Litauen und Russland: Kann Energie eine Waffe sein?
Litauen bemüht sich um mehr Unabhängigkeit von Russland in der Energieversorgung. Moskau, so der Vorwurf, nutzt Lieferungen von Gas und Strom als Druckmittel. Ein geplantes Akw in Weißrussland sehen die Litauer mit Sorge.
Litauens derzeit vielleicht größtes Problem liegt dicht hinter der Grenze des baltischen Staates. Nur 50 Kilometer von der Hauptstadt Vilnius entfernt wird im benachbarten Weißrussland ein neues Atomkraftwerk gebaut. Die Litauer sähen das Projekt mit Sorge, sagt Energieminister Rokas Masiulis. „Wir haben in der Sowjetunion gelebt. Wir kennen die Bauqualität bei solchen Projekten.“ Das sei heute in Weißrussland leider nicht viel anders, betont der Minister. Alarmiert war das kleine Nachbarland durch Berichte über Unfälle auf der Baustelle.
Im Juli stürzte am Standort Astrawez die 330 Tonnen schwere Reaktorhülle aus einer Höhe von zwei bis vier Metern zu Boden. Mehr als zwei Wochen verschwiegen Weißrusslands Behörden den Zwischenfall. Erst nachdem ein Oppositionspolitiker darüber berichtet hatte, gab die Regierung in Minsk den Vorfall zu, und erst nach zahlreichen Medienberichten entschied man sich, die Reaktorhülle doch noch auszutauschen. Manch einer fühlte sich an die Informationspolitik der sowjetischen Behörden nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl erinnert. Nun appelliert Litauen an die EU, in Minsk die Einhaltung von Standards beim Bau des Atomkraftwerks einzufordern.
Doch es geht den Litauern keineswegs allein um Sicherheitsbedenken: „Wir fühlen uns unfair behandelt“, sagt der Energieminister Masiulis mit Blick auf die Europäische Union. Denn auf Druck der EU hatte das Neumitglied das einzige eigene Akw in Ignalina Ende 2009 stillgelegt. Nun entstehe auf der anderen Seite der Grenze eine neue Anlage, um die sich niemand in der EU zu kümmern scheine, kritisiert Masiulis.
Auf Stromimporte angewiesen
Mit der Abschaltung von Ignalina war Litauen plötzlich auf Stromimporte angewiesen. Damit stieg die Abhängigkeit von Russland dramatisch. Die damalige Regierung in Vilnius wollte deshalb möglichst bald ein neues Kernkraftwerk bauen. Doch kaum waren Litauens Überlegungen bekannt geworden, kündigten sowohl Russland als auch Weißrussland Pläne für eigene Akw an. Litauens Bauvorhaben wurde 2012 in einem Referendum von einer Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. Das Projekt liegt seither auf Eis.
Sollte jedoch das Akw in Belarus wie geplant 2019 ans Netz gehen, könnte der litauische Markt mit billigem Strom geflutet werden, sagt Litauens Energieminister. Dann würde sich für das Land die Erzeugung eigenen Stroms kaum noch lohnen. Die Regierung in Vilnius sieht in diesem Akw deshalb nicht nur eine Gefahr für die Umwelt. „Russland benutzt Energie als politisches Werkzeug“, sagt Masiulis. Hinter dem Projekt in Weißrussland steht der russische Staatskonzern Rosatom, der nicht nur die Technologie liefert, sondern auch günstige Kredite gibt. „Rosatom ist das neue Gazprom“, warnt Masiulis – und spielt damit auf die Rolle des von Moskau gelenkten Konzerns als Mittel der russischen Politik an. Noch deutlicher wird Romas Švedas, früher Regierungsmitglied und Diplomat und heute Dozent für internationale Beziehungen an der Universität Vilnius: Das Akw-Projekt in Weißrussland sei „eine gezielte Aggression gegen ein unabhängiges Land, für die Energie als Waffe genutzt wird“.
Nur zu gut haben die Osteuropäer noch in Erinnerung, wie im Winter 2008/2009 wegen eines Konflikts zwischen Moskau und Kiew um Lieferverträge plötzlich gar kein russisches Gas mehr durch die ukrainische Pipeline kam. Seitdem gibt es gerade in Osteuropa die Befürchtung, ein solches Szenario könne sich wiederholen. Tatsächlich gibt es einmal mehr Streit zwischen Moskau und Kiew um Gaslieferungen: Russlands Präsident Wladimir Putin kritisierte am Dienstag in einem Telefonat mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass die Ukraine einer Vereinbarung mit Moskau über den Kauf von russischem Gas in diesem Winter ausweiche. Zugleich warnte Putin, dies stelle eine „Bedrohung für den Transit nach Europa“ dar.
