die Erdatmosphäre auseinandergebrochenen Satelliten als angebliche Ursache für die erhöhte Ruthenium-Konzentration. Eine Version, die bald widerlegt wurde.
Im Januar richtete das russische Institut für Nuklearsicherheit der Russischen Akademie der Wissenschaften eine international besetzte Expertenkommission ein, die sich auf Spurensuche begeben sollte. Experten aus Frankreich, Schweden, Finnland, Norwegen und Deutschland werteten in Moskau Daten aus, die unter anderem Rosatom, der Wetterdienst und das Majak selbst zur Verfügung stellten. „Wir hatten das Gefühl, dass es starkes Bemühen von russischer Seite gab, die Arbeit ernsthaft zu unterstützen”, berichtet Florian Gering, der beim BfS das Fachgebiet „Radiologisches Lagebild” leitet und bei den beiden Treffen in der russischen Hauptstadt war. Unabhängige Messungen internationaler Forscher gab es hingegen nicht. Die Strahlenquelle konnten die Forscher nicht bestimmen. Keine der vorgelegten Messungen lasse darauf schließen, dass sie in der Nähe der Freisetzung gemacht wurde, sagt Gering.
Sichere Belege fehlen
Am wahrscheinlichsten, erklärt der deutsche Physiker, sei eine Freisetzung im südlichen Ural, nur sicher zu belegen sei dies eben auch nicht. Gering schlägt deshalb als nächsten Schritt Messungen im nördlichen Ural vor. Sollte es dort ebenfalls erhöhte Werte geben, dann sei das Majak als Quelle auszuschließen. Eine solche Erhebung ist derzeit jedoch nicht geplant. Die Arbeit der Kommission ist zwar offiziell nicht beendet. Allerdings ist die Aussicht auf Fortschritte gering.
Das Bundesumweltministerium spricht von einer „unbefriedigenden Situation hinsichtlich verfügbarer Messdaten”.
„Aus der Kommission heraus darf man sich wohl keinen Impuls mehr erwarten, der Russland zu weiterer Aufklärung bewegen könnte”, kritisiert Kotting-Uhl. „Russland ist in der Pflicht, weitere Umgebungsmessungen anzustoßen und sollte die Mitglieder der Untersuchungskommission dazu einladen.” Die Grünen-Abgeordnete hofft auf einen Impuls „aufklärungswilliger Staaten” mit dem Ziel möglichst schnell in den betreffenden Regionen weitere Messungen vorzunehmen.
Informationsaustausch soll besser werden
Gleichzeitig wird über eine mögliche Verbesserung des internationalen Frühwarnsystems diskutiert. Auf Anregung von deutscher Seite soll der internationale Informationsaustausch in Zukunft verbessert und beschleunigt werden, sagt Gering – über die bestehenden Informationspflichten der Frühwarnkonvention der Atomenergieorganisation IAEO hinaus. So sollten Länder sich künftig auch bei niedrigeren Messwerten untereinander warnen.
Formal sei nicht gegen die Konvention verstoßen worden, teilt eine Sprecherin des Umweltministeriums mit. „Dessen ungeachtet wirbt die Bundesregierung im Sinne einer Vertrauensbildung international dafür, auch Vorkommnisse unterhalb dieser Schwelle zu notifizieren.”
Kotting-Uhl wird da deutlicher: Der jüngste Vorfall offenbare eine Schwachstelle im Frühwarnsystem, kritisiert die Abgeordnete und spricht von einem „offenbar zu großen Interpretationsspielraum, wann ein Unfall im Sinne der Konvention als radiologisch relevant gelten muss” und eine internationale Meldung notwendig ist. „Diese Unklarheit sollte beseitigt werden”, fordert Kotting-Uhl.
Die Angelegenheit zeige außerdem, dass die Welt mit der Atomkraft überfordert sei, meint die Grünen-Politikerin. „Neben weiteren Messungen und einer raschen Reform des globalen Frühwarnsystems brauchen wir daher auch einen europäischen Atomausstieg", sagt sie, „bevor der nächste Atomunfall passiert.”