Urteil im Prozess zum Mord an Walter Lübcke: Eine harte Strafe, doch es bleiben Defizite
Der Mord an Lübcke wäre mit mehr Wachsamkeit zu verhindern gewesen. Beim rechten Terror müssen die Sicherheitsbehörden das Undenkbare denken. Ein Kommentar.
Das Urteil im Fall Lübcke ist konsequent. Lebenslange Haft für den Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten, dazu die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld - das Oberlandesgericht Frankfurt hat den Täter so verurteilt, wie es juristisch geboten ist. Und wie er es verdient hat.
Stephan Ernst erschoss Walter Lübcke aus rassistischem Hass. Das Attentat hat die Republik erschüttert. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik tötete ein Neonazi einen Politiker. Eine Zäsur, vergleichbar dem Schock nach Bekanntwerden der Morde des NSU.
Ein anderes Urteil gegen Ernst wäre kaum nachvollziehbar gewesen. Es ist schon bitter genug, dass dem Gericht die Indizien nicht reichten, Ernst auch wegen der Messerattacke auf den Iraker Ahmad E. zu bestrafen und den mitangeklagten Markus H. wegen Beihilfe zum Mord an Walter Lübcke.
Der CDU-Politiker hatte sich den Zorn von Rassisten zugezogen, als er 2015 die Unterbringung von Flüchtlingen öffentlich verteidigte und Krakeelern vorhielt, sie könnten Deutschland verlassen, sollten sie dessen Werte nicht teilen. Dafür wurde er 2019 ermordet.
Lübcke ist das prominenteste Opfer der rassistischen Hetze, die mit der so genannten Flüchtlingskrise eskalierte. Die Hetze tobt in den sozialen Netzwerken, wo Lübcke massiv beschimpft wurde, sie hat eine Welle von Drohungen gegen Kommunalpolitiker ausgelöst und sie hat die radikal rechte AfD in die Parlamente befördert.
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Der Mord an Lübcke war zudem nicht das Ende des Terrors. Vier Monate später attackierte der Rechtsextremist Stephan Balliet die Synagoge in Halle und erschoss zwei Passanten. Im Februar 2020 massakrierte der Rassist Tobias Rathjen in Hanau neun Menschen aus Einwandererfamilien. Der nächste Anschlag ist vermutlich eine Frage der Zeit.
Ist das Land besser gegen rechten Terror gewappnet?
Politik und Sicherheitsbehörden haben auf die Morde reagiert. Polizei und Verfassungsschutz wurden weiter verstärkt, Bundesinnenminister Horst Seehofer verbot 2020 gleich vier militante Vereine aus dem Spektrum von Rechtsextremisten und Reichsbürgern. Die Bundesregierung bildete im März 2020 einen „Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“. Wann das Demokratiefördergesetz kommt, das den vielen Initiativen gegen Rechts mehr politischen und rechtlichen Rückhalt geben würde, ist jedoch offen. Und es bleibt fraglich, ob das Land besser gegen rechten Terror gewappnet ist als vor dem Mord an Lübcke.
Das Attentat war möglich, weil die Sicherheitsbehörden den Täter falsch bewerteten. Ernst galt trotz seiner gewalttätigen Vergangenheit als „abgekühlt“. Als einer, der sich mit Job und Familie selbst deradikalisiert. Das war, wie man heute weiß, naiv. Und passt leider zu einem langlebigen Defizit in den Behörden.
Rechtsextremisten ist trotz primitiver Ideologie alles zuzutrauen
Es mangelt an vorbeugender Fantasie. Das scheinbar Undenkbare zu denken, Szenarien zu überlegen, die als unvorstellbar gelten, kommt zu kurz. Das war schon beim NSU so. Doch Rechtsextremisten ist trotz ihrer primitiven Ideologie alles zuzutrauen. Bis hin zum Selbstmordanschlag. Undenkbar? Markus H. soll über einen Angriff mit einem Sprengstoffgürtel und den Tod möglichst vieler "Kanaken" schwadroniert haben. Eine Frau aus der Terrorgruppe um den Neonazi Martin Wiese, die 2003 einen Anschlag auf die Baustelle des Jüdischen Kulturzentrums in München plante, wollte sich vor dem Rathaus, auf dem Marienplatz, in die Luft sprengen. Wachsamkeit muss mehr sein, als auf Erfahrungswissen zu vertrauen. Wäre Stephan Ernst weiter überwacht worden, könnte Walter Lübcke noch leben.