Unvergessen ist in Vilnius die Sache mit der Öl-Pipeline „Druschba“, die russisches Öl nach Westen bringt. Das Teilstück, das bis nach Litauen führte, wurde im Jahr 2006 überraschend stillgelegt – nach russischen Angaben wegen eines Lecks. Kurz zuvor sei eine Raffinerie, die mit Öl aus der Pipeline versorgt wurde, nicht an russische, sondern an polnische Bieter verkauft worden, sagt Svedas. Bis heute wurde der Betrieb der Pipeline nicht mehr aufgenommen.
Energiepolitik wird in Litauen heute als Frage der nationalen Sicherheit verstanden. Kaum ein anderes Land in der Europäischen Union war so stark von Moskau abhängig wie der baltische Staat. Das gesamte im Land verbrauchte Erdgas kam aus Russland, und auch der Strom wurde seit der Abschaltung des Akw zum größten Teil aus Weißrussland und Russland importiert. Diplomaten erinnern sich noch gut daran, dass früher der litauische Regierungschef selbst nach Moskau reiste, um mit dem Gazprom-Chef über den Gaspreis zu reden. Sowohl für Gas als auch für Strom zahlten die Litauer deutlich mehr als beispielsweise ihre Nachbarn in Weißrussland, das nach wie vor ein gutes Verhältnis zu Moskau pflegt. Dagegen ist das Verhältnis Litauens zu Russland spätestens seit dem Nato-Beitritt angespannt.
Flüssiggas aus Norwegen
Innerhalb von nur zwei Jahren hat sich die Situation radikal geändert. Litauen wollte raus aus der Abhängigkeit von Moskau und Brücken nach Europa bauen. Ende 2014 ging in der Hafenstadt Klaipeda ein Flüssiggasterminal in Betrieb, das erste in den drei baltischen Staaten überhaupt. Das schwimmende Terminal trägt den Namen „Unabhängigkeit“ – das Land sieht darin viel mehr als ein energiewirtschaftliches Projekt. Litauen sei nun nicht mehr von Gazprom-Lieferungen abhängig, sagte die Präsidentin Dalia Grybauskaite. „Keiner wird uns mehr erpressen oder uns zwingen können, einen politischen Preis zu zahlen.“ Das Flüssiggas für Litauen kommt überwiegend aus Norwegen. Außerdem soll in den kommenden Jahren eine Pipeline gebaut werden, die Litauen und Polen verbindet.
Das Terminal hat dem Land tatsächlich die erhoffte Unabhängigkeit gebracht: Heute verhandeln nicht mehr Regierungsmitglieder, sondern Wirtschaftsvertreter in Moskau über Lieferpreise, wie in anderen Ländern auch. Für Gasimporte aus Russland zahlen die Litauer mittlerweile deutlich weniger als noch vor zwei Jahren, da die Konkurrenz durch das – allerdings ebenfalls nicht gerade günstige – Flüssiggas Wirkung zeigte. „Gazprom war gezwungen, den Preis zu senken“, sagt Švedas.
Aber auch der Gasverbrauch des baltischen Landes war mittlerweile gesunken. Denn als das russische Gas noch teuer war, suchten vor allem Heizkraftwerke nach günstigeren Alternativen und stiegen auf Biomasse um. Heute werden 60 Prozent der Wärme durch Holzpellets aus litauischen Wäldern gewonnen. Gazprom habe das Land gezwungen, nach Alternativen zu suchen, sagt Energieminister Masiulis. Als erstes Land der EU hat Litauen 2014 im Gasmarkt auch die Vorgaben aus dem sogenannten dritten Energiepaket umgesetzt, wonach Netzbetreiber, Versorger und Lieferant nicht identisch sein dürfen. Gazprom musste seine Beteiligungen an litauischen Energiekonzernen verkaufen.
Allerdings ist die Regierung in Vilnius mit dem Versuch gescheitert, nachträglich gegen die aus ihrer Sicht überhöhten Gaspreise der Vorjahre vorzugehen. Das Land forderte vor einem Stockholmer Schiedsgericht in einem vierjährigen Rechtsstreit 1,5 Milliarden Dollar von Gazprom zurück. Doch das Schiedsgericht sah keine Vertragsverletzung und gab Gazprom recht. Nach dieser Niederlage will Litauen nun den Schiedsspruch, gegen den keine Berufung möglich ist, gerichtlich annullieren lassen.
In diesem Jahr könnte das Land erstmals mehr Gas aus Norwegen importieren als aus Russland. Auch bei den Stromimporten setzen die Balten auf Unabhängigkeit von Moskau. Noch vor einigen Jahren zahlten die baltischen Staaten den höchsten Strompreis in Europa. Doch vor einem Jahr ging die erste Stromverbindung in Betrieb, die Litauen an das EU-Netz anbindet: Im Dezember 2015 wurde die Trasse von Litauen nach Polen fertiggestellt. Wieder sprach die Präsidentin Grybauskaite von einer „strategischen Errungenschaft“. Weitere Leitungen verbinden das Land seit Februar mit Schweden.
Mehr als eine Milliarde Euro haben beide Projekte insgesamt gekostet, etwa ein Drittel davon zahlte die Europäische Union. „Heute sind die Strompreise um 23 Prozent niedriger als noch 2014“, heißt es beim Stromversorger Litgrid in Vilnius. Nur noch 30 Prozent der Importe kommen aus Nicht-EU-Ländern, also aus Weißrussland und Russland. Allerdings hängt Litauens Stromnetz immer noch am russischen, weil beide synchron geschaltet sind. Die baltischen Staaten streben eine Synchronisierung mit dem europäischen Netz an, doch dieses Vorhaben ist kostspielig und kann dauern, zumal nicht geklärt ist, was dann mit der russischen Exklave Kaliningrad passiert. Die EU-Kommission hat in dieser Frage im Auftrag der baltischen Staaten Konsultationen mit Russland begonnen.
Während Litauen bei dem Versuch, von Russland unabhängiger zu werden, innerhalb von zwei Jahren weit vorangekommen ist, gibt es im Bereich Energiesicherheit noch ganz andere Sorgen. Kurz vor Weihnachten 2015 fiel im Westen der Ukraine der Strom aus, etwa 700000 Haushalte waren betroffen. Sicherheitsexperten stellten später fest, dass es keine technische Panne war, sondern dass Hacker den Stromausfall absichtlich herbeigeführt hatten – der Angriff gilt als erster bekannt gewordener Fall dieser Art in Europa.
Exzellenzzentrum der Nato
Der litauische Stromversorger Litgrid will sich nun besser gegen mögliche Gefahren wappnen und hat deshalb eine Zusammenarbeit und einen Erfahrungsaustausch mit dem Nato-Exzellenzzentrum für Energiesicherheit vereinbart, um das eigene Netz „vor jeglichen Störungen“ besser schützen zu können. Das Zentrum ist in einem unscheinbaren zweistöckigen Gebäude auf dem Gelände der Militärakademie in Vilnius untergebracht. Vor dem Haus wehen die Flaggen der Nato-Staaten, die das Zentrum tragen. Die Exzellenzzentren der Nato sind nicht Teil der Kommandostruktur des Bündnisses und sollen vor allem Expertise liefern, ähneln also eher kleinen Thinktanks. Auch Deutschland will sich ab dem Frühjahr kommenden Jahres an dem Zentrum beteiligen, wie ein Sprecher des Verteidigungsministeriums bestätigte.
Das Zentrum hat den Hackerangriff auf den ukrainischen Stromversorger analysiert und versucht daraus Lehren zu ziehen, wie Länder sich vor vergleichbaren Angriffen schützen können. „Unsere größte Sorge derzeit ist die Cybersicherheit“, sagt der Direktor des Exzellenzzentrums, der litauische Oberst Gintaras Bagdonas. Der Schutz kritischer Infrastruktur sei allerdings Sache der nationalen Regierungen, nicht der Nato, betont er. „Wir können auch dem privaten Sektor keine Vorschriften machen.“ So will das Zentrum das Problembewusstsein in den Mitgliedstaaten für Risiken für ihre Energiesysteme schärfen.
Als mögliches Risiko für die Energieversorgung von Teilen Osteuropas wird in den baltischen Staaten und in Polen auch die geplante Gaspipeline Nord Stream 2 gesehen, die die bestehende Leitung von Russland nach Deutschland ergänzen soll. Die Befürchtung ist, dass Russland dann die Verbindung durch die Ukraine stilllegen könnte. „Nord Stream 2 mag am Anfang als ökonomisches Projekt erscheinen – am Ende wird es sich als politisches Projekt herausstellen“, sagt Litauens Energieminister Masiulis. Für die Ukraine könne Nord Stream 2 aber auch Anlass sein, nach Alternativen zu russischem Gas zu suchen. „Wir haben eine Lösung gefunden, das werden die Ukrainer auch tun.“
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